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Mit gesenktem Kopf betrat Sherlock die Bibliothek durch die offene Terrassentür. Vor Verlegenheit war er knallrot. Doch merkwürdigerweise war er auch verärgert - wenngleich er nicht einmal sicher war, ob nun über Mycroft, weil der ihn erwischt hatte, oder über sich selbst, weil er sich hatte erwischen lassen.
»Woher hast du gewusst, dass ich draußen war?«, fragte er.
»Erstens«, begann Mycroft nüchtern zu erklären, »habe ich erwartet, dass du dort sein würdest. Du bist ein junger Mann mit einem überaus ausgeprägten Hang zur Neugier, und die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, dass du nicht sehr viel darauf gibst, dich gemäß den allgemein anerkannten gesellschaftlichen Regeln zu verhalten. Und zweitens wehte die ganze Zeit eine leichte Brise durch die leicht geöffneten Flügeltüren herein. Als du draußen standest, waren zwar weder du noch dein Schatten zu sehen, aber dein Körper hat den Luftzug unterbrochen. Und als die Brise auch nach ein paar Sekunden nicht wieder einsetzte, vermutete ich, dass etwas sie blockiert hatte. Und die wahrscheinlichste Erklärung dafür warst du.«
»Bist du mir böse?«, fragte Sherlock.
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Mycroft.
»Dein Bruder hätte es schlimmer gefunden«, sagte Crowe mit heiterer Stimme, »wenn du so unachtsam gewesen wärest, nicht auf deinen Schatten zu achten.«
»Das«, stimmte Mycroft zu, »hätte einen bedauerlichen Kenntnismangel bezüglich einfacher geometrischer Gesetzmäßigkeiten bewiesen. Ebenso wie das Unvermögen, die unbeabsichtigten Folgen des eigenen Handelns vorherzusehen.«
»Du machst dich über mich lustig«, beschwerte sich Sherlock.
»Nur ein wenig«, gestand Mycroft. »Und nur in bester Absicht.« Er schwieg. »Was hast du von unserer Unterhaltung mitbekommen?«
Sherlock zuckte die Achseln. »Es ging um irgendeinen Mann, der von Amerika nach England gekommen ist und den ihr für eine Bedrohung haltet. Oh, und um eine Familie namens Pinkerton.«
Mycroft blickte zu Crowe hinüber und hob eine Augenbraue. Crowe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Die Pinkertons sind keine Familie«, erklärte er, »obwohl es einem manchmal so vorkommen kann. Nein, die Pinkerton National Detective Agency ist eine Detektiv- und Leibwächter-Agentur. Sie wurde vor etwa zwölf Jahren von Allan Pinkerton in Chicago gegründet. Pinkerton hatte nämlich erkannt, dass die Eisenbahngesellschaften in den Vereinigten Staaten, deren Zahl immer noch stetig steigt, über keinen effektiven Schutz vor Raubüberfällen, Sabotageakten und Streiks verfügten. Seitdem vermietet Allan seine Leute als so eine Art Superpolizei.«
»Die völlig unabhängig von staatlichen Vorschriften und Gesetzen handelt«, murmelte Mycroft. »Für ein Land, das sich seiner demokratischen Gründungsprinzipien rühmt, werden dort ganz schön viele Organisationen hervorgebracht, die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen.«
»Sie haben ihn Allan genannt«, bemerkte Sherlock. »Kennen Sie ihn etwa?«
»Al Pinkerton und ich kennen uns schon ziemlich lange«, bestätigte Crowe. »Vor sieben Jahren haben wir Abraham Lincoln auf dem Weg zu seiner Amtseinführung zusammen durch Baltimore geschmuggelt. Damals gab es eine von den Südstaaten initiierte Verschwörung. Lincoln sollte in der Stadt umgebracht werden, aber die Pinkertons wurden engagiert, um ihn zu beschützen, und wir haben ihn lebend hindurchbekommen. Seitdem hat mich Al hin und wieder angeheuert. Hab nie ein reguläres Gehalt bezogen. Stattdessen bezahlt er mir gelegentlich ein Beratungshonorar.«
»Präsident Lincoln?«, fragte Sherlock, dem bereits der Kopf schwirrte. »Aber wurde der nicht .«
»Oh, am Ende haben sie ihn doch erwischt.« Crowes Gesicht war so ausdruckslos, als wäre es aus Granit gemeißelt. »Drei Jahre nach der Baltimore-Verschwörung hat wieder jemand sein Glück versucht und auf ihn geschossen. Lincolns Pferd ist mit ihm durchgegangen, und der Hut wurde ihm vom Kopf geblasen. Als man später seine Kopfbedeckung fand, war tatsächlich ein Einschussloch darin. Die Kugel hat ihn nur um Zentimeter verfehlt.« Er seufzte. »Und dann zwölf Monate danach, das ist jetzt gerade mal drei Jahre her, ist es passiert. Lincoln sah sich gerade im Theater von Washington ein Stück mit dem Titel Our American Cousin an, als ihm plötzlich ein Mann namens John Wilkes Booth in den Hinterkopf schoss, danach auf die Bühne sprang und entkam.«
»Sie waren nicht dort«, sagte Mycroft leise. »Sie hätten es nicht verhindern können.«
»Ich hätte dort sein sollen«, erwiderte Crowe niedergeschlagen. »Genau wie Al Pinkerton. Aber der einzige Leibwächter, der an diesem Abend auf den Präsidenten aufpasste, war ein betrunkener Polizist namens John Frederick Parker. Er war nicht mal im Theatersaal, als auf den Präsidenten geschossen wurde. Stattdessen ließ er sich in der Schänke nebenan mit Bier volllaufen.«
»Ich habe damals in Vaters Zeitung davon gelesen«, sagte Sherlock und unterbrach damit das bedrückende Schweigen, das sich über den Raum gesenkt hatte. »Und ich erinnere mich daran, dass Vater darüber gesprochen hat. Aber ich habe nie richtig verstanden, warum Präsident Lincoln umgebracht wurde.«
»Das ist das Problem mit den Schulen heutzutage«, brummte Mycroft. »Da hört die englische Geschichte vor ungefähr hundert Jahren einfach auf, und so etwas wie Weltgeschichte scheint gar nicht zu existieren.« Er blickte zu Crowe hinüber, aber der Amerikaner schien nicht bereit zu sein fortzufahren. »Du hast doch bestimmt schon mal vom Amerikanischen Bürgerkrieg gehört, oder?«, fragte er Sherlock.
