Schweitzer Fachinformationen
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Lautlos. Reglos.
Niemand würde die Kreatur, die nur einen Schritt entfernt von dem stabilen Maschendrahtzaun kauert, sehen oder sie nur vermuten können. Der gewölbte Buckel in der Kutte mit ihren grau-braunen Schattierungen hebt sich kaum vom umgebenden Waldboden ab, bietet die ideale Tarnung. Wer über die Augen eines Raubvogels verfügt, würde die Unregelmäßigkeit vielleicht bemerken. Und das sicher nur bei ausreichend Tageslicht. Das ist nicht mehr gegeben, seit sich im Westen dunkle Wolken aufgetürmt und vor die tief stehende Sonne geschoben haben. Bedrohlich kochende, energiegeladene Schwaden sind wie gigantische Walzen schnell näher gerollt und verdunkeln jetzt den Himmel, schlucken alles Licht.
Es ist ein Mensch, der dort hockt. Ein Mann, genauer gesagt. Würde er sich aus seiner Deckung begeben und sich aufrichten, könnte man es sehen, nein, vermuten. An seiner Haltung, seinen Gliedmaßen, seinen Proportionen. Oder daran, wie er sich bewegt. Wenn er sich bewegt! Vieles an diesem Geschöpf erinnert an ein Tier. Womöglich ist er das ja längst - mehr Tier als Mensch.
Den ganzen Tag ist der Mann schon umhergestreift auf seiner Suche nach Essbarem. Einem Hasen, einem Vogel oder einem größeren Wild, das er mit seinem Bogen hätte erlegen können. In letzter Zeit ist Frischfleisch auf seinem Speiseplan etwas rar gewesen. Er hat sich überwiegend von Wurzeln, Beeren und Kräutern ernährt, von denen Wald und Feld ausreichend bieten. Auch Obst und ein wenig Gemüse hat er ergattert. Gestohlen von den Bäumen und aus den Beeten der Schrebergärten am Rande der verstreut liegenden Ortschaften. Aber das sind Ausnahmen gewesen, ebenso wie die Ausbeute aus den Abfallbehältern hinter den Supermärkten. Nicht etwa, weil daran Mangel herrscht. Er hätte dort mehr als genug gefunden, hätte leben können wie die Made im Speck. Aber er meidet menschliche Ansiedlungen. Nähert sich ihnen nur selten. Und wenn, dann immer nachts. Er fühlt sich von den Bewohnern bedroht.
Schon lange sind die Wälder des Harzes sein Zuhause; er lebt unentdeckt abseits der Wanderwege und Touristenrouten. Zwar lassen sich nicht immer kurze, unerwünschte Begegnungen vermeiden. Mit Eindringlingen, die kreuz und quer durch das Unterholz stolpern und vor denen er nicht mehr rechtzeitig fliehen kann. Aber seine Fähigkeit, mit der Umgebung nahezu zu verschmelzen, hat ihn noch jedes Mal gerettet.
"Wolfsmensch" wird er genannt. Von denen, die ihn gesehen haben wollen, als flüchtigen Schatten zwischen den Bäumen oder für einen kurzen Augenblick von Angesicht zu Angesicht. Dann laufen sie herum und erzählen jedem, der es hören will, von diesen Begegnungen mit dem rätselhaften Zwitterwesen und heizen damit für eine kurze Zeit die Gerüchteküche an.
In unregelmäßigen Abständen wechselt der Mann seine Aufenthaltsorte, fertigt sich in den versteckten Winkeln, wo er für eine Weile bleiben will, anspruchslose Behausungen aus dem, was die Natur ihm bietet und was er am Wegrand oder irgendwo im Müll findet. Manchmal ist etwas darunter, das er stiehlt. Aus Schuppen oder Scheunen zum Beispiel oder aus offenen Garagen. Wenn jemand allzu leichtfertig mit seinem Eigentum umgeht, Sachen unbeaufsichtigt herumstehen lässt.
