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Volksbad
Mit einem schönen Katzenjammer von dem zweifelhaften Rheinwein, den er am Abend vorher getrunken hat, steht Hesse ausgehfertig in der Diele, als von der Wand das Telefon schrillt. Es dauert eine Minute, bis der Hausherr aus dem Schlafzimmer kommt und ihn von dem quälend lauten Klingeln erlöst. Reinhold Geheeb trägt einen blutroten Morgenmantel. Sein Haar steht in alle Richtungen, er wirkt übellaunig. Sicher ist er genauso verkatert wie sein Gast. Aber er ist Geschäftsmann, Teilhaber am Simplicissimus und ein wichtiger Mann im Albert Langen Verlag, er würde noch mitten im größten Besäufnis ans Telefon gehen.
Dezent wendet Hesse sich ab, er geht sogar ein paar Schritte in Richtung Tür, kann seine Ohren aber nicht verschließen und weiß gleich, dass Langen am anderen Ende der Leitung ist. Der Verleger hat ihn eingeladen, an diesem Vormittag gemeinsam ins Müllersche Volksbad zu gehen. Er hat die Modernität der Anstalt gepriesen und behauptet, man fühle sich nach ein paar Stunden Aufenthalt dort wie ein neuer Mensch. Nun sagt Langen also ab, wie Hesse ahnt und wie Geheeb ihm bald unter mürrisch gekräuselten Brauen mitteilt. Er habe die unerwartete Gelegenheit, einen Berliner Literaturkritiker zu treffen. Ein Kritiker, murrt Hesse innerlich. Er entschließt sich, trotzdem ins Bad zu gehen. Sein Gastgeber zeigt sich erleichtert. Hesse bezweifelt, dass Geheeb sich noch mal hinlegen wird. Geheeb legt sich eigentlich nie hin, und sollte er eben geschlafen haben, war es ein Versehen. Als er sich umdreht, um in der dunklen Tiefe der Wohnung zu verschwinden, sieht Hesse, dass der Morgenmantel seines Gastgebers auf der Rückseite mit einem goldenen Drachen bestickt ist.
Der frische Wind, der München so oft durchweht, ist heute einem föhnigen gewichen. Es ist für einen Märztag sehr warm. Im Gegensatz zur Diele ist es draußen gleißend hell, die frischen Jugendstilfassaden in der Ainmillerstraße leuchten. Sie wirken auf ihn wie Kulissen, nichts ist wahr an diesem Morgen. Sollten die Häuser sich dennoch als echt erweisen, wäre er bloß eine Bühnenfigur oder gar ein albern schnell laufendes und ruckelndes Männchen aus dem von ihm wenig geliebten Kintopp.
Vor einem Café auf der Leopoldstraße sitzen reglos, in Decken gehüllt, einige Münchner Bürger. Die Stühle wurden so gestellt, dass ihre Gesichter der Sonne zugewandt sind. Sie sind stumm, Puppen mit ausgebauter Sprechvorrichtung. Auch die Gestalten in der vorbeifahrenden Tram, deren Fenster an diesem scheinbaren Frühlingstag ausnahmslos aufgerissen wurden, sind von verräterischer Bewegungsarmut. Bei dem dichten Verkehr hat Hesse Mühe, auf die andere Straßenseite zu kommen. Vom Siegestor braust mit hohem Tempo ein glänzendes Automobil heran, das feurig hupend einige Pferdefuhrwerke überholt. In Richtung Stadt fahren gleich drei motorisierte Wagen. Im Näherkommen erkennt Hesse das stadtauswärts rasende Auto als das von Albert Langen, ein knallroter, offener Züst mit Speichenrädern und dicken Lederpolstern. Der Mann hinterm Steuer trägt eine Mütze und einen bis zur Nase reichenden Schal. Neben ihm sitzt ein ebenso vermummtes Fräulein. Automobilistenbrillen machen die beiden vollends unkenntlich. Hesse würde nicht mehr schwören, dass es sich um Langen und seinen Züst handelt, auch wenn in München gerade mal fünfhundert Autos zugelassen sind. Die rechte Hand des Fahrers liegt starr auf dem Steuerrad, die linke auf der Ballhupe. Die Hände des Fräuleins ruhen auf seinem Oberschenkel und auf dem Armaturenbrett. Im Gegensatz zu den Gestalten, die Hesse bisher gesehen hat, wirken diese beiden lebendig. Sie weben einen Faden hin und her aus Liebe oder Anziehung. Der ist unsichtbar und doch so stark, dass man ihn noch bei zwanzig Kmh erkennt. Sollte es sich tatsächlich um Langen handeln, dann gehört das Fräulein nicht an seine Seite. Wie seine getrennt lebende Ehefrau oder die neue Lebensgefährtin sieht es jedenfalls nicht aus. Bevor Hesse sich vergewissern kann, ist der Wagen wie ein Traumgebilde vorbeigezogen. Nichts als die stinkende Rauchfahne bleibt. Der Dichter macht sich nicht die Mühe, sich über den Verlagsmann zu ärgern.
