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1982, Juli, die italienische Riviera, Ligurien
Die Geschichte ist zu Ende, mamma ist tot. Und von der Resistenza reden sowieso nur noch alte Leute. Du tust jetzt deine Pflicht, fährst zu zia Mafalda und fertig. Schau, sei lieber froh, dass die Straße endlich frei ist!
Gianna Perrin stemmte den Fuß auf das Gaspedal ihres Fiat 500. Der feuerrote Kleinwagen machte einen Satz und flog der nächsten Kehre entgegen, einer besonders engen Kurve auf der Uferstraße von Genua nach Ventimiglia an der französischen Grenze. Und wenn du nach Sant'Amato kommst, halt dich geschlossen. Es muss ja nicht jeder wissen, was du wieder verbockt hast.
Im Radio riefen sie den heißesten Juli seit Kriegsende aus, dann folgten die Elf-Uhr-Nachrichten: Die Azzurri im Finale der Fußballweltmeisterschaft. Britische Truppen in Falkland. Lady Dianas neugeborener Prinz. Im Kino ein Außerirdischer als Kassenmagnet. Und hundert Kilometer Stau auf Italiens Straßen.
»Also Leute, heut käme nicht einmal E.T. pünktlich wohin«, witzelte der Radiomoderator, »dabei will der arme Kerl doch nur nach Hause. Wer hilft ihm dabei?«
Gianna rollte mit den Augen. Na, ich sicher nicht. Oder brauch ich etwa noch mehr Probleme? Nachdem sie morgens die Tür ihrer Turiner Mansarde hinter sich zugezogen und sich aus dem Innenstadtverkehr gekämpft hatte, war sie auch auf der autostrada ständig in Staus geraten. Erst seit Genua lief es etwas besser. Gianna zappte nach alter Gewohnheit durch die Sender der Konkurrenz und hörte Popmusik. Belangloses, synthetisches Zeug. Alles, um die spöttischen Kommentare in ihrem Kopf zu übertönen.
»Du haust ab, am Tag vor Silvios Antritt als Redaktionschef? Nicht dein Ernst!«
»Süße, wer jetzt fehlt, kann sich einen neuen Job suchen.«
»Deine Tante hat was gefunden? Einen vergessenen Koffer deiner Mutter? Das ist ja wie im Kitschfilm: Junge Frau fährt an die Riviera, regelt Nachlass - zack! - Speicherfund und großes Drama. Doch der nette Tierarzt steht bereit. Happy End und Schluss. Und du mittendrin, ha, ausgerechnet!«
Das Gelächter ihrer Reporterkollegen klang Gianna noch in den Ohren, seitdem sie tags zuvor aus der Redaktion gelaufen war, vage Erklärungen auf den Lippen und eine Aufgabe vor der Brust, von der sie nicht wusste, ob sie ihr gewachsen war.
Mamma ist tot. Zwei Jahre schon.
Gianna kurbelte das Seitenfenster hinunter. Der Fahrtwind blähte ihr Tanktop und fuhr ihr in die braunen Korkenzieherlocken. Davvero, nein wirklich, es wurde Zeit für einen Schlusspunkt! Der Schock über den Verkehrsunfall der Eltern ließ immer mehr nach, alle anderen Formalitäten rund um deren Beerdigung und Erbe hatten seinerzeit ihre Brüder geregelt - zwei erfolgreiche Juristen mit gemeinsamer Kanzlei. Es lag also an Gianna, diese letzte Sache zu regeln. Zumal zia Mafalda bei ihrem Telefonat eigens darum gebeten hatte, dass sie käme.
»Und komm allein«, hatte jene hinzugefügt. »Das ist eine Familiensache. Mir ist bewusst, wie eng Fabrizio mit deiner Mutter zusammengearbeitet hat. Doch lass ihn bitte zu Hause.«
Welches Zuhause hat sie gemeint? Es gibt keins mehr. Ach was, es gab nie eins! Gianna hatte ihre Tante daran erinnert, dass Fabrizio schon seit Monaten in Rom lebte, und das wäre auch gut so. Doch ähnlich wie ihre Brüder schien Mafalda zu ignorieren, dass sie und ihr Mann sich getrennt hatten und dass nur der Stress in der Redaktion Gianna bisher davon abgehalten hatte, endlich die Scheidung einzureichen. Noch etwas, was du vor dir herschiebst.
»Nun, du kommst also allein, wunderbar«, hatte Mafalda geschlossen und einen erleichterten Seufzer durch den Hörer geschickt. »Mir fällt ein Stein vom Herzen, wenn die Sache geregelt ist. Auch deiner Mutter wäre es wichtig gewesen, dass du ihr Andenken als Partisanin ehrst. Und freu dich: Die ersten Aprikosen sind reif!«
Hinter Noli wurden die Kehren weiter, die Buchten tiefer und der Bewuchs üppiger. Bougainvilleen wallten magentarot die Straßeneinfassung herab. Palmen und Kaktusfeigen säumten die Fahrbahn auf der Strecke von Albenga nach Alassio. Und dann kam Laigueglia, wo Gianna schon als Kind gebadet hatte.