»Ich habe nur in der Times mal etwas darüber gelesen.«
»Kurz gesagt haben elf Staaten im Süden - rund die Hälfte der Vereinigten Staaten von Amerika - ihre Unabhängigkeit erklärt und die Konföderierten Staaten von Amerika gegründet.« Er schnaubte. »Das ist etwa so, als würden Dorset, Devon und Hampshire plötzlich beschließen, zusammen ein neues Land zu gründen, und ihre Unabhängigkeit von Großbritannien erklären.«
»Oder als würde Irland beschließen, dass es ab sofort unabhängig von der britischen Herrschaft sein will«, murmelte Crowe.
»Das ist eine ganz andere Situation«, blaffte Mycroft. Doch dann widmete er seine Aufmerksamkeit gleich wieder Sherlock und fuhr fort: »Eine Zeit lang gab es zwei amerikanische Präsidenten: Abraham Lincoln im Norden und Jefferson Davis im Süden.«
»Warum wollten sie denn unabhängig sein?«, fragte Sherlock.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem jeder unabhängig sein will«, erwiderte Mycroft. »Weil sich niemand gerne Befehle erteilen lässt. Und es gab unterschiedliche politische Ansichten. Die Südstaaten befürworteten die Sklaverei, wohingegen Lincoln im Wahlkampf die Befreiung der Sklaven versprochen hatte.«
»So einfach ist es nun auch wieder nicht«, protestierte Crowe.
»Das ist es nie«, stimmte Mycroft zu. »Aber für den Moment mag es reichen. Der Krieg begann am 12. April 1861, und während der darauf folgenden vier Jahre sind über 620000 Amerikaner im Kampf gefallen. In einigen Fällen kämpften Bruder gegen Bruder und Väter gegen ihre Söhne.« Ein Schaudern schien ihn zu durchfahren, und als sich eine Wolke vor die Sonne schob, wurde es kurzzeitig dunkler im Raum. »Nach und nach«, fuhr er fort, »zermürbte die Union, wie die Nordstaaten hießen, die militärischen Kräfte der Südstaaten, die sich selbst Konföderierte Staaten von Amerika nannten. Der bedeutendste Konföderierten-General, Robert Lee, kapitulierte am 9. April 1865. Als John Wilkes Booth dies hörte, erschoss er fünf Tage später Präsident Lincoln. Das Attentat war Teil einer größeren Verschwörung, denn seine beiden Komplizen sollten eigentlich auch noch den Außenminister und den Vizepräsidenten ermorden. Aber der zweite Attentäter scheiterte, und der dritte verlor die Nerven und floh. Der letzte Konföderierten-General kapitulierte am 23. Juni 1865, und die letzte Militäreinheit, die Besatzung des Konföderierten-Kriegsschiffes Shenandoah, streckte am 2. November 1865 die Waffen.« Er lächelte, als ihm unversehens etwas einfiel. »Pikanterweise haben sie sich hier in England ergeben. In Liverpool, um genau zu sein. Sie sind lieber einmal quer über den Atlantik gesegelt, als sich den Truppen der Nordstaaten zu ergeben. Ich war dabei, denn ich wurde als Repräsentant der britischen Regierung entsendet. Und das war dann das Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges.«
»Nur war es das nicht wirklich«, erklärte Crowe. »Denn es gibt immer noch Leute im Süden, die die Unabhängigkeit wollen und sich dafür einsetzen.«
»Was uns zum Hier und Jetzt zurückbringt«, sagte Mycroft zu Sherlock.
»Booths Komplizen wurden gefasst und im Juli 1865 gehängt. Booth selbst konnte fliehen. Angeblich wurde er zwölf Tage später von Soldaten der Union gefangen und auf der Stelle erschossen.«
»Angeblich?«, fragte Sherlock und nahm die leichte Betonung wieder auf, mit der sein Bruder das Wort ausgesprochen hatte.
Mycroft sah Crowe an. »Während der letzten drei Jahre kam immer mal wieder das Gerücht auf, dass Booth in Wirklichkeit seinen Verfolgern entkommen sei und dass es sich bei dem Toten um einen anderen Verschwörer handele. Um einen, der Booth sehr ähnlich sah und statt seiner erschossen wurde. Es heißt, Booth habe seinen Namen in John St Helen geändert und sei aus...
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