Kapitel 1
Lukas stand an der Reling und beobachtete, wie die letzten Autos im Bauch der Fähre verschwanden. Er warf einen Blick auf die Uhr. Vor dreiundzwanzig Minuten hatte er zugesehen, wie eine nicht enden wollende Schlange Motorräder, PKW, LKW und erschreckend vieler Wohnmobile nach einem undurchsichtigen System über mehrere auf dem Pier eingezeichnete Spuren auf die Fähre gelotst wurden. Seine Hoffnungen auf eine pünktliche Abfahrt waren in weite Ferne gerückt. Jetzt sah es danach aus, als könnte die »Oscar Wilde« wie vorgesehen um 19 Uhr ablegen. Der Plan gab vor, dass er während des Auslaufens auf dem höchsten für Passagiere zugelassenen Deck ein Getränk zu sich nahm.
Mit der linken Hand tastete er in der Brusttasche seiner Funktionsjacke nach der rechteckigen Form der Schlüsselkarte für die Kabine. Gleichzeitig steckte er die rechte Hand in die Innentasche, bis seine Fingerspitzen das glatte Leder der Brieftasche streiften. Der letzte prüfende Griff galt der rechten Seitentasche, in der sich der Autoschlüssel befand. Alles an seinem Platz.
Vorsichtig stakste Lukas über den feuchtglänzenden Boden auf die nächste Treppe zu. Mit einer Hand immer am Geländer wagte er den Aufstieg. Vier junge Leute kamen ihm entgegen, polterten lachend die Stufen hinunter. Sie hielten Flaschen in den Händen. Nach einer weiteren Treppe erreichte Lukas das Deck, auf dem sich die Bar befand. Stehtische und Girlanden sollten Partystimmung verbreiten. Aus Lautsprecherboxen erklang Loungemusik. Die Passagiere standen in Gruppen beisammen an den Tischen oder lehnten an der Reling. An dem Kiosk, den Leuchtbuchstaben als »Mermaids Bar« auswiesen, hatte sich eine Schlange gebildet.
Lukas stellte sich an und tastete erneut nach Schlüsselkarte, Brieftasche und Autoschlüssel. Er versuchte, auf der Tafel hinter dem Verkaufstresen die Preise der Getränke zu entziffern. Viel zu teuer. Aber nun stand er schon in der Schlange und wollte außerdem nicht von seinem Plan abweichen. Wasser war am billigsten. Hannas Stimme klang ihm ins Ohr, als stünde sie neben ihm. Er sah ihr spöttisches Lächeln vor sich. »So willst du also den Urlaub beginnen? Mit Wasser? Alter langweiliger Geizkragen!«
Er zuckte zusammen, als die Frau hinter der Theke ihn etwas fragte. Auf Französisch. Unsicher zeigte er auf eine Flasche Bier. Wenig später stand er an einem der letzten freien Relingplätze und nippte an der Flasche. Kalt und bitter rann das Bier über seine Zunge. Er überlegte, ob er die Hafenausfahrt filmen sollte. Um die Kamera hervorzuholen, hätte er aber das Bier abstellen müssen, also verzichtete er darauf. Wie in Zeitlupe glitten Lagerhäuser und bunte Container an der Fähre vorbei. Möwen segelten reglos auf Deckhöhe, die Köpfe mit den gelben Augen immer in Bewegung, auf der Suche nach Essensresten. Salziger Wind zupfte an Lukas' Haar. Die Passagiere in seiner Nähe machten sich gegenseitig auf interessante Hafengebäude aufmerksam, vermutlich auf den kleinen Leuchtturm, jedenfalls schloss er das aus ihren ausgestreckten Zeigefingern und fröhlichem Geplapper. Verstehen konnte er kein Wort. Ihm war nicht klar gewesen, dass auf einer Fähre, die in Frankreich ablegte, die Mehrzahl der Passagiere aus Franzosen bestehen würde. Die fremdklingende Melodie ihrer Worte hüllte ihn in einen Kokon der Einsamkeit.
Hoffentlich konnte er wenigstens die Iren verstehen. Er hatte vor der Reise einen Volkshochschulkurs besucht, um sein Schulenglisch aufzufrischen, und dabei bemerkt, wie schlecht es war. Sprachen hatten ihn nie interessiert.
Die Fähre ließ das Hafenbecken hinter sich. Unter Lukas' Füßen hob und senkte sich der Boden. Höchste Zeit für eine Reisetablette. Der prüfende Griff zu Schlüsselkarte, Brieftasche und Autoschlüssel fiel positiv aus. Lukas leerte die Bierflasche mit wenigen großen Schlucken und stellte sie auf dem Weg zur Treppe auf einem der Stehtische ab. Langsam füllte das Deck sich mit Reisenden, die Gesichter gerötet von der Vorfreude auf den Urlaub. Die meisten von ihnen lächelten, prosteten sich zu, fotografierten sich gegenseitig. Lukas war froh, als er eine Tür fand und in das Innere der Fähre tauchen konnte.
Seine Freude hielt nicht lange an, da dort hektisches Treiben herrschte. Die Leute liefen wild durcheinander, schleppten Taschen und zerrten Rollenkoffer hinter sich her, den Blick auf kleine Karten in ihren Händen gerichtet. Worte flogen hin und her. Diesmal verstand Lukas, dass sie sich die Nummern ihrer Kabinen und die Buchstaben der Passagierdecks zuriefen, auf der Suche nach den Kojen, in denen sie die Nacht verbringen würden. Gleich nachdem er das Autodeck verlassen hatte, hatte Lukas mit dem Smartphone Fotos von den Lageplänen der Fähre gemacht, um sich im Gewirr der farbig markierten Decks und nummerierten schmalen Gänge zwischen den Kabinentüren nicht zu verirren. Ihm gelang es jedoch ohne diese Hilfe, zunächst das richtige Deck, C, rot, und dann den richtigen Gang zu finden.
