Schweitzer Fachinformationen
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Commissaire Geneviève Morel erwachte an diesem Morgen im späten April mit einem ganz miesen Gefühl. Dabei bestand kein Grund dazu. Es war 6 Uhr, die Dämmerung stieg bereits langsam herauf, und es versprach ein sonniger Frühlingstag in Paris zu werden. Ihr innerer Wecker hatte perfekt funktioniert. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, sich eine innere Uhr anzuerziehen, die mindestens ebenso verlässlich war wie die Smartwatch, die auf dem Nachtkästchen neben ihr lag.
Geneviève streckte sich und blickte durch das Mansardenfenster über ihrem Bett. Der Ausblick erhellte ihr Gesicht mit einem seligen Lächeln. Die Kuppeln der Basilika Sacré-Coeur ragten zum Greifen nahe vor ihr auf. Ihr Weiß so hell, dass sie auch in tiefster Nacht nicht zu übersehen waren. Wenn frühmorgens die ersten Sonnenstrahlen auf den weißen Stein der Basilika fielen, schien das Gotteshaus von innen zu leuchten. Der Stein selbst schien wie ein Geschenk Gottes. Sacré-Coeur war aus Château-Landon-Steinen erbaut worden. Diese Steine gaben bei jedem Regen Calcit ab und sorgten so dafür, dass sich die Basilika ständig selbst einen neuen, strahlend weißen Anstrich gab.
Ihre Gedanken wurden von Merlot rücksichtslos gestört. Sie hatte den fünfjährigen Maine-Coon-Kater als ausgesetztes Babykätzchen aus einem Tierheim in Paris gerettet. Am gleichen Tag, an dem sie selbst in Paris angekommen war und die Dachgeschosswohnung in einem Haus an der Ecke Rue Maurice Utrillo und Rue Paul Albert unterhalb von Sacré-Coeur bezogen hatte. Geneviève hatte sich damals nicht lange mit der Wohnungssuche aufhalten müssen. Das Haus stand im Besitz ihrer Familie, das Stockwerk unterhalb der Dachgeschosswohnung wurde von Genevièves Mamie, Olivia Morel, bewohnt. Die anderen Stockwerke waren - teuer - vermietet. Der Rest der Familie - Mutter, Vater und ihr jüngerer Bruder Frédéric samt Frau und Kindern - bevorzugte es, dem Savoir-vivre an der Côte d'Azur zu frönen. Geldsorgen gab es in ihrer Familie nicht. Alter Geldadel und eine der größten Kunstsammlungen Frankreichs machten solche Sorgen überflüssig. Es war jedoch nicht Genevièves Welt. Dafür unterschied sie sich zu sehr vom Rest der Familie. Sie schüttelte mit einem schwachen Lächeln den Kopf. Nein, darüber wollte sie wirklich nicht nachdenken. Warum auch, wenn sich ihr Kater gerade mit lautem Schnurren bei ihr einschleimte? Seinen Kopf an ihrem nackten Unterarm rieb und sich fest an sie lehnte.
»Au!«, rief sie schließlich leise tadelnd. Merlot hatte sie zärtlich und doch fordernd in den Daumen gebissen. Natürlich war seine Schmeichelei nicht reine Zuneigung. Der Kater hatte einfach Hunger.
Geneviève rollte sich aus dem Bett. Aus ihrem Schlafzimmer gelangte sie in ein großes Wohnzimmer, das einen Großteil des Dachgeschosses einnahm. Merlot war vorgetrabt und wartete an der Küchenzeile darauf, dass Frauchen endlich die Futterlade öffnete. Geneviève schüttelte ihre schulterlangen schwarzen Haare und kam der mit einem lauten Maunzen vorgetragenen Bitte nach. Sie quetschte das Katzenfutter aus dem Plastiksäckchen, leise vor sich hin fluchend, weil es gar so mühevoll war, auch die letzten Stückchen aus der Verpackung zu streifen. Merlot waren die Mühen seiner Ernährerin völlig egal. Der riesige weinrote Kater saß geduldig wartend neben Genevièves nackten Füßen. Lediglich das Hin- und Herwedeln seines buschigen Schweifs verriet die Aufregung des Tiers. Als Geneviève sich schließlich hinunterbeugte, um die Futterschüssel auf den Boden zu stellen, war es mit der Aufgeräumtheit vorbei. Als hätte der Kater seit Tagen nichts zu fressen bekommen, stürzte er sich auf sein Futter.
Geneviève streichelte Merlot einmal von Kopf bis zum Schwanz, was das Tier völlig kaltließ, und ging ins Bad. Die ausgiebige Morgenwäsche musste warten. Heute früh wollte sie ein wenig laufen gehen. So, wie sie es vier bis fünf Mal die Woche machte. Am Weg retour würde sie Baguette und Croissants für sich und Mamie mitnehmen, um mit der Großmutter kurz zu frühstücken, bevor sie ihren Dienst am Kommissariat antrat. Ein Morgenritual, das mehrmals die Woche am Programm stand.
Das miese Gefühl hatte sie die ganze Zeit über nicht verlassen, war wie ein Jucken in ihrem Rücken gesessen, das man nicht und nicht erreichen konnte. Sie checkte ihr Handy - keine Nachricht vom Kommissariat des 18. Arrondissements. E-Mail ebenfalls Fehlanzeige. Kein Alarm. Aber die Vorahnung ließ sie nicht los.
