Schweitzer Fachinformationen
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s'Alqueria Blanca. Seniorenresidenz. Manuel Muñoz kurbelt das linke Seitenfenster herunter und lässt sich den warmen Fahrtwind um die Nase wehen. Die Melodie von 'Despacito' kommt ihm in den Sinn. Sofort beginnt er das Lied zu summen und schlägt mit der Hand rhythmisch auf das Lenkrad seines Lieferwagens. Er freut sich darauf, Antonia Ruiz Delgado wiederzusehen. Vor etwa einem halben Jahr war sie zum ersten Mal bei ihm zu Gast gewesen. Sie hatten sich angeregt unterhalten. Sein mallorquinisches Essen und die Atmosphäre im Restaurant gefielen ihr so gut, dass sie seitdem regelmäßig kommt. Eine interessante Persönlichkeit, findet Manuel. Sie hat es geschafft, sich in kürzester Zeit in unsere Herzen zu schleichen, in meins und in das von meiner Frau Christina. Selbst Héctor und Carlotta genießen es, sie zu verwöhnen. Und natürlich erzählt Antonia so einiges über ihr Leben. Wie ihre Mutter ist sie in Madrid geboren und aufgewachsen. Ihre Ehe blieb kinderlos und so hat sie ihre ganze Kraft in ihren Beruf gesteckt. Sie war Hochschulprofessorin für Literatur an der 'Universidad Autonoma de Madrid'. Kurz nach dem Tod ihres Mannes ist sie von Madrid nach Mallorca übergesiedelt. Nun lebt sie in der Seniorenresidenz in s'Alqueria Blanca, einem idyllischen Dorf im Südosten der Insel, nicht weit von Santanyí entfernt. Dort gibt es einige der schönsten Buchten der Insel und auch die Hafenstädtchen Portopedro, Portocolom und Porto Cristo sind schnell zu erreichen.
Vor zwei Wochen blieb sie eines Abends länger als gewohnt und wartete, bis alle anderen Gäste gegangen waren. Dann bat sie Manuel, ihr bei einem Digestif Gesellschaft zu leisten. Ruiz und Delgado sind gängige spanische Nachnamen, doch als sich Antonia als Tochter von Carla Morell, verwitwete Muñoz, vorstellte, horchte Manuel auf. Als sie dann lächelnd verkündete, sie sei die Cousine seines Vaters, hatte er sie nur angestarrt. Er hatte eine Großcousine! Bevor er fähig war, eine Frage zu stellen, erhob sie sich aus dem Korbstuhl, verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihm, tätschelte seine Wange und nahm ihm das Versprechen ab, sie bald zu besuchen. Es sei wichtig, schob sie nach, und schaute ihm dabei fest in die Augen. Manuel verspürte in diesem Moment eine große Zuneigung für sie, eine Art Seelenverwandtschaft. So etwas hatte er bisher noch nicht erlebt. Und das hatte nichts damit zu tun, dass Antonia Ruiz Delgado mit ihm verwandt ist. Heute löst er sein Versprechen ein und ist auf dem Weg zu ihr. Christina wäre gerne mitgekommen, doch Manuel erschien es besser, allein zu fahren. Er hat den Eindruck, dass Antonia mit ihm unter vier Augen sprechen möchte. Nur so ein Bauchgefühl, aber auf seine innere Stimme kann er sich meistens verlassen.
Die Landstraße Ma-19 führt Manuel geradewegs nach s'Alqueria Blanca, das knapp fünf Kilometer östlich von Santanyí liegt. Langsam steigt die Straße an: links kleine Häuser, gerade einmal zwei Stockwerke hoch, rechts nach einer Tankstelle das Es Clos, ein seit Jahren beliebtes Restaurant. Manuel sieht im Vorbeifahren den neuen Namenszug über dem Eingang: Jade by Es Clos. Erstaunt schüttelt er den Kopf. Da hat wohl der Besitzer gewechselt. Er hat zwar zu einigen Kollegen gute Kontakte, aber er ist nicht so vernetzt, dass er umfassend informiert ist über die sich ständig verändernde Gastrolandschaft auf Mallorca. Diejenigen, die Bescheid wissen, spielen in einer ganz anderen Liga.
Kaum hat er die Anhöhe geschafft, erblickt er schon die Dorfkirche Iglesia San Jose, hinter der sich der Marktplatz mit der Dorfbäckerei und der Tapas-Bar Sa Plaça befindet. Noch bevor er den Platz erreicht, biegt er scharf nach rechts ab in eine kleine, schmale Straße. Ein Schild gibt ihm Gewissheit, richtig zu sein: Sa Residència Restaurant-Bar. Er fährt weiter und gelangt nach kurzer Zeit auf eine breite, neu angelegte Straße, ohne Häuser oder Geschäfte, die von beiden Seiten mit stattlichen Palmen begrünt ist, dahinter erstrecken sich nach Südosten weite Felder. »Verrückt«, murmelt er. Auf einmal hat er das Gefühl, sich auf einem Boulevard zu befinden, der ins Nirgendwo führt. Nicht ganz, denn am Ende der Straße ist ein Parkplatz. Er hat sein Ziel erreicht: die Seniorenresidenz. Ein moderner, gepflegter Bau, verputzt in hellem Beige, mit großen Balkonen und einer über die ganze Front reichenden Terrasse. Er steigt aus, dreht sich um, blinzelt in die Sonne und schaut über die Felder bis nach Cala d'Or. Die weißen Häuser des Ferienortes bilden einen schönen Kontrast zu dem dahinter liegenden blauen Meer. Er genießt kurz den Anblick, dann steuert er die Treppe zur Terrasse der Seniorenresidenz an und nimmt zwei Stufen auf einmal. Schon von Weitem erkennt er Antonia, die unter einem Sonnenschirm an einem kleinen Tisch sitzt und ihm zuwinkt.