Über die Jahre hat er sich den Bedingungen in den Wäldern angepasst, die Sinne geschärft, die ihm ein Überleben in der Wildnis möglich machen. Er hört, riecht und sieht mit einer Intensität, weit stärker ausgeprägt als in seinem früheren Dasein in der Zivilisation. Seinen Namen hat er aus dem Bewusstsein verdrängt, er spielt in dem Leben, das er jetzt führt, keine Rolle mehr. Meilenweit hat er sich mit der Zeit von den Menschen entfernt, müsste er mit ihnen kommunizieren, fiele es ihm schwer. Seine Sprache ist degeneriert, er hat sie nur noch selten benutzt. In Selbstgesprächen anfangs, später hat er mit Tieren geredet - mit denen, die bei seinem Anblick nicht sofort geflohen sind. Jetzt bewegt sich sein Denken und Handeln abseits dessen, was man als zivilisiertes Wesen für normal halten würde. Fast sein ganzes Tun geschieht instinktiv. Er verhält sich wie die Waldtiere: scheu, fluchtbereit, immer auf der Hut.
Dieser Mann, der sich dort unter dem Buckel verbirgt, sucht gerade in seiner Erinnerung nach etwas Bekanntem. Wann ist er das letzte Mal an diesem Ort gewesen? Haben ihn seine Füße überhaupt schon einmal hierher getragen? Es will ihm nicht einfallen. Aber wenn, dann hat es damals den Zaun nicht gegeben. Es ist ein Waldstück, wie geschaffen, um unentdeckt zu bleiben. Unberührt. Das nahezu undurchdringliche Strauchwerk, die dicht stehenden Bäume - ein Refugium, das sich selbst überlassen geblieben ist. Kein kahler Höhenzug, keine Baumleichen, kein Mensch, der mit Axt und Säge gewütet hat, wie an so vielen anderen Stellen in dem weiträumigen Bergland. Das hier ist ideal, um sich für eine Weile niederzulassen, und er hätte es vermutlich längst getan, wenn ... Nein, er kennt diesen Ort nicht. Auch ein Zaun wäre ihm sicher im Gedächtnis geblieben.
Er hebt ein wenig seinen Kopf. Wachsame, dunkel glänzende Augen lugen unter der erdfarbenen Kutte und zwischen den langen, verfilzten Haaren hervor. Sie huschen hektisch umher, versuchen, die drückende Finsternis zu durchdringen und zu erkennen, was sich dort am Fuße der nur ein paar Schritte von ihm entfernt steil abfallenden Böschung tut. Undeutlich zeichnet sich eine Talebene gegen das Dunkel ab. Eine kleine, mit Trockengras bewachsene Fläche. Wie ein Oval. Einige wenige Sträucher verteilen sich darauf. Links von dem Mann neigt sich das Gelände, scheint sich die Böschungskante dem Niveau der Talsohle anzunähern, ehe sie gegenüber wieder zu einem nicht sehr hohen, aber doch schwer zu erklimmenden Abhang ansteigt. Rechts hingegen, fast mit der Hand zu greifen, begrenzt eine bedrohlich wirkende Felswand die Ebene. Schroff und abweisend ragt sie steil in den Himmel. Es scheint, als stoße sie mit ihren spitzen, gezackten Enden in das brodelnde schwarze Wolkenmeer hinein.
Unten in der Ebene ist etwa in der Mitte etwas aufgebaut. Ein Ding, das aussieht wie ein Kegel oder eine Pyramide. Hoch wie ein Baum. Aus Hölzern - dicken Stämmen und dürren Ästen - gefertigt? Gezimmert? Nur lose aufgeschichtet? Unmöglich für den Mann, das von seinem Platz aus zu erkennen. Er kann sich nicht erklären, was für ein Gebilde das ist. Seine Nasenflügel beben, er versucht, schnuppernd zu erfassen, was er mit den Augen nur undeutlich sieht. Gleichzeitig lauscht er angespannt.