Sie streifte ihre Smartwatch über und schlüpfte in ihre Laufklamotten. Geneviève zog ihr Fitnessprogramm zwar auch im Winter durch, aber jetzt im Frühling machte es mehr Spaß und kostete deutlich weniger Überwindung. Statt zwei oder drei Schichten Kleidung konnte sie jetzt in Shorts und T-Shirt ihre Runde durch ihr Arrondissement ziehen.
Geneviève zog die Eingangstür hinter sich zu und nahm die Treppen. Ein Stockwerk tiefer öffnete sie die Tür zur Wohnung der Großmutter. Vielleicht hatte das miese Gefühl ja etwas mit ihr zu tun?
Auf Zehenspitzen schlich sie in das Appartement, das den kompletten vierten Stock des Hauses einnahm. Alter Geldadel eben.
In der Wohnung der Großmutter war es mucksmäuschenstill. Aramis, der Cocker Spaniel von Mamie, blickte aus seinem Hundekörbchen im Vorzimmergang der Wohnung kurz auf und setzte seinen Schlaf fort, nachdem er Geneviève erkannt hatte. Als Wachhund taugte der alte Spaniel nicht, stellte Geneviève fest. Was sie jedoch nicht abhielt, sich zu ihm zu beugen und ihm sanft über den Kopf zu streicheln. Immerhin waren seine Manieren besser als jene von Merlot. Bevor Mamie nicht aufstand, würde er auch nicht um Futter betteln. Andererseits war es genau diese Eigenwilligkeit, die Geneviève an ihrem Kater - und grundsätzlich allen Katzen - so schätzte. Es entsprach mehr ihrem eigenen Charakter als die kopflose Hörigkeit von Hunden.
Geneviève stahl sich auf Zehenspitzen über den mit teuren Perserteppichen ausgelegten Parkettboden. Das Schlafzimmer lag am anderen Ende der Wohnung, im Gegensatz zu ihrem eigenen nicht mit Blick auf die prachtvolle Kirche weiter oben am Hügel, sondern hofseitig, sodass Mamie garantiert morgens ihre Ruhe hatte. Die Tür zum Schlafzimmer war einen Spalt offen. Vorsichtig stieß sie die Tür weiter auf. Es war stockfinster, die Jalousien waren runtergelassen. Sie steckte ihren Kopf durch den schmalen Spalt und hörte das leise Schnarchen der Großmutter. Sie war mit einigen anderen feinen Damen der Pariser Gesellschaft am Vorabend unterwegs gewesen und hatte sich einen kleinen Damenspitz zugelegt. Vorzugsweise mit dem einen oder anderen Glas Kir, so wie Geneviève sie kannte.
Leise zog sie die Schlafzimmertür hinter sich zu und schlich sich aus der Wohnung. Mit Mamie war alles in Ordnung. Aber noch immer war dieses nagende Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Vom unguten Gefühl getrieben lief sie die restlichen Stockwerke hinunter und hinaus ins Freie. Links vom Eingangstor war ein Bistro, zur Rechten ein schmaler Vorgarten. Ein zwei Meter hoher schwarzer Eisenzaun hielt Eindringlinge davon ab, das Grundstück zu betreten.
Geneviève stand nun am Rand eines kleinen namenlosen Platzes, in dessen Mitte in einem Halbkreis gleich vier schmale Gassen zusammenstießen. Geneviève nahm keine davon. Stattdessen wandte sie sich rechts und nahm die Rue Maurice Utrillo - eine gewagte Bezeichnung für eine etwa drei Meter breite und 65 Meter lange Steinstiege, die bis hinauf zum Fuß des Sacré-Coeur reichte.
Kaum jemand war um diese Zeit auf den Straßen von Montmartre unterwegs. Geneviève hatte die Gegend ganz für sich allein. So wie es ihr am liebsten war. Die frische, klare Luft belebte sie, machte sie sogar ein klein wenig übermütig. Jeweils zwei Treppen auf einmal nehmend, lief sie die Stiegen den Hügel hinauf. Die Treppe war in der Mitte durch ein schmiedeeisernes Geländer geteilt und von hohen Eisenzäunen links und rechts abgegrenzt. Auf der rechten Seite reihte sich ein wunderschönes altes Haus an das nächste. Auf der linken Seite säumten Bäume die steil ansteigende Treppe, dahinter erstreckte sich gleich der weitläufige Park, der in abfallenden Etagen von der Basilika bis hinunter zur Place Saint Pierre reichte und den südöstlichen Teil von La Butte dominierte.
Oben angekommen machte Geneviève für einen Moment Halt. Die Stufen im Sprinttempo zu nehmen hatte den Puls selbst für eine durchtrainierte Frau wie die Kommissarin in ungesunde Höhen getrieben. Aber das miese Gefühl war ein wenig in den Hintergrund getreten. Ihr Herz war damit beschäftigt, Blut durch den Körper zu pumpen. Sie schmunzelte und setzte ihre Runde in gemäßigterem Tempo fort. Nur vereinzelt traf sie auf Passanten. Hier ein Zeitungsausträger, da ein Bäcker, der für eine Zigarette vor seine Boulangerie getreten war, eine Handvoll anderer Läufer. Man nickte sich freundlich zu und hing sonst seinen eigenen Gedanken nach. Geneviève ließ ihre Gedanken schweifen. Sollte sie für Mamies Frühstück Baguette besorgen? Ein Pain au Chocolat? Ein Pain au Raisin? Oder gleich alles davon?
Genevièves Weg führte sie vorbei an Sacré-Coeur, die nördliche Seite des Hügels hinunter bis zum Boulevard Ornano, über die Rue de...
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