Bis zur Kaulbachstraße kennt Hesse den Weg. Dort befindet sich die Redaktion des Simplicissimus, dort gründen sie gerade die liberale Zeitschrift März, für die Hesse Rezensionen schreiben und die er mitherausgeben wird. Ein Stückchen weiter links liegt die Mandlstraße, wo Langen wohnt. Im Englischen Garten muss Hesse den Weg zum neuen Bad erraten. Wenn er immer geradeaus geht, wird er irgendwann auf die Isar treffen. Das Bad müsste ein Stück weit flussaufwärts liegen. Er folgt auf gut Glück den verschlungenen Pfaden durch den riesigen Park und gelangt zügig zum Chinesischen Turm. Die Anlage ist recht belebt, doch die Gestalten, die seinen Weg kreuzen, machen denselben verdächtigen Eindruck auf ihn wie schon jene in Schwabing. Die in den offenen Droschken und auf den Bänken sind von der gleichen puppenhaften Reglosigkeit und scheinbaren Hingabe an die wärmende Sonne. Andere wirken blass, übernächtigt, vom Licht bedroht wie Vampire. Ein großer Mann mit wirrem Bart und abgerissenen Kleidern tritt aus einer Bedürfnisanstalt. Er nestelt hastig seine Hose zu. Dabei schaut er sich ängstlich um, ob hinter ihm nicht allzu schnell der hübsche Knabe hinausschlüpft, den er mitgenommen hatte. Ein anderer steht unwillig am Wegrand und lässt sich von einer Frau in Hosen die Schminke aus dem Gesicht wischen. Immer wieder befeuchtet sie ihr Taschentuch mit Spucke und reibt ihm den Zinnober von den Wangen, das Karmesin von den Lippen. Der jungenhafte Mann legt seine schmalen Hände an verschiedenen Stellen auf die Frau, ohne dass sie sich irgendwo wohlfühlen würden. Dieser magere, bei aller Misslichkeit seiner Lage hochmütig dreinblickende Mann mit dem schulterlangen, glatten schwarzen Haar, gestern noch schwul und Anarchist, bald verheiratet und Psychoanalytiker, wird in Hesses Leben einmal eine Rolle spielen. Er heißt Johannes Nohl.
