Schweitzer Fachinformationen
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New York, New York
»Willst du mir wohl sagen, wenn ich bitten darf, welchen Weg ich hier nehmen muß?« »Das hängt zum guten Theil davon ab, wohin du gehen willst«, sagte die Katze.
Lewis Caroll, Alice im Wunderland
Staubkörner tanzten im Sonnenlicht, das durch die hohen, südlich ausgerichteten Fenster fiel. Sie stießen über dem Kopf des alten Mannes zusammen und taumelten weiter, im Chaos versunken und gleichzeitig einer geheimen Choreografie folgend, beständig und doch vergänglich. Manche sanken zu Boden, doch genauso viele zog es ohne erkennbaren Grund nach oben, und Alice fragte sich, warum die Gesetze der Schwerkraft eigentlich nicht auch für Staubkörner galten.
Die Geräusche der Stadt und ihres lebhaften Verkehrs drangen von draußen in das Büro ihres Professors, und auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass sie sich in New York befand, hatte sie immer wieder das Gefühl, dass es auch noch eine andere Stadt gab, die zwar sehr nahe, aber aufgrund einer Störung der Wahrnehmung nicht zu erkennen war. In dieser anderen Welt würde sie nicht danach beurteilt, ob sie klug war oder nicht, denn die allgemeinen Gesetze - wie etwa jenes der Schwerkraft, das sich vor ihren Augen gerade selbst widerlegte - galten dort nicht. An diesem Ort gab es schlichtweg keine Regeln, und sie sehnte sich manchmal danach, dorthin zu reisen.
Professor Stoklinsky hob mit einem Lächeln in den Augen den Blick. Seine Haare standen ihm zu Berge, und er strahlte große Weisheit aus. Alice machte sich bereit für das, was er gleich sagen würde. Doch er schwieg und wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihrer Arbeit zu.
Sein prüfender Blick machte ihr Angst. Er erwartete so viel von ihr. Er behandelte sie, als wäre sie etwas Besonderes, doch wenn Alice im reifen Alter von neunzehn (beinahe zwanzig) Jahren etwas ganz genau wusste, dann, dass sie eben gerade nichts Besonderes war. Sie wusste es, weil sie in eine Familie voller außergewöhnlicher Menschen hineingeboren worden war.
Ihre Mutter war der aufgehende Stern des Ballettensembles der BalletMet von Ohio gewesen, bis sie während einer Probe für den Nussknacker durch eine ungesicherte Falltür in der Bühne fiel und sich dabei neununddreißig der zweiundfünfzig Knochen in ihrem Fuß brach. Während des langwierigen Heilungsprozesses begann sie Jura zu studieren, und nun war sie geschäftsführende Partnerin einer äußerst erfolgreichen Rechtsanwaltskanzlei an der Wall Street. Alices Vater war ein angesehener Augenarzt, der seine Freizeit in Indien verbrachte, um Menschen das Augenlicht zurückzugeben, die keinen Zugang zu angemessener ärztlicher Versorgung hatten oder sich diese nicht leisten konnten. Ihrem älteren Bruder, der ihrem Vater in die Medizin gefolgt war, war das renommierte Rhodes-Stipendium der Universität von Oxford verliehen worden. Im Moment machte er gerade eine Ausbildung an der Mayo Clinic zum Facharzt für Nierenheilkunde. Und Alices jüngere Schwester hatte erst vor Kurzem während ihres ersten Jahres in Harvard mit dem Gewinn des Jacob-Wendell-Stipendiums aufhorchen lassen. Sämtliche Mitglieder ihrer Familie hatten also ohne viel Anstrengung Erfolg in den meisten Dingen, die sie sich vornahmen.
Alice hingegen eher nicht. Sie hegte keine besondere Leidenschaft für irgendein besonderes Gebiet, abgesehen von ihrer Angewohnheit, die farbliche Schattierung, Sättigung und Intensität eines jeden Gegenstandes zu kategorisieren, den sie zu Gesicht bekam.
Sie konnte sich noch gut erinnern, wie sie sich als kleines Mädchen in dem weitläufigen, begehbaren Kleiderschrank ihrer Mutter versteckt hatte, um deren Kleider nach ihrem Platz im Farbspektrum zu ordnen. Sie hatte mit den Blusen begonnen. Dunkelviolett, Lila, Blau, Grün, Limone, Gelb, Creme, Orange, Rot, Dunkelrot. Und zum Schluss hatte sie die weißen Blusen zwischen die gelben und die cremefarbenen gehängt, auch wenn sie wusste, dass Weiß eigentlich nicht zum Farbspektrum gehörte. Ihre Mutter war anfangs ehrlich entzückt gewesen, doch als Alice auch die Schränke ihrer Geschwister neu sortiert hatte, hatte sie sie auf Autismus testen lassen.
Mit vierzehn hatte sich Alice schließlich um einige Jahre älter gemacht und einen Teilzeitjob in einer Boutique in der Nähe der Madison Avenue ergattert. Nadine, die Besitzerin des gleichnamigen Ladens, hatte das außergewöhnliche Gespür für Farben ihrer neuen Aushilfe rasch erkannt, ebenso wie die Kundinnen, die jedes Mal Alice um Rat fragten, bevor sie etwas kauften. Nadine nahm Alice sogar zur Fashion Week in Chicago mit, um für die neue Saison einzukaufen, und Alice genoss es, endlich in einer Sache gut zu sein. Ihr Selbstbewusstsein stieg und mit ihm auch die Anzahl ihrer Freunde.
