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1. Kapitel
Die Nacht hatte etwas Bedrohliches.
Nie zuvor war er sich dessen so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Fliehende Schatten im Wechselspiel zwischen Finsternis und fahler Helligkeit, wenn der Mond für einen kurzen Augenblick durch die Wolkendecke brach. Mysteriöse Geräusche - Zischen, Jammern, Krächzen und Ächzen. Dazwischen immer wieder das Knistern und Knacken in seinem Rücken, nah und kurz darauf weit entfernt. Tiere? Oder waren es die Dämonen der Finsternis? Seine Dämonen?
Fast vier Stunden hockte Daniel Kranz schon hier oben auf dem Hochsitz. Angespannt lauschend und in die Dunkelheit starrend, nachdem das letzte Büchsenlicht der hereinbrechenden Nacht gewichen war. Das Gewehr griffbereit an die Bretterwand des kleinen Verschlags gelehnt. Hinter ihm der Wald, vor ihm die sanften Geländewellen mit den abgeernteten Getreidefeldern und dem breiten Wiesenstreifen dazwischen. Verschwimmende Konturen. Schemenhaft. Nur zu erahnen.
Es war nach der bestandenen Jägerprüfung seine erste Nacht allein auf dem Hochsitz. Allein in einem Revier, das er noch gar nicht richtig kannte. Er hatte es dank der erfolgreichen Intervention seines Schwiegervaters von der Jagdgenossenschaft gepachtet - pachten müssen. Als eine Art Hochzeitsgeschenk an ihn war es gedacht gewesen. Julia, seine Frau, hatte hingegen von ihrem Vater die Leitung des Familienbetriebs übertragen bekommen. Wüstefeld-Baustoffe - führend in der Region. Ebenfalls ein Geschenk. Sie war studierte Betriebswirtin und schien deshalb für Herbert Wüstefeld ausreichend qualifiziert. Es sei Zeit, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen und die Verantwortung an die Jugend abzutreten, hatte er generös verkündet. Allerdings machte der Alte nichts ohne Hintergedanken. Bei ihm gab es nicht mal das Schwarze unter dem Fingernagel umsonst. Von seinem Schwiegersohn Daniel, dem Architekten, erwartete er, dass der dem Familienbetrieb den Weg ebnete, wenn es um die Materiallieferung für zukünftige Bauprojekte ging. Außerdem wollte er regelmäßig mit frischem Wildbret versorgt werden. Diesen speziellen Wunsch hatte der Alte im Verlauf seiner Ansprache auf der Hochzeitsfeier laut lachend geäußert. Ein Spaß auf Kosten seines Schwiegersohnes, so hatten es die Gäste verstanden. Aber wer ihn nur ein bisschen kannte, der wusste, dass es ihm ernst damit gewesen war.
Daniel Kranz hatte nie Jäger werden und auch keine Jagd pachten wollen, um Viecher abzuknallen. Nicht, dass ihm die Tiere leidtaten. Er machte sich einfach nichts daraus. Aber ohne Jägerprüfung keine Heirat. Das war ein Teil des Arrangements gewesen.
Heute hatte der Alte ein Reh auf seine Wunschliste gesetzt. Es stand für ihn außer Frage, dass sein Schwiegersohn die Pirsch erfolgreich beendete und ihm die gewünschte Beute mit nach Hause brachte. Dabei interessierte es ihn nicht die Bohne, dass das Jagen in der Dunkelheit ebenso verboten war wie der Einsatz von Nachtsichtzielfernrohren. Auf solche idiotischen Regeln pfiff er. Und das hatte er Daniel deutlich zu verstehen gegeben. Er erwartete von ihm, dass er es mit den Jagdgesetzen gegebenenfalls auch nicht zu genau nahm.
In den zurückliegenden Stunden hatte sich Daniel nur ein einziges Tier gezeigt. Bei gerade noch genügend Licht. Als er es hatte aufs Korn nehmen wollen, musste es von ihm Wind bekommen haben und war so schnell verschwunden, wie es vor seiner Büchse aufgetaucht war. Seitdem - nichts!
Eine halbe Stunde noch, höchstens, beschloss Daniel. Dann würde er den Heimweg antreten. Ohne Reh, falls nicht ein Wunder geschah. Schon jetzt spürte er den abfälligen Blick seines Schwiegervaters auf dem Gesicht brennen, und er vernahm dessen spöttische Worte. Sicher bereute der Alte längst, in die Hochzeit seiner Tochter mit ihm, dem Versager, eingewilligt zu haben.
Er gähnte. Es war nicht leicht, die Augen offen zu halten, wenn man hier oben auf dem Hochsitz keine Gesellschaft hatte. Daran änderten auch der schwarze Kaffee aus der Thermoskanne und der gelegentliche Schluck aus dem Flachmann nichts. Ohne Jagdpartner und ohne ein paar geflüsterte Worte hin und wieder ließ seine Konzentration rapide nach, und er glitt von einer Minute zur anderen tiefer in eine nächtliche Scheinwelt hinein. Es fiel ihm zunehmend schwerer, Realität und Einbildung auseinanderzuhalten.
Ein Rascheln holte ihn aus seinem Dämmerzustand. Er kniff die Augen zusammen, starrte hin zu dem Ackerstreifen, der nur wenige Meter rechts von ihm an einer Wand wild wuchernder Gräser und dem dahinter aufragenden Wald endete. Irgendetwas glaubte er dort zu erkennen. Doch noch ein Reh? Oder zwei? Er war sich nicht sicher. Hastig riss er das Gewehr an die Wange, schwenkte es, suchte das Gelände ab. Nichts. Er starrte durch das Zielfernrohr, versuchte, es schärfer zu stellen. Es gelang ihm nicht, die dichte Vegetation zu durchdringen. Nur flirrende, leicht verschwommene Baumkonturen.
