Schweitzer Fachinformationen
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Es war halb zehn, als ihr die Augen über dem Alpenglühen zufielen. Nach zweimaligem Umsteigen lag sie nun im Schlafwagen eines Intercity, eine dunkle Schweizer Bergkette mit lodernden Gipfeln zog am Fenster vorbei. Der Farbton wanderte in ihren Halbschlaf. Rote Schlieren über Gedankenfetzen. Bilder, die sie nur ein paar Augenblicke lang sortieren konnte, bevor sie aufgab und sich den nächsten zuwandte.
Da waren ihre Kindheitserinnerungen an den Ort, an den sie nun nach . wie vielen Jahren . achtzehn? . zurückkehrte: die Sandalen ihrer Mutter, deren Pfennigabsätze über den Marmorboden des Foyers klackern. Sie selbst, wie sie in ihrem Bett das Laken von sich stößt und sich im eigenen Schweiß wälzt. Die noch warmen Croissants, nie direkt aus der Tüte! Immer hübsch angerichtet auf einem Teller. Ihr erster Kuss mit einem einheimischen Jungen in einer Bucht. Wie war sein Name? Da vermischte sich sein Gesicht mit den Zügen ihres ersten Freundes. Keine guten Erinnerungen. Zurück zur Bucht, doch sie bekam den Jungen nicht mehr zu greifen. Stattdessen klopfte eine kaum auszuhaltende Trägheit an ihr Bewusstsein, ein Gefühl, ausgelöst von einem flirrenden Sommer, in dem absolut nichts passierte, in dem jeder Tag dem vorangegangenen so sehr ähnelte, dass sie einfach ineinanderflossen und somit ihre Bedeutung verloren.
Ihr Großvater schob sich ins Bild. Als junger Mann auf einem klapprigen Rad, eine Straße an der Steilküste, vielleicht ein paar Kilometer von Nizza entfernt, wo er aufgewachsen war. Etwas stimmte nicht. Das konnte keine eigene Erinnerung sein. Vielleicht ein Foto, das sie kannte?
Vor drei Jahren, als ihre Mutter das letzte Mal nach Saint Martin gereist war, hatte sie wehmütig berichtet, dass sich alles verändert habe. Doch Léa war sich nicht sicher, wie ernst sie das nehmen konnte - was genau sollte schon passiert sein? Die Uhren schlugen in diesem Dorf schon immer langsamer als an den touristischen Küstenorten, sollten sie jetzt etwa schneller gehen? Tick tick tick. Die alte Wanduhr im Wohnzimmer ihrer Großeltern. Wurde das Dorf nun doch vom Tourismus überfallen, nachdem sich dieser immer schon im mittelalterlichen Èze entladen hatte? In dem halb wachen Zustand, in dem sie sich gerade befand, bereute sie für einen Moment, ihren Großvater nie gefragt zu haben, wie es gewesen war, lange vor ihrer Geburt. Er war der Ursprung von allem, was vor ihr lag.
Hier im Zug, zwischen den Welten, tauchten ihre Gespenster ohne Ankündigung auf. Die eine Hälfte ihres Bewusstseins lag auf der Lauer, die andere taumelte durch den Spuk hindurch. In den Nächten, in denen sie zu Hause wach gelegen hatte, hatte sie immer vor ihnen fliehen können, indem sie sich beschäftigte. Mit der Buchhaltung. Mit aktuellen Bestellungen. Mit der spontanen Kreation neuer Rezepte um ein Uhr nachts, und am Morgen stand dann ein frischer Kuchen auf der Anrichte. Überhaupt war ihre Arbeit die Antwort auf vieles gewesen.
Léas kleines Café hatte sich direkt nach der Eröffnung zu einem festen Nachbarschaftstreff etabliert. Was sie schon immer mochte, was sie schon immer konnte, war, Menschen um sich zu versammeln. Nicht bei einem Geburtstag, nicht indem sie sich in den Mittelpunkt rückte, sondern das Gegenteil war der Fall. Sie bevorzugte es, hinter einem Tresen zu verschwinden und von da aus alles mitzubekommen. Zu lauschen. Aber auch, um einen kleinen Zufluchtsort zu bieten, die Wärme der Anwesenheit anderer zu genießen, ohne selbst etwas geben zu müssen. Vielleicht lag es daran, dass sie Einzelkind war, aufgewachsen in einer überschaubaren Familie, und jetzt das aufsaugte, was sie nie kannte, nämlich diese ständige Geräuschkulisse. Immer unter Leuten zu sein. In deren Leben schauen zu dürfen, ohne sich selbst an den Gesprächen beteiligen zu müssen. Ohne gefragt zu werden: Und du, Léa?
Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass sie phantastisch buk - Kochen hingegen konnte sie nicht leiden -, und der Spaß daran ihr nie vergangen war. Als sie vor ein paar Jahren an einem lauen Frühlingsabend spontan beschlossen hatte, vom Büro nach Hause zu laufen, kam sie an einem Haus vorbei, dessen Erdgeschoss leer stand. Zur Straße hin gab ein bodentiefes Fenster mit einem massiven, dunkelgrün gestrichenen Rahmen den Blick nach drinnen auf einen kleinen Raum frei. Also tat sie, was sie am zweitbesten konnte: eine impulsive Entscheidung treffen, ohne jemanden um Rat zu fragen. Insgeheim erzählte sie sich eine Zeitlang, dass sie den leer stehenden Raum nur vorm nächsten Angriff einer Social Media-Agentur retten würde. Tatsächlich hörte sie die Siebträgermaschine rattern, als sie durch das verschmierte Fenster blickte.
