Schweitzer Fachinformationen
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München, Deutschland, September 2016
LAURA STEMMTE SICH gegen die Tür. Etwas hatte sich verzogen, und sie klemmte seit einigen Tagen. Vielleicht sollte sie das reparieren lassen. Nicht heute. Heute war, und das merkte sie in dem Moment, als sie sich gegen die Tür stemmte, kein guter Tag.
Als sie in der Diele stand, kam ihre Mutter auf sie zu. Sie trug eines ihrer selbst genähten Kleider. Sie ging barfuß, und das bunte Seidenkleid um ihren schlanken Körper fiel in ihre Bewegungen hinein. Ihre Fingernägel hatte sie pink lackiert, das rote Haar zu einem Dutt drappiert. Laura blieb stehen und spürte einen Luftzug.
Die Balkontür stand offen, und die bodenlangen Baumwollgardinen, deren Enden verstaubt waren, bewegten sich so sanft, dass sie es kaum wahrnahm. Das Klappern von Geschirr und einzelne Stimmen drangen ins Zimmer, vielleicht von der Straße, vielleicht aus der Wohnung darunter.
Sie blickte zurück in die leere Diele. Die Tatsache, dass das Kleid, das sie gerade an ihrer Mutter gesehen hatte, im Schrank im Schlafzimmer hing, überschwappte sie wie eine Welle, der sie nicht versuchte auszuweichen. Sie würde sie ja doch kriegen. Laura musste sich an die Wand lehnen, ihr wurde schwindelig. Langsam rutschte sie an ihr hinunter und blieb eine Weile dort sitzen. Die Wand fühlte sich unangenehm warm an, genauso wie der Holzboden, sie hasste diesen Sommer. Er pochte in jeder Ritze, selbst hier, in dieser leeren Diele war er immer noch unerträglich präsent. Laura wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war der erste Sommer in ihrem Leben, den sie als hämisch und hinterlistig empfand. Der nicht enden wollte. Den sie einfach nur ertrug. Weil ihre Mutter gestorben war, bevor der Sommer überhaupt richtig begonnen hatte.
Diese Jahreszeit war ihnen beiden immer die liebste gewesen. Magdalena hatte immer gesagt, dass die meisten Menschen nur die Fröhlichkeit des Sommers wahrnähmen, jedoch nie diese zarte Melancholie, die sich in lauen Nächten um die Köpfe lege, sodass man gar nicht schnell genug im Auto nach Italien sitzen könne. Wenn es nur die Melancholie wäre, dachte sich Laura, und nicht diese grellen Farben von nicht enden wollendem Sonnenschein.
Sie musste die Balkontür versehentlich offen gelassen haben, als sie gestern gegangen war. Sie sah nach draußen, und ihr Blick fiel auf das Café gegenüber. Der Platz, an dem sie gern saß, war frei, doch sie legte sich, und in diese Abfolge von Bewegungen hatte sich eine seltsame Routine geschlichen, auf das große Sofa, dessen abgewetztes Leder für einen kurzen Moment ihren Körper kühlte. Schon war es vorbei. Sie schloss die Augen.
Die große Dachgeschosswohnung, die im Sommer immer stickig und warm war, hatte bereits ihrer Großmutter gehört, und als diese vor ein paar Jahren gestorben war, war Magdalena, Lauras Mutter, eingezogen. In diesem Sommer war es nun Laura, die überlegte, ihre kleine, für sie belanglose Wohnung aufzugeben und in das Erbstück ihrer Mutter einzuziehen. Ohnehin verbrachte sie jeden Tag lange Stunden hier. Gleichzeitig ertrug sie den Gedanken nicht, tatsächlich einzuziehen, denn das fühlte sich in etwa so an, als würde sie dem Tod ihrer Mutter zustimmen. So weit war sie noch nicht. Die Hutboxen, die sich in zwei Türmen vom Parkettboden bis knapp unter die Decke stapelten. Die meterhohen Massai-Figuren aus Kenia, die Kaffeesäcke aus Äthiopien, aus denen Magdalena Sitzkissen genäht hatte, die vielen verschiedenen Buddha-Statuen von ihren Reisen nach Indonesien. Der riesige Spiegel in der Diele, verziert mit Tausenden von winzigen Mosaikplatten, ein Souvenir aus Usbekistan. Laura liebte diese Wohnung, die so viel über ihre ehemalige Bewohnerin erzählte. Und deshalb war es noch nicht ihre.
Sie öffnete die Augen, und ihr Blick fiel auf den Globus, der direkt gegenüber auf der dunklen Teakkommode stand. Das Spiel, das sie immer gespielt hatten, als Laura noch klein war. Magdalena drehte den Globus, und Laura stoppte die Bewegung mit ihrem Zeigefinger. Wenn ihre Mutter in dem Land, das Laura getroffen hatte, gewesen war - und die Chance war groß, denn Laura kannte niemanden, der so viel gereist war, wie ihre Mutter -, dann erzählte Magdalena ihr alles, was sie darüber wusste. Alles, was sie erlebt hatte, bevor Laura geboren worden war.
Immer noch roch sie den leichten Parfümgeruch ihrer Mutter in den Textilien, eine Mischung aus Patschuli und Rosenholz und etwas, das sich immer dazwischenmischte, sie aber nicht bestimmen konnte. Wenn sie lange auf dem Sofa lag und der Geruch aus dem Kissen verschwand, nahm sie sich ein anderes und blieb auch darauf so lange liegen, bis der Geruch endgültig weg war. Irgendwann, das wusste sie, würde er nur noch in ihrer Erinnerung existieren.