Dann geschieht etwas.
Hinten links, wo die abfallenden Böschungen aufeinander zulaufen und in die Ebene münden, tauchen Lichter auf. Aus dem dunklen, konturlosen Grau des Waldes schält sich eine Gruppe Gestalten heraus. Menschen! In Zweierreihen kommen etwa zwanzig von ihnen gemessenen Schrittes auf den Platz und steuern auf das pyramidenförmige Bauwerk zu. Die Lichter entpuppen sich als Fackeln, die sie in ihren Händen tragen. Vor der zweireihigen Schlange schreitet eine einzelne Person. Wie alle, die ihr folgen, in einen dunklen, weinroten Umhang gehüllt, den Kopf unter einer spitzen Kapuze verborgen. Ihr Gewand ist im Gegensatz zu den anderen schlichten Kutten jedoch mit goldenen Tressen besetzt, die im Licht ihrer Fackel schimmern und die vermutlich eine herausgehobene Stellung symbolisieren. Den Mann am Zaun erinnern die Gestalten an die Prozession einer Gruppe Ku-Klux-Klan-Anhänger. Ein eintöniger, heller Singsang dringt zu ihm herauf. Er ist irritiert. Das sind Frauenstimmen! Kein Zweifel! Ihre leiernde Melodie vermischt sich mit dem Grollen des einsetzenden Gewitters zu einem unheimlichen Klangteppich.
Die Person, die die Gruppe anführt, hält auf Höhe der Pyramide an. Die Gefolgsleute schließen zu ihr auf und bilden einen Kreis um sie herum. Eine der Kuttenträgerinnen löst sich daraus, geht auf das Holzgebilde zu und schiebt ihre lodernde Fackel ein Stück hinein. Augenblicke später frisst sich die Flamme in das Innere der Pyramide, verschlingt knisternd und knackend alles an trockenen Spänen, Zweigen und sonstigem leicht brennbaren Material, mit dem das Gebilde vollgestopft zu sein scheint. Der Feuerschein dringt durch die Ritzen der aufgeschichteten Stämme und verleiht dem Konstrukt das Aussehen eines Dämons mit tausend glühenden Augen. Dann, von einer Sekunde zur anderen, schlagen die Flammen wütend prasselnd nach oben aus dem Holz.
Ununterbrochen dringen die weinerlichen Klagegesänge der Kuttenträgerinnen herauf zu dem Mann am Zaun, liegen weiterhin im Wettstreit mit dem Donnern und Rumoren des Gewitters, das allmählich an Intensität gewinnt. Blitze zerreißen in immer kürzeren Abständen die kochende Dunkelheit, der Wald über dem Talkessel wird zur drohenden, gespenstischen Kulisse für das Geschehen unten in der Ebene. Der Wolfsmensch achtet nicht auf das stärker werdende Unwetter. Angespannt konzentriert er sich auf die Frauen, die sich jetzt im geschlossenen Pulk auf die Felswand zubewegen, auf einen Vorsprung, den er vorher nicht bemerkt hat und der im Schein des Pyramidenfeuers und der Fackeln wie ein übergroßer Absatz anmutet.
Als die Gruppe ein Stück vor dem steinernen Podest zum Stehen kommt, verstummen die Gesänge. Es dauert einige Augenblicke, dann öffnet sich die Formation. Die Kuttenträgerinnen weichen nach links und rechts zur Seite und reihen sich nebeneinander auf. Der Mann reißt überrascht die Augen auf. Da ist ja noch jemand! Ein gebeugter Kerl, dessen zerlumpte Kleidung einen deutlichen Kontrast zu den dunklen Rottönen der Mäntel bildet. Wie hat er diese Person übersehen können? Sie muss zwischen den Rotgewandeten gegangen sein, abgeschirmt gegen Blicke von außen. Zufall? Oder war es Absicht gewesen, sie...
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