Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Asta denkt - und schweigt. Mit wem, fragt sie sich, sollte ich reden? Ich kenne doch keinen mehr, hier, am Boden meines Vaterlands, das nicht meines ist, weil es mir ebenso wenig gehört wie die Muttersprache; ich steh bloß drauf.
Ja, da steht sie, am östlichen Ende der Ebene 03 des Flughafens Franz Josef Strauß, neben einer vom Schalter einer Autovermietung verdeckten und darum kaum frequentierten Drehtür, zu der ihre Nikotingier sie blindlings geleitet hat. Aus Astas Umhängetasche, einem fleckigen, schweinsledernen Monstrum, lugt eine Duty-free-Plastiktüte hervor und aus der wiederum eine Stange Camel. Ihr Koffer, hatte es am Schalter der Fluggesellschaft IBERIA geheißen, sei wohl beim Umladen irgendwo hängen geblieben, entweder in San Salvador oder in Madrid. Das sei fast normal. Der würde schon noch kommen, vielleicht morgen oder übermorgen, aber spätestens nächste Woche.
In ihrer rechten Hand hält Asta das soeben geöffnete erste der zehn Camel-Softpacks à zwanzig Stück und eine nicaraguanische Streichholzschachtel, in der linken eine brennende Zigarette; sie zieht daran, heftig, wie eine, die das ewig nicht durfte, und rätselt: Was ist richtiger? Ich stehe vor der Tür oder ich stehe hinter der Tür? Vor, hinter, richtiger . Die Wörter entweichen, in Gasblasen gehüllt, eins ums andere dem Schlammgrund der Vergangenheit und bevölkern allmählich das nachtschwarze Firmament meiner Schädeldecke; und dort oben treiben sie nun dahin, halbtransparent, aber klar definiert wie Luftballons, gemächlich wie Schäfchenwolken. Ich kann mir jedes einzelne Wort ausgiebig betrachten, es deuten, verstehen womöglich. - Richtiger? Im Deutschen lassen sich nicht alle Adjektive steigern; selbst diese Weisheit aus fernen Schultagen zieht nun wieder auf an Astas Horizont. Richtig ist, dass sie sich draußen befindet, zwischen der Drehtür und einem ihr bis zur Hüfte reichenden Chromstahl-Ascher voll bräunlich verfärbten Wassers und aufgeweichter Kippen. Kein schöner Anblick, doch das stört sie nicht. Ohnehin hat sie Mühe, sich zu orientieren; die nachmittägliche Sommersonne blendet sie. Und das, was sie sieht, wenn sie nicht hochschaut in das schmerzhaft grelle Licht, sondern zur Seite, nach vorn oder unten, unterscheidet sich kaum von dem, was sie gesehen hat, als sie am Managua-Airport kurz vor dem Start noch zwei, drei Abschiedszigaretten rauchte: Steinplatten, Betonsäulen, Gepäckwagen, Glasfront. Hier aber, denkt Asta, gibt es jetzt auch etliche Pfützen, aus denen, wie durch endlos lange Strohhalme, die Sonne säuft, mit all ihren Strahlen und durstig wie ein Beduinen-Kamel; die Pfützen werden kleiner und kleiner, zusehends schnell.
Sie entzündet die nächste Zigarette und geht ein paar Schritte. Durch ein hohes Fenster, das frontseitig die Vorrats- und Umkleidekammer des China-Restaurants begrenzt, an dem sie auf dem Weg zu der Drehtür vorbeigekommen ist, erspäht sie einen jungen Asiaten in Jeans und einer hellen, etwas schmuddligen, mit schwarzen Knotenknöpfen bis unters Kinn geschlossenen Kochjacke, der unbequem und dennoch fest schlafend auf vier aneinandergereihten Stühlen liegt. Sein flaches, blasses Gesicht ist vollkommen ruhig; nur seine halbkuglig gewölbten Lider und die Winkel seines leicht geöffneten Mundes zucken manchmal. Wahrscheinlich hat er einen heiteren Traum, denkt Asta und fühlt sich zu ihm hingezogen, gerade weil sie sich auch sicher fühlt vor der blau getönten Glasscheibe, unerreichbar für den Schläfer dahinter. Es ist ja nicht allein sein Traum, denkt sie, der ihn fernhält von mir und dem Ort, an dem wir uns beide befinden, so oder so .
Über das Bild des Kochs in der Vorratskammer des Airport-China-Restaurants schiebt sich ein anderes. Der Typ damals, denkt Asta, war auch ein Asiat und, falls meine Vermutung zutraf, auch Koch. Als ich dem begegnete, in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts, hatte ich gerade mein Schwestern-Diplom gemacht und auch schon den Vertrag mit der Leipziger Klinik unterschrieben. Ich war drauf und dran, die winzige Bruchbude in meiner Geburtsstadt Berlin, die ich nie Heimatstadt genannt habe und Hauptstadt erst recht nicht, zu verlassen. Der Umzug nach Leipzig-Plagwitz hing bloß noch davon ab, wann das Zimmer in dem Feierabendheim für sächsische Gastronomen, das tatsächlich Zur Neige hieß, geräumt würde; der ehemalige Oberkellner des Interhotels Astoria, der es bislang bewohnt hatte, lag in den letzten Atemzügen, zu Hause bei seiner Tochter Elke, einer Krankenschwester, die ich aus der Berufsschule kannte.
