Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Diese Stadt ist wie Lava. Sie weitet sich unaufhörlich, begräbt alles Grün unter sich, macht nur an natürlichen Grenzen halt. Im Norden findet sie ihr Ende am Schwarzen Meer. Im Süden stößt sie an eine unüberwindliche Küste - das Marmarameer. Nach Westen streut sie ihre Vororte bis nach Edirne nahe der bulgarischen Grenze. Im Osten aber franst sie aus, da ist noch viel Platz, die Vorstädte fressen sich weit nach Anatolien hinein. Diese Metropole hat auf den Höhepunkten des Baubooms so viel Beton wie keine andere Stadt der Welt verbraucht. Istanbul ist in den letzten sechzig Jahren um das Vierzehnfache auf weit mehr als vierzehn Millionen Einwohner gewachsen.
Die meisten Istanbuler brauchen Stunden, um ihre Stadt zu verlassen. Wir benötigten eine Ewigkeit, um im Stau vom Flughafen in die Stadt zu kommen. Von den Brücken schauten wir auf ein rotes Dächer-Meer. Kein Park, keine Freifläche, kein Wald in Sicht. Stattdessen: Häuser, Straßen, Menschen. Auf unserem Weg stieß Autobahn auf Autobahn, darüber lag eine Brücke, dazwischen ein von Autos umtostes grünes Dreieck. Neben Rasen und einem dürren Bäumchen wuchsen dort Tulpen und Rosen dicht nebeneinander. Ein Schild der Stadtverwaltung klärte über die eigenartige Idylle auf: «Für Sie angelegt, Ihr Bürgermeister.» Eine Parkbank lud zum Verweilen ein, daneben ein Mülleimer. Wem es im Stau zu langweilig wurde, stieg aus. Tatsächlich hatte ein Istanbuler seinen Wagen auf der Standspur geparkt, um mit der Familie auf dem Rasendreieck ein Picknick zu machen. Sie hatten den Grill herausgeholt, Geschirr und Teegläser auf einer Decke ausgebreitet. Während das Fleisch garte, lagen sie scheinbar entspannt auf dem Rasendreieck und schauten auf die tosende Stadt um sich herum. In diesem Moloch also sollten wir wohnen.
Uns schien es, als sei die einzige Gemeinsamkeit zwischen Istanbul und unserem letzten Wohnort Hamburg das Wasser. In Hamburg waren unsere Söhne Nikolaus und Konstantin zur Welt gekommen. Gegenüber unserem fünfstöckigen Wohnhaus in Hamburg-Ottensen lag ein öffentlicher Park, und dahinter ging es den Hügel hinunter zur Elbe. Ein leicht schlechtes Gewissen hatten wir schon, die Kinder aus dieser Idylle zu reißen. Nikolaus, der ältere, konnte Fußball spielen und Roller fahren, Konstantin immerhin schon aus seinem Kinderwagen hoch in die Bäume schauen. Hamburg ist eine sehr kinderfreundliche Stadt, aber bei Istanbul waren wir uns nicht so sicher, was uns erwartete. Wir wussten, dass die vollgepackte Metropole einfach viel weniger Parks und Spielplätze für Kinder hatte. Deshalb packten wir besonders viel Lego in die Umzugskisten. Dazu Spielzeugeisenbahnen, Massen von Plüschtieren und Büchern, auf dass es den Kindern in unseren neuen vier Wänden nicht langweilig werden würde. Das Umzugsgut füllte einen großen Lastzug, der über die Alpen, Italien, per Fähre über das Mittelmeer und durch Griechenland in die Türkei fuhr, während wir die Abkürzung durch die Luft in elftausend Meter Höhe nahmen.
Auf den ersten Blick wirkte Istanbul auf uns wie eine unendliche Anhäufung von Beton, Stahl, Glas und Asphalt. Selbst der Horizont schien zugebaut. Aber das war ein Irrtum, wie wir bald nach unserer Ankunft erfahren sollten. Viele leben in der türkischen Metropole überhaupt nicht mit dem Gefühl, eingeschlossen zu sein. Das hat mit der Lage zu tun. Istanbul breitet sich nicht in der Ebene aus, sondern zieht sich über viele Hügel hinweg. Im Anfang waren es die sieben Hügel des alten oströmischen Konstantinopels. Auf den Anhöhen stehen die großen Moscheen der osmanischen Zeit, auf einem Hügel am Rand der Altstadt das Edirne-Tor, durch das 1453 osmanische Soldaten nach Konstantinopel eingedrungen waren. Jenseits der Istanbuler Hausbucht, dem Goldenen Horn, folgen viele weitere Erhebungen, die erst im 20. Jahrhundert besiedelt wurden. Die Hügel trennen die Bewohner in oben und unten, reich und arm, offen und eingeschlossen. Die Täler sind stickig, winklig, mit Beton zugegossen. Oben wird es luftig, grün, und oft genießt man einen weiten Blick. Istanbul ist von zwei Meeren und einer Meerenge eingeschlossen. Und genau das öffnet seinen Bewohnern den Horizont.
Nur ganz Bescheidene suchen sich ihren Freiraum auf dem staatlich angelegten Straßenbegleitgrün. Freiheitshungrige fahren ans Meer und genießen, den Beton im Rücken und den Wind im Gesicht, die scheinbare Unendlichkeit der See. Nimmersatte nehmen ein Motorboot raus aufs Meer, kreuzen mit dem Fährschiff den Bosporus oder suchen Zuflucht auf einer der stadtnahen Inseln. Naturerlebnisse in Istanbul sind eine schöne Illusion, weil es an sonnigen Tagen nirgends so voll ist wie auf den Fähren, an den Kaimauern und den kurzen Strandabschnitten am Schwarzen Meer. Aber jeder fährt hin, schaut hoch in den weiten Himmel und meint, er sei für sich allein.
