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Manchmal habe ich einen Traum, nicht oft. In dem Traum bin ich in einem Haus, wo ich eine Tür entdecke, von deren Existenz ich nichts wusste. Dahinter liegt ein unverhoffter Garten, und einen schwerelosen Augenblick lang bewohne ich neues, unerschlossenes Territorium, reich an Potenzial. Mal gibt es Stufen, die zu einem Teich hinunterführen, mal eine Statue, umgeben von gefallenem Laub. Er ist nie ordentlich und aufgeräumt, sondern stets herrlich verwildert und weckt die Aussicht auf verborgene Schätze. Was hier wohl wächst, welch seltene Pfingstrosen, Schwertlilien und Rosen werde ich hier finden? Ich erwache mit dem Gefühl, dass ein steifes Gelenk sich gelockert hat und alles von neuem Leben durchdrungen ist.
Diesen Traum hatte ich, schon lange bevor ich einen eigenen Garten besaß. Ich bin erst spät zu einem Eigenheim gekommen und habe bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr zur Miete gelebt, und das nur selten in Wohnungen mit Außenraum. Der erste dieser Gärten auf Zeit befand sich in Brighton. Er war so schmal, dass ich mit ausgestreckten Armen beide Zäune gleichzeitig berühren konnte, und fiel von einer Hügelkuppe in drei steilen Terrassen zu einer Laube hinab, die von Wildem Wein umwuchert war, in dem eine goldäugige Kröte hauste.
Dort pflanzte ich Acker- und Gartenringelblumen, die John Gerard, einem Botaniker des 16. Jahrhunderts, zufolge »das Hertz ueber die Maaßen staercken und erquicken«.[1] Ich absolvierte damals eine Ausbildung zur Kräuterärztin und hatte den Kopf voller Pflanzen, ein undurchdringliches Geschlinge von Naturgewächsen. Das Studium der Botanik war eine Schule des Sehens. Es machte die gewöhnliche Welt komplizierter, en gros wie en détail, und verdreifachte die Leistung des Auges. Jede Pflanze war so sehr mit der Menschheitsgeschichte verflochten, dass ihr Studium einem Sturz durch einen Zeittunnel glich. »Die Acker=Ringelblume gleichet der gemeinen Garten=Ringelblume, ist aber im Ganzen kleiner; beim ersten Eintritte des Winters verwelket sie und lebet erst wieder auf, wenn der Same faellt.«[2]
In Cambridge, zehn Jahre später, pflanzte ich Salbei und Ginster und sanierte den stinkenden Teich, wo sich im Frühjahr Molche tummelten, die bisweilen an die Oberfläche schwammen und eine silbrige Luftblase ausstießen. Ich wohnte befristet, mit schwarzem Schimmel an den Wänden, doch die Gärten gaben mir ein Gefühl der Beständigkeit, oder vielleicht lernte ich durch sie, Frieden mit der Vergänglichkeit zu schließen. Neben ihrem schöpferischen Aspekt genoss ich die Selbstvergessenheit der Arbeit, das Versinken in einer Trance der Konzentration, die mit gewöhnlichem Denken ebenso wenig gemein hatte wie die Traumlogik mit der des Alltags. Die Zeit stand still oder, besser, riss mich mit sich fort. Mit Anfang, Mitte zwanzig hatte ich irgendwo eine Liste von Lebensregeln gelesen, die ich so beeindruckend fand, dass ich sie in mein kleines schwarzes Notizbuch schrieb, das randvoll war mit Aphorismen und Anleitungen zum Menschsein. Meine Lieblingsregel lautete: »Es lohnt sich immer, einen Garten anzulegen, und sei dein Aufenthalt auch noch so kurz.« Diese Gärten mochten nicht von Dauer sein, aber war es nicht besser, der Welt auf dem eigenen Weg, wie Johnny Appleseed, blühende Haine zu hinterlassen?
Jeder dieser Gärten half mir dabei, mich häuslich einzurichten, trotzdem sehnte ich mich nach einer dauerhaften Bleibe, insbesondere wenn mir wieder einmal die Wohnung gekündigt wurde, deren Verkauf mir umso deutlicher vor Augen führte, dass sie nicht mir gehörte. Seit meiner Kindheit hatte ich mir einen Garten gewünscht, weit mehr noch als ein Haus. Von Liebe einmal abgesehen war es das Einzige, wonach ich mich regelrecht verzehrte, und wie es das Schicksal wollte, zog das eine das andere nach sich, ein seltenes Glück, das ich immer noch nicht fassen kann. Mit über vierzig verliebte ich mich in einen Cambridge-Professor, den ich bald darauf auch heiratete, einen außerordentlich intelligenten, schüchternen und warmherzigen Mann. Ian war erheblich älter als ich und wohnte in einem mit Büchern vollgestopften Reihenhaus. Seine Frau war kurz zuvor gestorben, und bald nach meinem Einzug musste er sich zwei schweren Operationen unterziehen. Wir hatten uns angefreundet, weil wir ein Faible für das Gärtnern teilten, und wir trugen uns mit dem Gedanken, uns nach seiner Pensionierung ein Haus auf dem Land zu kaufen, mit der Möglichkeit, einen Garten anzulegen oder auch zu restaurieren. Da nicht abzusehen war, wie viel Zeit uns noch bleiben würde, lag es nahe, zumindest einen Teil dieser Zeit mit der Gestaltung eines Gartens zu verbringen.