Ihr Fuß trat ins Leere, und sie öffnete die Augen. Draußen war es stockdunkel, und sie erkannte ihre eigenen Umrisse im Scheinwerferlicht der kleinen Leselampe. Unverschämt, dass man nachts mit seinem Spiegelbild konfrontiert wurde, obwohl man sich nach etwas ganz anderem sehnte. Sie drehte sich auf den Rücken und schaltete das Licht aus. Dann schloss sie wieder die Augen, doch dahinter trommelte es in ihrem Kopf.
Fünfunddreißig und kein Halt. Nein, mach kein Drama, Léa, sonst wird's peinlich. Gefühlt ohne Halt.
»Würdest du dich denn halten lassen?«, fragte ihre Mutter plötzlich in Gedanken. Und dann war sie hellwach.
Es war die Idee ihrer Mutter gewesen. Brigitte hatte nicht immer die besten Einfälle, aber meist die richtigen. Doch was richtig war, fühlte sich nicht immer gut an, im Gegenteil, was richtig für einen war, in diesem Fall für Léa, konnte schwierig oder zumindest anstrengend sein: öfter nein sagen (oder war es ja?), ihre Freundinnenschaften pflegen, die sie vernachlässigt hatte, mehr alleine ausgehen, als beim Onlinedating an einen Catfisher zu geraten (das Wort hatte Brigitte kürzlich gelernt), die waagrechte Falte auf ihrer Stirn mit Hilfe von Gesichtsyoga zu glätten - die Tipps bezogen sich darauf, ihr Leben aus Sicht ihrer Mutter im Griff zu haben. Die schwor allerdings auch nach wie vor auf Selleriesuppe zum Abnehmen.
»Fahr in den Urlaub«, hatte Brigitte gesagt. Und dann, mit Nachdruck: »Trau dich«, was in dem Kontext absurd klang. Léa hatte die Arme verschränkt, weil ihr letzter Urlaub mehrere Jahre zurücklag: ein dreiwöchiger Roadtrip durch Dänemark, direkt nach ihrer Kündigung. Weil sie gewusst hatte, dass das Café ihr, zumindest am Anfang, alles abverlangen würde. Sie arbeitete sechs Tage die Woche, sie war immer anwesend, obwohl eine ihrer zwei Aushilfen mehr Stunden übernehmen wollte und Léa hätte entlasten können. Deshalb hatte sie vor ein paar Jahren angefangen, lediglich ein paar Kurztrips in europäische Städte dazwischenzuquetschen und als Urlaub zu verbuchen. Doch insgeheim ermüdete es sie, in 48 oder 72 Stunden durch Paris, Budapest oder Neapel zu hetzen, denn wenn Léa ehrlich zu sich selbst war, blieb sie lieber zu Hause. Weil ihre Füße am Ende des Tages sowieso immer schmerzten. Und außerdem wartete Antonia auf sie, wenn Léa spätestens um acht Uhr nach Hause kam und sich bereits beim Schuheabstreifen darauf freute, sich ein Glas Rotwein einzuschenken. Aber jetzt war Toni nicht mehr da, und weil Léa sich lieber mit den Gefühlen anderer als mit den eigenen beschäftigte, spülte sie den Verlust in großen Schlucken hinunter und döste vor Netflix ein, bis es irgendwann fragte: Schauen Sie noch?
Also stürzte sie sich in die Arbeit. Und beschloss - aus einer Kombination von Vermeidungstaktik und naiver Hoffnung, das würde zur Trauerbewältigung reichen -, die zitronengelben Wände des Cafés zu tapezieren. Mit einem tropischen Dschungelmuster, das vielleicht an einer Wand eine interessante Idee war, an vier Wänden nicht nur fragwürdig, sondern schlichtweg alarmierend. Vor drei Wochen war es dann so weit: Im Sekundenschlaf rammte sie mit ihrem Auto ein anderes - glücklicherweise nur im Stadtverkehr und nicht auf der Autobahn. Und weil ihr beim Durchchecken im Krankenhaus die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand, sagte der behandelnde Arzt: »Sie müssen dringend auf die Bremse treten«, und sie meinte gähnend: ». dafür ist's wohl zu spät.«
Dann kam ihre Mutter mit dem Vorschlag. Vielmehr war es eine Aufforderung, und nach Léas anfänglicher Abneigung bohrte sich eine Frage in sie hinein, die sie innehalten ließ.
Fuck.
Fuuuuuck.
Habe ich wirklich allen Wänden meines französischen Cafés eine Dschungeltapete verpasst?
Gefolgt von: Fünfzig Stunden in der Woche arbeiten . und dann? Die Zeit, die übrig blieb, brauchte sie, um sich genau davon zu erholen. Doch sie liebte ihr Café, sie war ihre Arbeit, auch wenn sie wusste, dass es irgendwann immer bergab ging für diejenigen, die sich das einredeten.
Als Léas Mutter merkte, dass die Mauer ihrer Tochter aus skeptischer Abneigung zu bröckeln begann, legte sie nach und sagte: »Fahr nach Saint Martin. Du weißt, dass das Haus leer steht. Claire würde bestimmt ein Bett frisch beziehen und den Kühlschrank füllen. Du musst dich nur ins Flugzeug setzen.«
»Ich fliege nicht mehr«, sagte sie. »Also, ab jetzt.«
»Dann in den Zug. Ich buche ihn dir. Fahr über Nacht, dann bist du zum Sonnenaufgang da.«
Zum Sonnenaufgang an der Côte d'Azur. Die Küste, die ihre Kindheit jeden Sommer für sechs Wochen in Watte gepackt hatte, um sie später dann als Jugendliche zu Tode zu langweilen.
»Wir kriegen das hin. Du machst das Café für drei Wochen zu, das kannst du dir leisten. Für die restlichen Wochen stockst du Sandrines Stunden auf, und...
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