Er setzte das Gewehr wieder ab. Damit war seine letzte Chance auf eine erfolgreiche Jagd vermutlich dahin. Ernüchtert sackte er in sich zusammen, starrte über den Rand der hölzernen Brüstung. Seine Sinne verloren sich allmählich wieder in dem diffusen Universum zwischen Wachen und Schlaf, als er durch Rufe hochgeschreckt wurde. Sekunden danach fielen Schüsse. Er richtete sich ruckartig auf, seine Haltung versteifte sich. Irritiert lauschte er ins Dunkel. Hatte da jemand geschrien und geschossen? Weiter oben im Wald? Oder hatte er sich nur für einen Moment in einem kurzen, aber intensiven Traum verloren?
Angespannt versuchte er, weitere Geräusche aufzufangen. Eine Weile blieb alles ruhig. Doch dann ein Knacken in unmittelbarer Nähe. Das Brechen dünner, morscher Äste. Und ... ein schwaches Hecheln. Er schüttelte energisch seinen Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, die sich wieder einzuschleichen begann. Was trieb sich da unten herum? Ein Tier auf der Flucht? Aber was für ein Tier? Wie versteinert saß er auf seiner Bank, unterdrückte minutenlang jede Bewegung, traute sich nicht einmal, durchzuatmen.
Zögernd löste sich seine Anspannung wieder. Er blickte auf seine Armbanduhr. Es reichte. Er hatte genug. Nicht eine Sekunde länger würde er hier hocken bleiben und sich die Nacht um die Ohren schlagen. Sein Jagdglück konnte er ohnehin vergessen. Angefressen kramte er seine Sachen zusammen und verließ den Hochsitz.
Es war nur ein verhältnismäßig kurzes Wegstück bis hin zu seinem Mercedes-Geländewagen, aber das führte über einen schmalen, welligen und mit tückisch aus dem Boden ragenden Baumwurzeln übersäten Trampelpfad. Jeden Schritt musste er mit Bedacht setzen. Entsprechend langsam kam er voran. Er hatte den Wagen am Ende des Schotterweges abgestellt, dort, wo er sich zu einem von sperrigem, dornenübersätem Gestrüpp umgebenen kleinen Platz weitete. Einem ehemaligen Holz-Verladeplatz. Aber Holz wurde von diesem Ort schon lange nicht mehr abtransportiert. Dementsprechend hatte der Weg, der aus dem Dorf hier herauf führte, zumindest auf dem letzten Kilometer durch den Wald keine Bedeutung mehr. Er wurde nur notdürftig instand gehalten - von Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als auf Hochsitzen zu hocken und Löcher ins Dunkel zu starren.
Daniel sah den Mercedes im bleichen Mondlicht durch das Astwerk schimmern. Etwa zwanzig, dreißig Meter voraus. Gleich konnte er seine Utensilien verstauen, sich in die weichen Lederpolster des Fahrersitzes fallen lassen und den Heimweg antreten. Scheiß auf sein Jagdpech, scheiß auf die spöttischen Kommentare seines Schwiegervaters und die enttäuschten Blicke seiner Frau - Hauptsache, er kam endlich ins Bett!
Das drohende Knurren in seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren und zur Salzsäule erstarren. Zwei, drei Sekunden verharrte er so, dann drehte er sich um. Langsam, wie in Zeitlupe. Instinktiv wusste er, dass er keine schnellen Bewegungen machen durfte. Das Knurren war nur allzu real, keine Ausgeburt seiner Fantasie. Und ebenso bewusst war ihm, dass mit dem Wesen, von dem das bedrohliche Geräusch ausging, nicht zu spaßen war.
Dann sah er sie vor sich, die Kreatur. Zwanzig Meter entfernt, vielleicht etwas mehr, stand das Biest ein Stück oberhalb am Hang zwischen den Bäumen. Kaum möglich, das richtig einzuschätzen. Das Tier erschien ihm riesig, und er wusste nicht, ob das trübe Zwielicht seiner Wahrnehmung einen Streich spielte oder ob es tatsächlich diese übernatürliche Größe hatte. War es ein Hund? Ein Wolf? Eine abartige Kreuzung aus beidem? Was immer dort in Angriffsposition lauerte; mit seinen gesträubten Nackenhaaren, den hochgezogenen Lefzen und den im blassen Licht schimmernden Reißzähnen gierte es nach seinem Blut.
Daniel spürte die Kälte, die durch seinen Körper strömte, und gleichzeitig den Angstschweiß, der ihm auf die Stirn trat. Er versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken und klar zu denken. Er wusste den Mercedes hinter sich, nur wenige schnelle Schritte entfernt. Den Autoschlüssel mit der Funkfernbedienung trug er in seiner Hosentasche. Er hatte nur diese eine, lächerlich kleine Chance.
Seine Muskeln spannten sich. Er bewegte seine Hand zur Tasche, ließ sie Zentimeter für Zentimeter hineingleiten. Unendlich langsam tasteten sich seine Finger voran. Die Kreatur schien zu ahnen, was er plante. Sie roch seine Angst, leises drohendes Grollen deutete auf die unmittelbar bevorstehende Attacke hin. Der Schlüssel! Endlich berührte er ihn, bekam ihn zu fassen. Er fand den Funktaster, drückte ihn. In derselben Sekunde, als ein doppeltes kurzes Zwitschern das Öffnen der Autotür signalisierte, flog er herum und sprintete los. Das Biest hing ihm an den Fersen. Er sah es nicht mehr, aber er wusste, dass es da war - und schnell näher...
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