Während wir noch suchten, mailte mir meine Tante das Foto eines Hauses, das bis unter die Dachrinne mit Rosen berankt war, die in weiten Schwüngen an der Hauswand emporkletterten, so dass ein Strauß Blumen an jedes Fenster klopfte. Die Haustür wurde flankiert von zwei kunstvoll beschnittenen Buchsbaumbüschen, die an überdimensionale Cupcakes gemahnten. Es sah genauso aus wie die wuchtigen, viereckigen Häuser mit Kamin, die ich als kleines Mädchen gemalt hatte, ein Inbild der Verwurzelung, nach der ich mich in all den Jahres des Zweifelns und der Ungewissheit so fürchterlich gesehnt hatte. Ich überflog die Beschreibung der Innenräume, bis ich zu dem Absatz mit der Überschrift »Außenanlagen« kam. »Die von dem renommierten Gärtner Mark Rumary von Notcutts gestalteten RHS-Gärten sind eine Besonderheit des Hauses.« Das klang vielversprechend! Zwar hatte ich von Mark Rumary noch nie gehört, aber den Namen Notcutts kannte ich: ein berühmtes Gartenbauunternehmen aus Suffolk, das bei der Chelsea Flower Show für seine kunstvollen Arrangements vielfach ausgezeichnet worden war.
Wir sahen uns das Haus im Januar 2020 an und fuhren auf dem Weg dorthin durch kleine Suffolk-Dörfer, fast bis hinauf zur Küste. Mit jeder Meile wurde das Land flacher und der Himmel heller. Wir waren etwas zu früh dran, so dass mir noch genügend Zeit blieb, in dem Café gegenüber pochierte Eier und Toast zu essen, den Blick fest auf die Uhr gerichtet. Man konnte den Garten von der Straße aus nicht sehen. Er versteckte sich vermutlich hinterm Haus. Ich sah ihn gleich, als die Eingangstür aufging. Der lange, schummrige Flur führte zu einer zweiten Glastür. Eine Welle von sattgrünem Licht brandete herein.
Die Bäume draußen waren kahl. Der Garten war ummauert, der weiche rote Suffolk-Ziegel mit allerlei Kletter- und Schlingpflanzen bewachsen: Blauregen, Clematis, Winterjasmin und Geißblatt, neben Knäueln und Girlanden von wildem Efeu. Alles war verwahrlost und verwildert, doch schon auf den ersten Blick entdeckte ich ungewöhnliche Pflanzen wie die Zaubernuss, deren leuchtend gelbe, an Zitronenzesten erinnernden Blütenblätter einen beißenden, hypnotisierenden Geruch verströmten, und die unverwechselbaren schwarzen Knospen einer Strauch-Pfingstrose. Am Ende des Gartens führte eine Tür in der Mauer in einen viktorianischen Wagenschuppen, der jetzt als provisorische Garage diente. Hinter der Tür stand eine klapprige Kiste mit einem eisernen Futtertrog darin, genau wie der in The Children of Green Knowe, wo Tolly Würfelzucker für das Geisterpferd Feste hineinlegt. Im Geräteschuppen zeigte mir der Besitzer Mark Rumarys von Spinnweben überzogene Gartenschürze, die nach wie vor an ihrem Haken hing.
Das Grundstück umfasste nur knapp tausendvierhundert Quadratmeter Fläche, aber es wirkte sehr viel größer, weil es auf äußerst raffinierte Art und Weise durch zwei Hecken - einmal Buche, einmal Eibe - unterteilt war, so dass man es nie in seiner Gänze überblicken konnte, sondern durch Bögen und Durchgänge in immer neue, geheimnisvolle Räume gelangte. In dem einen gab es ein erhöhtes Wasserbecken in Vierpassform, ein anderer schien völlig aufgegeben, mit verrottenden Obstbäumen, darunter eine Mispel, die ich nur aus Shakespeares Romeo und Julia kannte, wo die Mägde die Frucht open-arses - offene Ärsche - nennen. Dort hatte eine Hochzeit stattgefunden, erzählte der Besitzer, und der Boden war immer noch mit einer Plane bedeckt, hier und da durchbohrt von Brennnessel und Fingerhut. Jenseits der Gartenmauer umschloss eine sanft abfallende Parklandschaft ein zartrosa getünchtes georgianisches Herrenhaus, das durch die kahlen Zweige des Ahorns jedoch kaum zu sehen war. Auch in dieser Mauer gab es eine mit einem Vorhängeschloss gesicherte gewölbte Tür, von der die enteneierblaue Farbe blätterte. Ihr Vorhandensein nährte das Gerücht, dies sei einst das Witwenhaus gewesen, für mich hingegen war sie lediglich ein Echo der rätselhaften Tür aus meinem Gartentraum.
Die meisten Mauern waren mit Rosen bewachsen. Sie sahen aus, als seien sie seit Jahren nicht beschnitten worden, und ich musste natürlich sofort an die böse Mary Lennox aus Der geheime Garten denken, mit ihrer gallengelben Haut, die einen Garten wie diesen betritt und als eine ganz andere wieder herauskommt. Hätte ich von diesen Rosen mit dem Taschenmesser ein Stück Rinde abgekratzt, wären sie darunter mit Sicherheit grün und gesund gewesen. Gärten verstehen es meisterhaft, sich tot zu stellen, obwohl sie quicklebendig sind, und so war der Boden auch hier mit Schneeglöckchen bestickt, die durch eine Schicht faulender Blätter zum Tageslicht hinstrebten. Da erspähte ich in einer Ecke einen Seidelbast, den größten, den ich je gesehen hatte, dessen muschelrosa Büschel unstete Ströme süßen Dufts aussandten. Daphne mezereum war die erste...
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