»Schön, dass du gekommen bist«, begrüßt sie ihn.
Manuel beugt sich zu ihr herab und nimmt sie in den Arm. Dann schaut er in ihr von vielen Falten durchzogenes freundliches Gesicht.
»Geht es dir nicht gut?«, fragt er, denn sie ist etwas abgemagert und wirkt nicht ganz so vital wie noch vor einigen Tagen.
»Ich bin schnell müde, und es stimmt, irgendwie fühle ich mich nicht wohl.« Sie deutet mit einer Handbewegung auf den Stuhl ihr gegenüber. »Lass uns erst einmal etwas essen, ich lade dich ein. Das Essen ist vorzüglich, wenn auch nicht für körperlich schwer arbeitende Menschen gedacht. Aber hier speisen eh nur Senioren, und viele kommen aus der näheren Umgebung, meist Residenten, die nicht jeden Tag kochen wollen.«
»Dann muss die Küche wirklich etwas zu bieten haben.«
»Das hat sie.« Antonia lächelt.
»Möchtest du nicht erst einmal erzählen? Es ist noch früh und essen können wir auch später.«
Sie bejaht und bestellt bei einer jungen Bedienung eine große Flasche Wasser mit zwei Gläsern.
Kaum hat sie ihren Wunsch geäußert, fragt Manuel auch schon: »Kannst du dir erklären, warum es dir so schlecht geht?«
»Keine Ahnung. Seit Wochen fühle ich mich immer schwächer. Mir ist oft übel und häufig habe ich Kopfschmerzen. Das kenne ich sonst gar nicht.«
»Warst du beim Arzt?«
»Ja, aber er sagt, das ist altersbedingt.«
»Was für ein Quatsch. Morgen gehst du sofort zu einem anderen Arzt. Kennst du einen guten hier in der Gegend?«
»Nein, aber sie haben mir an der Rezeption jemanden empfohlen.«
»Gut. Versprichst du es? Du suchst ihn sofort morgen auf.«
»Ja«, antwortet sie und beendet das Thema mit einer Handbewegung.
Manuel betrachtet Antonia. Er schätzt sie auf Anfang achtzig. Trotz ihres Alters sind ihre kurzen, dunklen Locken mit nur wenigen grauen Haaren durchzogen. Sie ist braun gebrannt, aber ihre Augen blicken müde und sie wirkt auf ihn irgendwie zerbrechlich.
»Ich bin dein Großcousin und ich darf mir Sorgen machen.«
»Ja, das darfst du.« Sie tätschelt seine Hand. »Ich hätte es dir früher sagen sollen«, seufzt sie.
»Du wirst deine Gründe haben.«
Sie schaut ihn an. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe Zeit.«
Sie lächelt erneut, dann blickt sie über die Felder. Nach einer Weile, sie ist immer noch in Gedanken versunken, fragt er: »Wen hat deine Mutter aus unserer Familie geheiratet?«
»Adrián Muñoz.«
Manuel ist erstaunt. »Adrián? Das ist der Bruder meines Großvaters Ramón, also mein Großonkel.«
Antonia nickt.
»Ich muss dir gestehen, ich weiß nicht sehr viel über unsere Familiengeschichte. Aber das kann sich ja jetzt ändern.« Er greift nach der Wasserflasche und schenkt die Gläser voll. Nachdem er einen Schluck getrunken hat, ergänzt er: »Vielleicht ist es an der Zeit, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Ich weiß nur, dass wir einmal wohlhabend gewesen sein müssen, aber dann gab es schwere Auseinandersetzungen innerhalb der Familie.«
»Hat dir dein Vater gesagt, warum?«, fragt Antonia neugierig.
»Nein, er hat nur angedeutet, dass es unterschiedliche politische Einstellungen gegeben hat. Das ist aber sehr lange her.«
Antonias dunkle Augen blitzen auf. »Der Bürgerkrieg hat deine Familie zerstört, viele Familien sind daran zerbrochen. Blanker Hass wurde geschürt. Brüder wurden zu erbitterten Feinden, Söhne kämpften gegen ihre Väter.«
Manuel ist irritiert. So wütend kennt er Antonia nicht. Sie bemerkt seine Reaktion und hält inne. »Entschuldige, ich habe dich unterbrochen.« Manuel räuspert sich.
»Ist schon gut. Weißt du, mein Vater hat selten über die Familie gesprochen. Das Thema war tabu. Mir war schon früh klar, dass ich keine weiteren Verwandten habe, obwohl es noch einige Cousins geben müsste.« Er macht eine kurze Pause. »Es war wohl so, dass der Zweig der Familie, der Franco unterstützte, sein Vermögen und seinen Einfluss behielt. Der andere, zu dem mein Urgroßvater gehörte, stellte sich im Bürgerkrieg gegen Franco und verlor alles. Mein Urgroßvater Álvaro wurde verhaftet, enteignet, aus dem Familienunternehmen ausgeschlossen, das es damals gab, und mit Arbeitsverbot belegt.«
»Wie hat er das überlebt?«, fragt Antonia.
»Er saß einige Jahre im Gefängnis, danach hat er sich durchgeschlagen. Doch ohne meine Urgroßmutter, die in einer Schuhfabrik arbeitete, hätten sie es wohl nicht geschafft.« Antonia zieht die Luft scharf ein. Mein Gott, denkt sie, als Arbeiterin schuftete sie in der Fabrik der eigenen Familie. »Das müssen sehr schwere Zeiten gewesen sein.«
»Ja, das glaube ich auch. Aber irgendwann...
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