Sie steuerte den Wagen über die Promenade. Zum Strand hin reihte sich eine Badeanstalt an die andere. Gegenüber verkauften die Boutiquen Plastikbrillen und Polohemden in Eiscremefarben. Durch das geöffnete Fahrerfenster wehte der Duft von Sonnencreme und granita di limone, dazu Rufe in den verschiedensten Sprachen. Vor jedem Zebrastreifen musste Gianna abbremsen. Die Hochsaison hatte begonnen, und ganze Heerscharen sonnenverbrannter Touristen schoben sich Richtung Strand, beladen mit Handtüchern, Kühltaschen und Schwimmreifen.
Auch deiner Mutter wäre es wichtig gewesen, dass du ihr Andenken ehrst.
Zia Mafaldas Satz stieß Gianna bitter auf. Ach, ja? Ist es denn immer noch nicht genug der Ehre? Während Giannas ligurische Verwandtschaft, darunter Leo Lanteri und seine Schwester Mafalda, in der Geschichte der Resistenza allenfalls lokale Berühmtheit erlangt hatte, war ihre Mutter nach Kriegsende zur Nationalheldin erklärt worden. »Maria Mortale«, die tödliche Maria, die Ikone des Widerstands, die Rose von Aosta - Giannas Mutter hatte man viele Namen gegeben. Und jeden hast du bestens für dich genutzt, nicht wahr, mamma?
Maria Perrins Kriegstagebuch Sommer der Freiheit, zehn Jahre nach Kriegsende erstmals erschienen, war in Italien inzwischen Schullektüre. Und auch wenn Gianna es kaum mehr hören konnte, wurde ihr wieder und wieder versichert: Was für eine Heldin die Mutter doch gewesen sei. Wie mutig und edel und unbeugsam, eine Jeanne d'Arc der Berge . Ach, zur Hölle damit! Dass Maria Perrin ihren Partisanenruhm immer dort genutzt hatte, wo er ihrer Politkarriere am dienlichsten war? Geschenkt. Dass die erste sindaca Turins - und damit die erste weibliche Bürgermeisterin einer italienischen Großstadt überhaupt - manchmal sogar mit ihren Todfeinden aus dem rechten Lager paktierte? Wahltaktik. Und dass es für Marias Angehörige nicht immer die reinste Freude war, im Schatten eines Menschen zu leben, der zu anderen mindestens ebenso hart war wie zu sich selbst, auch das, Gianna war sich dessen sicher, hätte niemand hören wollen. Es herrschte doch Einigkeit: Maria war die Heldin, Gianna hingegen allenfalls ihr Echo. Ein erbärmliches Echo, wenn ihr mich fragt.
»Leute, das ist ein Ding, was?«, holte die Stimme des Moderators Gianna zurück in die Gegenwart. »Übermorgen geht es gegen Deutschland, wir stehen im Finale. Und ich sag euch, die schießen wir raus, die Deutschen. Forza Italia! Wenn Rossi erst loslegt, dann heißt es ciao, ciao, Toni Schumacher! Dazu jetzt schon mal die musikalische Nummer eins, den Hit, den ihr euch am meisten gewünscht habt .«
Synthetische Bässe waberten aus den Lautsprechern des Fiat, dazu gesellte sich ein monotones Keyboard. Dann setzte der wohlbekannte und für Giannas Geschmack reichlich gepresste Tenor des Sängers ein.
»Felicità, è tenersi per mano andare lontano, la felicità .«
Acht Takte lang knödelte Italiens aktueller Popliebling Al Bano über Glückseligkeit, dann folgte das Gurren von Romina Power, seiner Partnerin auf der Bühne und im Leben.
»Felicità, è un cuscino di piume, l'acqua del fiume che passa, che va .«
Und so ging es weiter: Glückseligkeit hier, Glückseligkeit dort, ein Glas Wein und ein Stück Brot, eine unerwartete Begegnung, ein Liebeslied, der Strand bei Nacht, der Mond und immer wieder das Glück, das pure Glück. Alle Welt liebte den Song, jeder Musiksender spielte ihn in diesem Sommer rauf und runter. Auch die Konkurrenz.
»Fühl doch, wie es schon in der Luft liegt, fühl doch .«
Gianna griff sich ihre Pilotenbrille vom Beifahrersitz und setzte sie auf. Was für ein dämlicher Song! Massenkompatibler Mist, den man nur für Geld textet und nur für Geld singt. Und über den man nur berichtet, weil man nichts Besseres gelernt hat als Reporterin beim Dudelfunk. Weil ich immer versagt habe, wenn die guten Jobs, die wichtigen Jobs vergeben wurden. Gianna krauste die Nase unter den Gläsern der Sonnenbrille. Bell'affare!
Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie die Musik aufdrehte. Jetzt, wo Laigueglia hinter ihr lag und die Straße in einer lang gezogenen Kurve die nächste Landzunge erklomm, beschleunigte sie den Wagen. Sie hielt den Fuß auf dem Gas, bis die Pinien rechts und links an ihr vorbeiwischten und ihr die Bässe von »Felicità«, wider jede bessere Vernunft, Tränen in die Augen trieben.
»Fühl doch, wie es schon in der Luft liegt .«
Mit einer geschickt gesetzten chromatischen Rückung, einem Halbton höher als zuvor, sprang der Song in den letzten Refrain und steuerte souverän Richtung Ende. Na, das hat er doch gut gemacht, dachte Gianna voller Reue. Was zur Hölle musste ich den Mann nur so angehen? Und dann auch noch live on air!
Sie hätte Albano Carrisi alias Al Bano bei ihrem...
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