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ZWEI
Meist war Micaela früh bei der Arbeit. Doch an diesem Morgen, vier Tage bevor sie zu der großen Villa rausfuhren, saß sie noch in der Küche und frühstückte, obwohl es schon nach neun war. Das Telefon klingelte. Es war Jonas Beijer.
»Wir sollen alle zum Chef kommen«, sagte er.
Sie erfuhr nicht, warum. Das versprach spannend zu werden, und sie ging zum Spiegel im Flur und zupfte an ihrem viel zu großen Collegepullover. Du siehst aus, als wolltest du dich verstecken, hätte ihr Bruder Lucas gesagt. Aber sie fand, dass der Pulli gut passte, bürstete sich die Haare, kämmte den Pony so, dass er fast ihre Augen verdeckte, und machte sich auf den Weg zur U-Bahn.
Es war der 19. Juli 2003, und Micaela war gerade sechsundzwanzig geworden. In der Bahn saßen nur wenig Leute. Sie fand ein leer stehendes Viererabteil und versank in Gedanken.
Dass der Fall die Polizeiführung interessierte, war nicht verwunderlich. Der Mord selbst mochte eine Wahnsinnstat gewesen sein, ein Verbrechen im Suff. Aber es gab andere Aspekte, die der Ermittlung Bedeutung verliehen. Der Tote, Jamal Kabir, war Fußballschiedsrichter gewesen und ein Flüchtling aus dem Afghanistan der Taliban. Nach einem Jugendturnier im Grimsta IP, dem Heimatstadion des berühmten Vereins Brommapojkarna, war er brutal mit einem Stein erschlagen worden. Selbstverständlich wollte Falkegren da auch mit im Spiel sein.
Micaela stieg in Solna Centrum aus und ging weiter zum Polizeirevier am Sundbybergsvägen. Sie nahm sich vor, dass sie sich heute endlich zu Wort melden und erklären wollte, was ihrer Meinung nach in der Ermittlung falsch lief.
Martin Falkegren war der jüngste Polizeichef des Landes, und er wollte unbedingt mit der Zeit Schritt halten. Er wusste, dass man ihm nachsagte, er würde ordentlich Wind um seine Ideen machen, und dass das nicht immer als Kompliment gemeint war. Er jedenfalls war stolz auf seine Offenheit und besonders auf diesen neuen Ansatz, den er jetzt ausprobieren wollte. Vielleicht würden die Kollegen ungehalten reagieren. Aber wie er schon zu seiner Frau gesagt hatte, dieser Vortrag war der beste gewesen, den er je gehört hatte, und das Ganze definitiv einen Versuch wert.
Falkegren stellte ein paar zusätzliche Stühle auf, verteilte Mineralwasserflaschen und zwei Schalen mit Lakritz, das seine Sekretärin auf der Finnlandfähre gekauft hatte, und horchte auf Schritte im Flur. Noch schien niemand hier zu sein. Für einen Moment sah er Carl Fransson vor sich, seine gewaltige Körpermasse und den kritischen Blick. Eigentlich, dachte er, konnte er Fransson keinen Vorwurf machen. Kein Ermittlungsleiter mochte es, wenn sich die Polizeiführung in seine Arbeit einmischte.
Aber in diesem Fall waren die Umstände schließlich speziell. Der Täter, ein völlig verrückter und narzisstischer Italiener, manipulierte sie nach Strich und Faden. Das war einfach nur peinlich.
»Entschuldigung, bin ich die Erste?«
Das war die junge Chilenin. Falkegren hatte ihren Namen vergessen und erinnerte sich nur, dass Fransson sie aus der Ermittlung raushaben wollte, weil sie irgendwie widerspenstig war.
»Willkommen. Ich glaube, wir haben uns noch nicht begrüßt«, sagte er und streckte die Hand aus.
Sie hatte einen festen Griff, und er musterte sie ausgiebig von oben bis unten: ziemlich klein und untersetzt, dickes lockiges Haar und ein langer, über die Stirn gekämmter Pony. Der Blick aus ihren großen und ein wenig schräg stehenden schwarzen Augen war intensiv. Es war etwas an ihr, das ihn zugleich anzog und auf Abstand hielt, und er hatte das Bedürfnis, den Körperkontakt noch länger aufrechtzuerhalten. Doch plötzlich überkam ihn Verlegenheit, und er zog seine Hand zurück und murmelte:
»Sie kennen Costa, habe ich gehört?«
»Allerdings, ich kenne ihn«, antwortete sie. »Wir stammen beide aus Husby.«
»Wie würden Sie ihn beschreiben?«
»Er ist ein ziemlicher Showman. Hat immer im Hinterhof unseres Hauses für uns gesungen. Aber wenn er getrunken hat, kann er richtig aggressiv werden.«
»Ja, das hat man ja nun gesehen. Aber warum lügt er uns direkt ins Gesicht?«
»Ich bin nicht sicher, ob er lügt«, erwiderte sie, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Die Möglichkeit, dass sie den Falschen festgenommen hatten, existierte in seiner Vorstellungswelt nicht. Die Indizien belasteten Costa schwer, und die Anklage war bereits in Vorbereitung. Das Einzige, was noch fehlte, war ein Geständnis, und genau darüber wollte Falkegren heute mit dem Team sprechen. Er streckte sich, als er die anderen auf dem Flur hörte, wandte sich um und gratulierte ihnen allen, als sie hereinkamen.