Hesse geht weiter zum Monopteros. Auf einmal hat er Lust, den künstlichen Hügel mit dem kleinen Tempel zu erklimmen. Oben ist er allein. Er bleibt eine Weile sitzen, betrachtet die Wiese zu seinen Füßen und die sich dahinter erhebende Silhouette der Stadt mit ihren vielen Kirchtürmen. Er selbst hat heute keinerlei poetisches Gefühl, nur dieses Befremden, im falschen Stück, im absolut falschen Leben zu sein. Er weiß, dass es zum Teil vom Kater und zum Teil von dem ihm ungewohnten, rauschhaften Stadtleben herrührt. Er spürt an diesem Morgen Abwehr gegen das Quere und Ungeordnete im Leben, das echte Nichtstun und das prinzipielle Verachten von Regeln. Diese Abwehr verschließt ihm gewisse Möglichkeiten im Leben wie beim Schreiben. Er selbst kritisiert sich als Autor von Idyllen. Dabei hat er durchaus dunkle Regungen bis hin zur Mordlust. Die Notwendigkeit, sie darzustellen, spürt er vorerst kaum. Vielmehr geht es ihm wie den alten Dichtern um das Schöne.
Er stellt sich vor, wie die Zehntausende seiner Leser die große Wiese vor ihm füllen. Für sie würde er gern Bleibendes schaffen. Im vergangenen Jahr saß er schon mal hier und sah dem Vollmond zu, der über die Dächer der großen Gebäude an der Ludwigstraße wanderte, bis er riesenhaft gebläht und rötlich zwischen den spitzen Kirchtürmen drüben festklemmte, wo er der aufgehenden Sonne nicht weichen wollte. Das war ein Moment vollkommener Schönheit. Der Moment zerrann, und Hesse gelang es nicht, jene Schönheit auf Papier zu bannen. Es schien ihm, als sei über den Mond und die Morgendämmerung alles Gültige bereits gesagt. Aus diesem Grund gibt es keine wahren Dichter mehr.
Hesse versinkt in der Erinnerung an das Besäufnis vom vorigen Abend. Er war mit Geheeb bei einem Atelierfest irgendwo in Schwabing und blieb, was er sich heute nicht erklären kann, genau an der Frau hängen, die ihm von vornherein am wenigsten sympathisch war. Die hübsche blonde Fanny schien ihm allzu vertraut mit den anwesenden Männern. Später jedoch scherzte er mit ihr, fand seine Zehen an ihrem Knöchel wieder und ihre Hand in seinem Ärmel. Sie rauchten Zigaretten und amüsierten sich mit der Vorstellung, dass alle Menschen um sie herum nur Automaten wären. Fanny zog eine nackte Puppe unter einem Tisch hervor und zeigte den Schalter auf der Brust, das runde Loch in ihrer Seite, in dem der Phonograph sitzen sollte. Er lag aber ausgebaut auf dem Boden. Daran erinnert er sich noch. Er sagte ihr, dass er dem eigenen Leben manchmal zuschauen könne, als spielte es auf einer Bühne. Da schaute sie ihn spöttisch an. Bald darauf muss er gegangen sein. Wie er nach Haus gekommen ist, weiß Hesse nicht mehr, nur dass er abends so lebendig war wie morgens tot.
Eine Viertelstunde später erreicht der Dichter die Prinzregentenstraße. Inzwischen hat er das Gefühl, schon sehr lang unterwegs zu sein. Die Weite Münchens erstaunt ihn immer wieder. Er läuft auf den goldstrahlenden Friedensengel zu, der einen starken Kontrast zu den Fabrikschloten bildet, die im Hintergrund die Bäume überragen. Zum zweiten Mal knattert der rote Züst vorbei. Wieder scheint es ihm, dass Langen hinter dem Steuer sitzt. Wieder zweifelt er, auch weil der andere kein Zeichen des Erkennens gibt. An der Isar sieht er endlich den dicken Turm des Müllerschen Volksbads. Er geht über die Luitpold-Brücke und schwenkt nach rechts in die noch jungen Maximiliansanlagen. Er passiert das Muffatwerk, wo mit Hilfe von Wasserkraft und Dampf Strom erzeugt wird. Wie genau das vonstattengeht, ist ihm unbekannt, technische Dinge interessieren ihn nicht. So erreicht er die Rückseite des einzigen Hallenbads der Stadt.
Langen hat nicht übertrieben. Schon nach einer Stunde im Volksbad ist Hesses Kater verschwunden, er...
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