Es war die Nacht vom 20. zum 21. Juli 1967, für eine Hochsommernacht eine ungewöhnlich finstere. Ich weiß das noch so genau, weil wir, wie jedes Jahr, Carmens Geburtstag gefeiert hatten. Ich hatte mich früh, ja, unhöflich früh verdrückt - und mit nichts als Alkohol im Magen, denn Carmen hatte mal wieder ihren Eintopf à la dumme Pute gekocht, einen ungenießbaren Brei aus Reis, gehacktem Truthahnfleisch, Erbsen und Rosinen.
Carmen, die Polizistentochter, die Zarte, die Schönste von uns, zu der ich schon vor meiner Flucht in die Welt kaum noch Kontakt und die ich dann beinahe völlig vergessen hatte; bis ich, sehr viel später, in Ulan Bator, eines Abends nach Dienstschluss auf einer Berliner Internet-Trauerseite entdeckte, dass eine Carmen Meyer, deren Geburtsdatum mehr oder weniger zufällig mit dem meiner Carmen übereinstimmte, am »15. März 2000, nach langer, schwerer Krankheit von uns gegangen ist.« - Carmen, woran könnte sie gestorben sein? Krebs? Schlaganfall? Herzinfarkt? Sie wäre jetzt in meinem Alter .
Einen wundervoll roten Schopf hatte sie, feine, helle Porzellanhaut und flaschenglasgrüne Augen, was allerdings, ihre Mutter muss eine Ignorantin gewesen sein oder Carmen als Neugeborenes komplett kahl, nun gar nicht zu diesem feurigen Rufnamen passte - und mir neidischem Trampel Anlass zum Spott gab, wenigstens diesen einen.
Weil wir uns aus einem nichtigen, mir gänzlich entglittenen Grund gestritten hatten, war ich Carmens Bude so zeitig, dafür aber ziemlich besoffen und aufgewühlt entwichen in die laue, sternlose Nacht, um noch irgendwas zu unternehmen, womöglich jemanden fürs Bett zu finden. Doch mein Rausch wollte und wollte nicht vergehen, zu schwül hier draußen. Insekten umschwärmten die dottergelben Lichter der Straßenlaternen, von denen auch ich mich immer magisch angezogen fühlte und die auch mir gefährlich geworden wären, wenn, ja, wenn ich ebenso klein gewesen wäre - und Flügel gehabt hätte. Fliegen können, Motte sein, das habe ich mir als Mädchen und noch als junge Frau oft gewünscht. - Die Luft war klebrig wie die Kringellöckchen, die ich mir zu Hause mühevoll eingedreht und die ich später in Carmens Küche, ein Bad gab es ja nicht bei ihr, bei keiner von uns, mit Haarspray aus dem Westen eingenebelt hatte, so ausgiebig, dass sie anschließend unbeweglich wie Betonskulpturen von meinem Kopf abstanden; ich hätte ihn minutenlang schütteln können, kein Haar hätte sich vom anderen gelöst. - Es roch nach einem Gewitter, das aber nicht über diesem Teil Berlins, dem Nordosten, losbrach, sondern weiterzog; was wusste ich wohin.
Ich war den ganzen Heimweg gelaufen, hatte jenes trostlose Beamtenviertel in Mitte, das wir Totenwinkel nannten, weil es abends völlig verödete und an den Wochenenden sogar gespenstisch still - eben wie ausgestorben - wirkte, gerade erreicht und überquerte die Otto-Nuschke-Straße, von der links die Glinkastraße abging, da sah ich ihn. Oder hatte ich ihn zunächst nur gehört? Dies erbärmliche Winseln, von dem ich annahm, es wären Tierlaute, vielleicht die eines Hundes .
Der Mensch und Mann asiatischer Herkunft, als den ich ihn trotz der spärlichen Beleuchtung dann doch erkannte, hockte in einem Hauseingang. Ich blieb stehen, flüsterte ein paar belanglose Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere; dennoch bewirkten sie, oder wohl eher meine rauchige Stimme, dass sich seiner Kehle ein hoher und zugleich tiefer Laut entrang.
Und jetzt vernehme ich diesen Schluchzer, oder was das war, wieder; er muss sich damals in meinem Ohr installiert und seither drauf gewartet haben, dass mein Gedächtnis den Knopf, der ihn auslöst, findet und drückt.
Der Laut - einen Leise gibt es ja nicht, nur einen leisen Laut - klang und klingt, als hätte ihn dieser Mann, wie fest auch immer er seine Lippen zusammenpresste, keine Sekunde länger zurückhalten können, so gottverlassen, so weltalleinsam.
»Brauchen Sie Hilfe«, fragte ich; aber er weinte bloß weiter. Ich hockte mich neben ihn, berührte seine Schulter, und reflexhaft wandte er mir sein Gesicht zu. Seine ohnehin fleischigen Lider waren derart verquollen, dass er Mühe hatte, sie zu heben; doch als es ihm gelang, glitzerten seine Pupillen nachgerade überirdisch hervor aus den schrägen, minimal geöffneten Sehschlitzen. Während ich, seiner Nase ganz nah, auf ihn einflüsterte und er vermutlich meinen weinsauren Atem roch, ließ er die Hände, die seine Mundregion bedeckt hielten wie der Halbschleier die einer orientalischen Frau, schließlich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.