Er drückte sich an die Wand, um ein schnaufendes Ehepaar mit einer Armada aus wuchtigen Rollkoffern und Plastiktüten mit Duty-Free-Aufdruck vorbeizulassen, bevor er zu der Tür seiner Kabine taumelte. Die Wände neigten sich schräg zur Seite. Unter Deck, ohne die Möglichkeit, den Horizont zu fixieren, schlingerte sein Magen bedrohlich in der Bauchhöhle. An die Wand gelehnt zog er hastig die Schlüsselkarte aus der Brusttasche und steckte sie in den Schlitz unter der Türklinke. Ein Piepen ertönte, eine winzige Lampe leuchtete rot auf. Lukas atmete tief durch und zog die Karte heraus, um sie ein weiteres Mal einzuführen, langsamer. Schweiß prickelte ihm auf der Stirn. Piep, Grün. Erleichtert drückte er die Klinke nach unten, schob die Tür auf und betrat das schwankende schmale Zimmer.
Er hatte den großen Rollkoffer im Auto gelassen und nur einen kleinen Rucksack mit allem, was er für eine Nacht benötigte, mit in die Kabine genommen. Innenkabine. Kein Fenster. Hanna hatte Lukas' Bedenken abgeschmettert. »Blödsinn, du wirst sowieso seekrank, ob mit oder ohne Bullauge. Für das Geld machen wir uns lieber einen schönen Abend im Schiffscasino.«
Zwei einander gegenüberliegende Pritschen waren von den Wänden heruntergeklappt worden. Lukas setzte sich auf die linke und zog den Reißverschluss des Rucksackdeckelfachs auf, um die Reisetabletten herauszunehmen. Eine Packung Papiertaschentücher, ein Lippenpflegestift mit Lichtschutzfaktor 50, ein Päckchen Kaugummi. Keine Tabletten. Lukas schluckte mehrmals, um die Übelkeit, die in seinem Hals hochschlich, zurückzudrängen. Das Bier hatte einen pelzigen Belag auf der Zunge hinterlassen. Die Tabletten mussten da sein. Oder lagen sie noch im Auto? Durfte man das Autodeck nach Ablegen der Fähre noch betreten?
Lukas' Gedanken überschlugen sich. Er zwang sich, tief durchzuatmen. Mit zitternden Fingern zog er den Reißverschluss der langgezogenen Seitentasche des Rucksacks auf. Als seine Fingerspitzen die vertraute kantige Form der Tablettenschachtel ertasteten, stieß er die Luft aus. Nach der Erleichterung kam der Ärger. So etwas durfte nicht passieren. Er musste besser aufpassen, sich konzentrieren. Mit einem Schluck Wasser aus der Flasche, die er aus der anderen, offenen Seitentasche zog, spülte er eine Tablette hinunter. Den Beipackzettel hatte er bereits zu Hause studiert. Trotzdem nicht sicher, ob er vorsichtshalber zwei nehmen sollte, steckte er einen Blister in die Innentasche der Jacke, zu der Brieftasche, die noch da war. Die Packung mit den restlichen Tabletten schob er in die Deckeltasche des Rucksacks. Die Deckeltasche. Das war der Platz für die Reisetabletten, damit er sie stets griffbereit hatte.
Laut Einnahmehinweis empfahl es sich, das Medikament nicht auf nüchternen Magen zu nehmen. Damit war kein Bier gemeint, sondern feste Nahrung. In dem Hauptfach des Rucksacks befanden sich zwei Brötchen. Lukas wollte eigentlich eines zum Abendbrot und das andere zum Frühstück essen, doch jetzt bereitete ihm der Gedanke an den mittlerweile sicher gummiartigen Teig Übelkeit. Sein Magen verlangte nach etwas anderem, am besten etwas sehr Salzigem oder Saurem. Und er musste raus aus der Kabine, die ihm stickig wie ein Sarg vorkam. Er brauchte frische Luft und den Horizont. Möglichst bevor er sich übergeben musste.
Fahrig griff er nach dem laminierten Infoblatt, das auf dem schmalen Bord zwischen den Pritschen lag. Vier Restaurants standen zur Auswahl. In einem hätte man ein Büfett vorbestellen müssen. Hanna war dagegen gewesen. »Das ist viel zu teuer. Wir können genauso gut in dem Selbstbedienungsrestaurant essen.«
Das hatte den originellen Namen Jack Sparrow. Lukas merkte sich das Deck, auf dem es sich befand, und prägte sich mit Hilfe des Lageplans auf der Rückseite des Blattes den Weg ein. Um während des Essens nicht die mitleidigen Blicke der Leute ertragen zu müssen, die ihn bedauerten, weil er allein war, nahm er sich etwas zu tun mit: die Reiseunterlagen. Die grüne Mappe, grün für Irland, befand sich an ihrem Platz, dem Hauptfach des Rucksacks. Vorsichtig zog Lukas sie heraus.
Kaum aufgestanden, spürte er das Schlingern und Rollen der Fähre wesentlich deutlicher. Die Tablette schien zu wirken, diesmal blieb der Brechreiz aus. Lukas tastete sich breitbeinig an der Wand entlang zur Tür und zog die Schlüsselkarte aus dem dafür vorgesehenen Fach. Sorgfältig verstaute er sie in der Brusttasche. Brieftasche und Autoschlüssel waren an ihrem Platz. Bevor Lukas die Tür hinter sich zuzog, fühlte er nach, ob die Schlüsselkarte tatsächlich in der Tasche steckte und nicht etwa versehentlich danebengefallen war. Sie steckte.
Während Lukas durch den Gang schwankte, und...