Schweitzer Fachinformationen
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Der Mann neben mir dreht sich noch einmal um. Er erkennt sich auf einem Bild, an dem er eben vorbeigegangen ist. Jetzt will er sich das Bild noch einmal genau anschauen. Es zeigt ihn, wie er eine Kettensäge in die Luft streckt. Darunter steht: «The Enemy of the State», der Feind des Staates. Der Mann ist Präsident des Staates Argentinien, er zögert kurz, dann ruft er laut: «Yes, I am the enemy of the state.» Alle um ihn herum kichern.
In dem Restaurant in Oberitalien dröhnt plötzlich Marschmusik aus den Lautsprechern. Nach ein paar Takten fängt die junge Frau, die mir gegenübersitzt, an zu summen, schließlich gibt sie sich einen Ruck und singt den Text mit, Strophe für Strophe. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Als ich sie frage, was das für ein Lied ist, antwortet sie, es sei ein uraltes Kampflied der Faschisten. Ist sie selber Faschistin? Sie wundert sich über meine Frage: «Ja, selbstverständlich.»
Joe ist per Video in die amerikanische Fernsehsendung meines Cousins geschaltet. Er und die anderen Gäste schäumen vor Wut, Donald Trump wurde gerade von einem New Yorker Gericht verurteilt. Joe sagt einen Zusammenbruch der amerikanischen Gesellschaft voraus: «Die nächsten fünf Jahre werden unvorstellbar sein.» Aber was soll's, brummt er, auf den Ruinen könne man später etwas Neues errichten.
Der Mann mit Strohhut hat sein ganzes Berufsleben lang als Arzt gearbeitet. Jetzt macht er in einer Plattenbausiedlung in Gera Wahlkampf für die AfD. Natürlich bekommt er mit, wie über seine Partei berichtet wird, die ganzen Negativschlagzeilen, die Nazi-Vergleiche. Er findet: «Die Leute können diese Propaganda nicht mehr hören. Die haben ja ihren eigenen Verstand.» Dann schränkt er ein: «Die Leute, die vor der Glotze hängen, werden natürlich vom Staatsfunk manipuliert.» Sobald seine Partei an der Macht sei, würde sie dem Staatsfunk ein Ende setzen.
Seit beinahe 40 Jahren beobachte ich politische Prozesse. Noch nie habe ich die Wut auf das herrschende System, die Sehnsucht nach Umsturz und ja, nach Zerstörung als so tiefgreifend und bedrohlich empfunden wie in den letzten Monaten. Was ist los in unserem Land? Was ist los in anderen Ländern?
Lange Zeit galt die Demokratie doch als stabil, als unzerbrechlich, als die durchsetzungsstärkste, flexibelste, kurzum: als die beste Staatsform der Geschichte. Doch so ist es nicht, zumindest nicht mehr. In immer mehr Gesellschaften wird die Demokratie in Frage gestellt, ihre Fundamente werden brüchig. Schrille Außenseiter und neue Formen der öffentlichen Kommunikation bedrohen das gewohnte politische Gefüge.
Die größte Gefahr lauert im Inneren, das zeigen auch der hasserfüllte Wahlkampf und der rauschhafte Sieg von Donald Trump. Was an die Stelle der Demokratie drängt, hat noch sehr unscharfe Konturen. Der alte Faschismus mit Stahlhelm und Springerstiefeln ist es wohl nicht. Aufmärsche auf Straßen gibt es nur selten, heute toben sich radikalisierte Bürger auf den Schlachtfeldern von TikTok, Telegram und X aus. Noch erleben wir eine Phase der Disruption, des Übergangs. Aber wohin, was soll nach dem Übergang folgen? Figuren, die noch vor wenigen Jahren kaum Chancen im politischen Betrieb gehabt hätten, erhalten plötzlich großen Zuspruch, weil sie versichern, alles andere zu sein, nur keine klassischen Politiker. Sie werden schnell beliebt, wenn sie in Talkshows oder sozialen Medien etablierte Politiker nur wüst genug beleidigen und ihnen jegliche Integrität absprechen. Die müssen wiederum feststellen, dass ihre Überzeugungskraft schwindet, dass ihnen die Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung abhandenkommt. Liegt es an ihrer veralteten Form der Kommunikation? Liegt es daran, dass der Vorwurf, «die da oben» seien allesamt korrupt, durch ständig neue Skandale Nahrung erhält? Liegt es daran, dass die Bürger den Versprechungen der Regierungen immer weniger glauben, weil sich an ihren Lebensverhältnissen eh nichts verbessert?