Sie stand auf und wollte gehen, wie jeden Tag, wenn sie sich fragte, warum sie überhaupt hergekommen war. Um es sich selbst noch schwerer zu machen? Sie wollte hier sein, und sie wollte nicht hier sein. Die Altbauwohnung war die Chronik einer unabhängigen Frau, einer Weltenbummlerin, und es war absurd, dass alles hier nach Abenteuer roch und die Lebenslust ihrer Mutter in jeder Seite jedes Tagebuchs, in jedem Rahmen jedes Bildes steckte, und doch alles nun vorbei war. Der Tod passte nicht in diese Wohnung. Er hatte hier keinen Platz, und doch nahm er ihn sich ungefragt. Und Laura war nicht bereit, das Apartment aufzulösen oder einfach einzuziehen. Sie hing zwischen Vergangenheit und Zukunft, was von außen betrachtet normal schien, für sie jedoch ein Zustand war, der sie zerriss. Sie fühlte sich, als könnte sie weder vor und schon gar nicht zurück.
Sie fuhr mit ihrer nackten Fußsohle über den Flokati, ganz unbewusst. Dann schlüpfte sie wieder in ihre Sandalen, schloss die Balkontür und sah bereits von oben, dass ihr Lieblingsplatz vor dem Café immer noch frei war. Von dort aus konnte sie den französischen Balkon sehen, an dem sie gerade stand. Und dieser Blick war nah genug, um immer zurückzukehren, und doch weit genug weg, um ihn überhaupt zu ertragen.
Obwohl der Metallstuhl trotz Kissen unbequem war und der Tisch auf dem Kopfsteinpflaster immer wackelte, mochte sie diesen Platz. Seit zwei Wochen, seitdem sie aus der Reha zurück war - der Aufenthalt dort war ein Vorschlag ihrer Tante gewesen, weil Laura nach der Beerdigung ihrer Mutter nicht auf die Beine kam -, saß sie hier fast jeden Tag, weil es ihr oftmals schwerfiel, die Wohnung einfach so zu verlassen und nach Hause zu gehen. Sie brauchte eine Zwischenstation, einen Puffer zwischen beiden Wohnungen, einen Moment, in dem sie unter Leute gehen konnte, so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. Als würde sie nur schnell einen Kaffee trinken, bevor sie noch den Wochenendeinkauf erledigen und dann zu Hause für Freunde oder den Mann kochen würde.
»Einen Cappuccino, bitte«, sagte sie zu der Kellnerin und holte ihr Notizbuch aus der Tasche.
Hundetrainerin. Begründung: Nähe zum Tier, weniger Nähe zu Menschen.
Noch mal studieren gehen. Begründung: Keine.
Café eröffnen. Begründung: Immer Kaffee. Nachteil: Zu viele Menschen, zu laut.
Einfach ans Meer fahren. Begründung: Italien, Italien, Italien.
Apropos Italien: Papa besuchen (vielleicht).
Begründung: La Famiglia.
Restaurantkritikerin. Begründung: Klingt gut.
Vorteil: Viel essen, viel trinken.
Zurück ins Übersetzungsbü WAS WILL ICH WIRKLICH!?!?
»Vielleicht noch einen Cappuccino?«, fragte jemand. Laura schreckte aus ihren Gedanken auf.
»Gerne, danke«, antwortete sie ohne aufzusehen, legte den Kuli weg und rieb sich die Augen. Erst dann fiel ihr auf, dass es eine männliche Stimme war. Sie drehte sich um. Jemand stand am Tresen, allerdings war es so dunkel im Café, dass sie ihn nicht richtig sehen konnte. Sie fing an, einen Stern neben die Liste in ihr Notizbuch zu malen, und dann noch einen und noch einen.
»Darf ich mich dazusetzen?« Laura hob den Kopf. Er war groß, vielleicht eins neunzig und hielt eine Tasse mit überschwappendem Milchschaum und einen Espresso in den Händen.
»Warum?«
»Weil ich dir gerade einen Kaffee spendiere?« Er grinste.
»Aha«, sagte Laura, und weil er sich ihr bereits gegenübersetzte und sie nicht wusste, was sie antworten sollte, schwieg sie. Er legte die Sonnenbrille, die in seinem dichten Haar kaum zu sehen war, auf den Tisch und lächelte sie wieder an. Nettes Lächeln. Schönes Lächeln. Schöne Zähne. Sie gab sich unbeeindruckt.
»Ich bin nicht gut in Small Talk«, sagte sie schließlich und fing an, den Milchschaum von ihrem Kaffee zu löffeln, um den Mann, der ihr vollkommen fremd war, nicht ansehen zu müssen. Ihre Hand zitterte leicht.
»Das Wetter ist herrlich, oder?«, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Da musste sie lachen.
»Und was willst du wirklich?«, fragte er sie. Laura musterte ihn einen Augenblick, das schmale Gesicht, die Grübchen, den Dreitagebart, der in einen Schnauzer überging.
»Du hast meine Notizen gelesen«, antwortete sie, und anstelle dessen, was sie sonst machen würde, nämlich aufstehen und gehen, ließ sie den Satz lediglich als Feststellung stehen. Und blieb sitzen.
»Nur ganz kurz«, sagte er. Sie schwiegen eine Weile, und Lauras Blick wanderte zur Wohnung ihrer Mutter. Er beobachtete sie dabei, und als sie es spürte, war es ihr nicht unangenehm. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Mal so angeschaut worden war. Da war so eine Ehrlichkeit in seinen Augen. Als hätte er ihr diese Frage wirklich gestellt und Laura sie sich nicht zwischen den Schichten...
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