»Gute Arbeit. Ich bin stolz auf euch, Männer«, sagte er, und obgleich das im Hinblick auf die Anwesenheit der Chilenin keine geglückte Formulierung war, korrigierte er sich nicht.
Er bemühte sich, einen kollegialen Ton anzuschlagen, doch auch das klappte nicht richtig.
»Was für eine sinnlose Geschichte. Und alles nur, weil der Schiedsrichter keinen Elfmeter gegeben hat«, rutschte es ihm heraus.
Die Bemerkung traf die Sache nicht sonderlich gut, aber immerhin half sie, das Gespräch in Gang zu bringen. Fransson ergriff natürlich sofort die Gelegenheit, ihn darüber zu belehren, dass es weit komplizierter sei. Es gäbe ein klares Motiv, sagte er, vielleicht keines für Leute wie sie, aber doch für einen alkoholisierten Fußballvater, der für die Erfolge seines Sohnes auf dem Platz lebt.
»Ja, ja, natürlich«, beeilte sich Falkegren zu sagen. »Aber mein Gott, trotzdem . Ich habe das Video gesehen. Costa war total durchgeknallt, während der Schiedsrichter . Wie heißt er doch gleich?«
»Jamal Kabir.«
». während Jamal Kabir vollkommen ruhig war. Das nenne ich Haltung.«
»Das wurde so auch von Zeugen ausgesagt.«
»Und wie er mit den Händen wedelt. Elegant, oder? Als würde er das ganze Spiel dirigieren.«
»Stimmt, das ist schon speziell«, gab Fransson zu, worauf Martin Falkegren den Blick von ihm abwandte und beschloss, wieder das Heft in die Hand zu nehmen.
Er wollte hier ja schließlich keinen Small Talk machen.
Micaela rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. Die Stimmung war nicht besonders gut, obwohl Falkegren sein Bestes tat, um Teil des Teams zu werden. Aber das war schon von Anfang an ein hoffnungsloses Projekt gewesen. Er war einfach anders als die anderen, lächelte die ganze Zeit und trug einen glänzenden Anzug, dazu schwarze Loafers mit Troddeln.
»Carl, wie sieht es denn ansonsten mit der Beweislage aus? Gerade eben sprach ich ganz kurz mit .«, sagte er und sah Micaela an.
Er schien sich nicht an ihren Namen zu erinnern oder dachte an etwas anderes, da er den Satz in der Luft hängen ließ. An der Stelle grätschte Fransson rein und fasste die Situation zusammen, und wie immer, wenn er redete, klang es überzeugend. Es war, als würde nur noch das abschließende Gerichtsurteil fehlen, und vielleicht war das auch der Grund, dass der Polizeichef nicht wirklich zuhörte und nur bestätigend murmelte.
»Genau, genau, und die in der P7 gemachten Beobachtungen schwächen die Beweislage ja in keiner Weise ab.«
»Das ist wohl korrekt«, erwiderte Fransson, und da sah Micaela vom Notizblock auf.
P7, dachte sie, diese verdammte P7. Vor ungefähr zehn Tagen hatte sie die in die Hände bekommen und nicht wirklich verstanden, was das eigentlich war. Inzwischen wusste sie, dass es sich um die vorläufige psychologische Einschätzung handelte, die der ausführlichen Untersuchung voranging, und sie hatte sie mit einer gewissen Erwartungshaltung gelesen und war ziemlich enttäuscht gewesen. »Antisoziale Persönlichkeitsstörung« stand am Ende. Oder »aller Voraussicht nach eine antisoziale Persönlichkeitsstörung«. Costa war, mit anderen Worten, eine Art Psychopath. Das glaubte sie nicht.
»Exakt«, stimmte der Polizeichef mit einer neuen Erregung in der Stimme ein. »Da haben wir den Schlüssel zu seiner Persönlichkeit.«
»Ja, vielleicht«, antwortete Fransson.
»Und nun kommt es darauf an, ihn zu einem Geständnis zu bringen.«
»Natürlich, so ist es.«
»Und ihr wart schon nah dran, oder?«
»Ja, immer mal wieder.«
»Ich selbst spiele ja auch eine gewisse Rolle in diesem Drama, wie ihr wisst«, fuhr Falkegren fort, und für einen Moment taten alle so, als würden sie nicht verstehen, obwohl sie in Wirklichkeit natürlich sehr genau wussten, wovon er sprach.
»Ich hatte euch gebeten, eine neue Verhörtechnik auszuprobieren.«
»Ja, genau, das war ein kluger Rat«, murmelte Fransson, darauf bedacht, dankbar aber nicht allzu beeindruckt zu klingen.
Nach der P7, der vorläufigen psychologischen Untersuchung, hatte Falkegren vorgeschlagen, Giuseppe Costa nicht weiter unter Druck zu setzen, sondern sich stattdessen seine Meinung anzuhören, ihn den psychologischen Experten spielen zu lassen. Das war sehr ungewöhnlich, aber Falkegren beharrte darauf.
»Sein Selbstbild ist grandios, und er fühlt sich uns überlegen. Außerdem glaubt er, alles über Fußball zu wissen.«
Am Ende beschlossen sie, dass ein Versuch nicht schaden könnte. Und an einem Tag, als Giuseppe besonders großkotzig drauf war, probierte Fransson die neue Taktik aus.
»Sie mit Ihrem großen Erfahrungsschatz können uns doch sicher sagen, wie ein Mensch, der etwas so Sinnloses tut, wie einen Schiedsrichter zu erschlagen, eigentlich denkt«, eröffnete er das Gespräch. Und...
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