Im letzten Schuljahr nahm Alice schließlich allen Mut zusammen und lud ihre neue beste Freundin Manuela zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Nachdem Manuela gegangen war, stellte Alices Mutter fest, dass diese ziemlich dicke Knöchel hatte. Ansonsten verlor sie kein weiteres Wort über den Abend. Am nächsten Tag erzählte Manuela in einem sehr humorvollen Monolog all ihren Freunden in der Schulkantine, wie ihre lebhafte Freundin Alice zu Hause zu einer grauen Maus mutierte. Alice verdrehte die Augen und lachte gemeinsam mit den anderen, doch ihre Wangen brannten.
Bei einer Cocktailparty zu Ehren ihres Bruders, der gerade aus Oxford zurückgekehrt war, erwähnte ein Kollege ihrer Mutter, dass er gesehen hatte, wie Alice in einem Laden in der Madison Avenue verschwand. Alice wollte bereits zugeben, dass sie seit mittlerweile beinahe vier Jahren in dem Geschäft arbeitete, doch ihre Mutter unterbrach sie eilig und erklärte, dass sich Alice als freiwillige Museumsführerin im Metropolitan Museum of Art beworben hatte und vermutlich deshalb an der Upper East Side gewesen war. Das war natürlich eine Lüge - Alice und ihre Mutter hatten bloß ein einziges Mal über diese Möglichkeit gesprochen -, und Alice wollte schon Einspruch erheben, doch der stählerne Blick ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen. Also nickte sie teilnahmslos und verschluckte sich beinahe an der plötzlichen Erkenntnis, dass sie tatsächlich eine ziemliche Enttäuschung für ihre Familie darstellte und dass das, was sie tat, im Vergleich zu den Tätigkeiten der anderen Familienmitglieder belanglos war. Weshalb wohl auch sie selbst vollkommen bedeutungslos war und die Familie bloß blamierte. Es war eine plötzliche und auch äußerst niederschmetternde Erkenntnis.
Einige Tage später kündigte Alice, und Nadine drückte sie an ihren eindrucksvollen Busen und weinte. Alice erinnerte sich vage daran, dass sie als Kind ebenfalls einmal auf diese Weise umarmt worden war, doch sie konnte nicht mehr sagen, wo und wann es geschehen war. Sie schloss ihr letztes Schuljahr mit mittelmäßigen Noten ab und ging nicht auf ihren Abschlussball, obwohl sie sich zuvor noch acht Meter ultramarinblaue Spitze für ein Kleid gekauft hatte.
Während eines Kurzbesuchs zu Hause fiel Alices Vater auf, dass seine Tochter irgendwie verschlossen wirkte. Er sprach mit ihrer Mutter darüber, die daraufhin eine Verabredung mit einem jungen Mann aus ihrer Kanzlei vereinbarte, der gerade zum Juniorpartner ernannt worden war. Daniel war zehn Jahre älter als Alice und ein cleverer Prozessanwalt, dem es allerdings noch immer anzumerken war, dass er in seiner Jugend gestottert hatte. Er hatte irritierend lange Wimpern und wäre vielleicht sogar auf gewisse Weise attraktiv gewesen, wenn seine Ohren nicht so außergewöhnlich groß gewesen wären.
Wenn er über meine roten Haare hinwegsehen kann, dachte Alice, dann werde ich mich auch an seine Ohren gewöhnen.
Alices Mutter war hocherfreut über ihre Beziehung, und Alice erkannte, dass Daniels Gunst ihr Ansehen nicht nur wiederhergestellt, sondern sogar noch gesteigert hatte. Sie sonnte sich in der ungewohnten Aufmerksamkeit ihrer Mutter und merkte erst jetzt, wie leer sie sich ohne sie gefühlt hatte, weshalb sie Daniel auch über die Maßen dankbar war. Als es schließlich Zeit wurde, sich für eine weiterführende Ausbildung zu entscheiden, war es Daniel, der Alice sanft davon abriet, in Mailand Design zu studieren und sich stattdessen an der Parsons School of Design in New York zu bewerben, sodass sie sich weiterhin jeden Tag sehen konnten. Leider war Alice so nervös, dass sie ihr Vorstellungsgespräch in den Sand setzte und keinen Platz bekam. Daniel war schon drauf und dran, das Institut zu verklagen, doch Alice wollte kein Aufhebens machen und schrieb sich eilig an einer kleinen Akademie für bildende Künste ganz in der Nähe ein, die sich auf 3D-Design und 3D-Druck spezialisiert hatte, was ihr später vielleicht einmal zugutekommen würde, wenn sie selbst Kleider entwarf und herstellte.
Und deshalb war Alice also an jenem Morgen, zwei Jahre später, aus ihrem warmen Bett in dem Loft gekrochen, das sie sich mit Daniel teilte, und stand nun mit einem flauen Gefühl im Magen in Professor Felix Stoklinskys Büro. Der alte Mann hob erneut den Blick von ihrer Arbeit, und dieses Mal schien es, als erwartete er eine Erklärung von ihr.
Sie hatte drei schuhkartongroße Modelle als Abschlussarbeit für den Bildhauerkurs im zweiten Studienjahr eingereicht, und wenn der Professor die Entwürfe absegnete, würden diese im dritten und letzten Jahr die Grundlage für drei sehr viel größere Bronzeskulpturen bilden.
Das erste Modell zeigte ein junges, eng umschlungenes Paar, und plötzlich wirkte es auf Alice wie ein Abklatsch von Rodins Kuss, der es auch tatsächlich war. Alice bemühte sich, ruhig zu bleiben, denn jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um in Panik zu geraten. Sie hatte diese Präsentation mit...
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