Parallel zu der Erschütterung des westlichen Politikmodells läuft in Argentinien gerade ein Experiment, das sich den bekannten Schemata entzieht und auf dessen Ausgang viele, auch in Deutschland, gespannt blicken: Der argentinische Präsident Javier Milei will den Staat nicht stärken, sondern so weit wie möglich zerstören und seine Aufgaben dem freien Markt überlassen. Sein Vorhaben setzt er mit brachialer Energie durch. Die Debatte über die Stärkung des Staates versus seine gezielte Schwächung wird unter anderen Vorzeichen ja auch hierzulande geführt, auch an diesem Grundsatzstreit ist die Ampelkoalition zerbrochen. In Argentinien kann man außerdem beobachten, was passiert, wenn Regierungen jahrelang an ihrer Bevölkerung vorbeiregieren, wenn das Vertrauen in Politik schwindet. Dann können Personen das Vakuum füllen, die die Demokratie am liebsten in Schutt und Asche legen wollen.
Noch unterscheiden sich die Anführer der neuen Bewegungen in Nord- und Südamerika von den Politikern, die in Deutschland an der Macht sind oder Chancen haben, in Regierungsverantwortung zu kommen. Aber die Versuchung, die von ihren Ansichten und Methoden auch hier ausgeht, wächst rapide. Um aus vielen Anhängern eine Gemeinschaft Gleichgesinnter zu formen, bieten die neuen Anführer schlichte Freund-Feind-Bilder an: wir gegen die. Mitglieder anderer Parteien behandeln sie nicht wie Konkurrenten, sondern wie Feinde, die ausgeschaltet werden müssen, mindestens politisch. Immer hetzen sie gegen Journalisten, gegen eine vermeintliche Verschwörung etablierter Politiker und Medien, gegen eine behauptete «Meinungsdiktatur». Oft machen sie Stimmung gegen Fremde, gegen Menschen aus anderen Ländern, mit anderer Hautfarbe und anderer Religion. Sie zerstören die Toleranz und somit den Wesenskern der Demokratie.
Nicht nur die Demagogen sind angsteinflößend, sondern auch die unzähligen Menschen, die ihnen Macht übertragen. Auch ihre Bereitschaft, sich zu unterwerfen, rüttelt am Fundament der Demokratie. Selbst wenn sich Donald Trump eines Tages aus der Politik zurückziehen sollte, wird seine Make-America-Great-Again-Bewegung (MAGA) wohl von anderen Demokratiefeinden fortgeführt und benutzt werden. Daher werde ich nicht nur auf die Anführer schauen, sondern in erster Linie auf ihre Anhänger. Ihre Argumentationsmuster ähneln sich frappierend, länder- und kulturübergreifend.
Für dieses Buch habe ich mich auf den Weg gemacht. Im Laufe eines Jahres bin ich an Orte gereist, an denen ich den politischen Gezeitenwechsel sehen und begreifen kann. Meistens habe ich einfache Bürger getroffen, fernab der politischen Zentren, es waren zahlreiche Zufallsbekanntschaften darunter. Die Reisen führten mich auch zu Mitgliedern meiner eigenen Familie und zu Freunden. Zu Menschen also, die mir nahestehen und denen ich mich seit langem verbunden fühle. Einige dieser Begegnungen waren ermutigend, andere sehr schmerzhaft. Diese Teile des Buches berühren meine eigene Geschichte, auch die meiner Mutter, ihrer Schwester und die meines amerikanischen Cousins. Von ihnen will ich hier erzählen, weil ihre Lebensläufe und Erfahrungen eine exemplarische Aussagekraft für den Zustand unserer Gesellschaften haben.
Bei vielen Menschen, denen ich in den letzten Monaten begegnet bin, habe ich mich über ihre politischen Ansichten gewundert, über ihren Zorn, nicht nur gegen Politiker, sondern auch gegen uns Journalisten. Dennoch haben wir miteinander gesprochen, oft haben wir gestritten. Fast immer hat es sich gelohnt.
Mit den Ländern und Orten, die ich besucht habe, verbinden mich persönliche Beziehungen. Vor vielen Jahren habe ich eine Weile in den USA gelebt, ein Teil meiner Verwandtschaft ist amerikanisch. Meine italienische Patentante lebt in Mailand, meine angeheirate Familie und auch viele Freunde leben in Argentinien. Und das angespannte Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen, das uns bis heute beschäftigt, kenne ich von Kindesbeinen an aus der eigenen deutsch-deutschen Familie.
Oft habe ich mich auf meinen Reisen gefragt, warum das Bedürfnis vieler Menschen nach einer gänzlich anderen, antidemokratischen Politik so groß ist. Es fällt mir auf, wie einfach dieses Bedürfnis ausgenutzt wird, wie leicht die Demokratie aus den Angeln gehoben werden kann. Auch fällt mir auf, wie anfällig Menschen aus der bürgerlichen Mitte inzwischen für extreme Ansichten sind. Je länger meine Reisen dauerten, desto klarer wurde mir,...
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