Im Stau begriffen wir, dass alles Glück in dieser Stadt von der Wohnlage abhängt: Nicht zu sehr im Gewühl des Zentrums darf die Wohnung liegen, da ist es zu stickig. Nicht zu weit weg darf sie sein, sonst verbringt man alle Zeit im Stau. Nicht zu weit weg vom Wasser, damit die Illusion der Freiheit nahe ist. Aber nicht direkt am Wasser, weil es dort zu voll ist, vor allem an den Wochenenden. Wir bezogen für ein paar Tage eine wunderbare Gastwohnung, die Gabi und Erdogan vermieteten, zwei Architekten und Unternehmer mit innovativen Ideen, wie man in Istanbul gut wohnen, lernen und feiern kann. Sie wurden später zu unseren Freunden. Nach einer guten Woche intensiver Besichtigungen zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer fanden wir den richtigen Ort: im Bosporus-Stadtteil Arnavutköy auf der europäischen Seite Istanbuls. Eine ehemalige Korrespondentin hatte uns Arnavutköy als kinderfreundlichen Ort empfohlen. Sie hatte recht. Wir zogen in eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, daneben lagen ein Garten und ein kleiner Park für die Kinder. Von hier ging es gute zehn Minuten zu Fuß bergab zum Büro der ZEIT, Michaels Ausgangspunkt für viele Reisen in der Türkei und im Nahen Osten. Es lag mitten im Gewühl von Arnavutköy, zwei Straßen vom Bosporus entfernt. Ein Taxistand davor, eine Galerie dahinter, ein Restaurant gegenüber. Auch ein Kindergarten war in der Nähe, ein Obstladen, ein kleiner Supermarkt. Vom Haus zum Büro konnte man zu Fuß laufen und musste sich nicht durch das Verkehrschaos quälen. Perfekt. Wir ahnten nicht, welche Hürden noch vor uns lagen, bis wir hier offiziell wohnen durften.
Wer Istanbuler werden möchte, muss sich registrieren. Und das ist schwieriger als gedacht. Aber vielleicht ist es auch nur gerecht. Denn normalerweise sind es die Türken, die gegenüber den Deutschen benachteiligt sind, wenn sie auf Reisen gehen. Die Deutschen winken in Istanbul nur mit dem Personalausweis - und schon sind sie im Land. Die Türken müssen bei deutschen Generalkonsulaten Termine vereinbaren, müssen kiloweise Papiere herbeischaffen und - wenn sie zu den Glücklichen gehören, die ein Visum bekommen - hohe Gebühren bezahlen. An deutschen Flughäfen werden sie noch auf der Gangway nach Pass und Visum gefragt, im Gebäude wird alles sorgfältig überprüft, erst dann dürfen sie das Land betreten. Für ein paar Tage oder Wochen, so, wie es der deutsche Konsul erlaubt hat. Da haben es deutsche Touristen in der Türkei besser.
Doch die türkische Bürokratie gleicht das alles aus, wenn es darum geht, in der Türkei zu leben. Ade, Personalausweis. 2007, als wir nach Istanbul zogen, mussten wir wie alle von fern Zugezogenen zur zentralen Ausländerpolizei im Istanbuler Stadtteil Aksaray pilgern. Einige Jahre später durften wir dann für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in eine lokale Polizeistation in unserer Nähe gehen. Aber diese Verbesserung gab es damals noch nicht.
Die zentrale Polizeibehörde ist ein riesiger Bau aus den achtziger Jahren, Beton, Stahl, Glas, der kein Ende zu nehmen scheint. Er liegt an einer sechsspurigen Straße, die vor sechzig Jahren in die Stadt gefräst wurde. Im gigantischen Innenhof könnten auch Panzer paradieren. Das große Gebäude hielt für seine Besucher die perfekteste aller Begrüßungen parat. Ein Spruchband an der Fassade zitierte den Urvater Atatürk mit den Worten: «Ne mutlu Türküm diyene» - «Glücklich ist jener, der von sich sagen kann, Türke zu sein.»
Der tiefere Sinn des Spruches erschloss sich uns erst im Innern des Gebäudes. Glücklich konnte sich in der Tat jeder schätzen, der hier niemals hineinmusste. Betontreppen, flackerndes Neonlicht, Menschentrauben, verwirrte, verirrte Blicke. Man zog sich wie in einer deutschen Behörde eine Nummer. Alle warteten. Deutsche, Kasachen, Franzosen, Turkmenen, Ukrainer. Saßen auf Korridorböden, dösten an Wänden, wechselten vom einen Bein aufs andere. Etwa auf Bauchnabelhöhe gab es auf den Fluren Fenster, dahinter saßen die Beamten. Um mit ihnen in Kontakt zu treten, musste sich der Besucher tief bücken. Doch was sprach man? Kein Englisch, Französisch, Deutsch. Natürlich sprachen alle Beamten der Ausländerpolizei ausschließlich Türkisch. Wir hatten schon in Deutschland zwei Jahre vor dem Umzug etwas Türkisch in Abendkursen gelernt: Begrüßung, Einkaufen, Moscheenbesuche, Wetterbericht. Aber das reichte alles nicht, um das genuschelte Bürokratentürkisch zu verstehen. Wenn Michael wieder nichts verstanden hatte, legte er einfach seine Akkreditierung als Korrespondent vor, die er vom türkischen Informationsministerium erhalten hatte. Nach dem ersten Austausch verstanden wir schnell, dass wir zu wenige, viel zu wenige Dokumente dabeihatten, obwohl wir die Listen der Ausländerpolizei im Internet ausführlich...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.