Schweitzer Fachinformationen
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1950
Sie war klein, die Kleinste von allen. Niemand wollte glauben, dass sie schon sieben Jahre alt war. Aber was half es? War man sieben, durfte man nicht mehr zu Hause wohnen.
Else-Maj saß im Klassenzimmer in der zweiten Reihe neben einem Mädchen, das Biret hieß. Sie waren gleich alt, doch Else-Maj reichte ihr nur bis zur Schulter. Hätte sie zu Hause am Küchentisch oder im Dorf auf dem Melkschemel gesessen, hätte sie mit den Beinen gebaumelt. Auch hier reichten ihre Füße nicht auf den Boden; sie ließ sie aber nur baumeln, wenn sie fröhlich war. Hier war der Körper wie im Winter gefroren.
Vor zwei Wochen hatte man sie ihrer Familie weggenommen, sie gezwungen, in einen Bus einzusteigen, der von ihrem Heimatdorf Badje Sohppar ins fünfzehn Kilometer entfernte Láttevárri fuhr. Als sie das Internat betrat, hatten sich die Betreuerinnen in einer Reihe aufgestellt und die Kinder angelächelt, in deren Gesichtern die Tränen Spuren hinterlassen hatten. Vor allen stand die Heimleiterin Rita Olsson, die sie Hausmutter nennen sollten. Sie lächelte nicht.
Else-Maj konnte kein Schwedisch und verstand nicht, was sie sagten. Ihre älteren Brüder hatten ihr vor der Abfahrt erzählt, dass sie kein Samisch mehr sprechen durfte. Sie warnten sie vor Hausmutter. »Mach sie nicht wütend, weil es dann knallt.« Sie biss sich jeden Tag auf die Unterlippe, um sich ständig daran zu erinnern, nichts in ihrer eigenen Sprache zu sagen.
Nach der Begrüßung in der Nomadenschule an diesem ersten Tag hatten die Betreuerinnen den Kindern ihre Schlafsäle gezeigt; und Else-Maj schleppte als Letzte ihre Tasche nach oben, die auf jeder Treppenstufe aufschlug. Die Schlafsäle für die Mädchen lagen in der ersten Etage; auf der Hälfte der ersten Treppe ruhte sie sich aus, und außer ihr war niemand mehr übrig. Die anderen hatten ihre Zimmer schon erreicht und wussten anscheinend, wie alles gemacht werden sollte. Else-Maj begriff nichts. Sie guckte zur Haustür, und ihr Blick verschwamm vor Tränen, als sie daran dachte, dass sie eingesperrt war. Eine Betreuerin kam zurück, und sie wischte sich schnell eine Träne weg.
»Komm jetzt, meine Kleine«, sagte die junge Frau auf Schwedisch und griff nach der Tasche, um ihr zu helfen.
Else-Maj blieb stehen, fragte sich, was sie gesagt hatte, und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Als ihre Unterlippe zu zittern begann, beugte sich die Betreuerin schnell zu ihr und flüsterte ihr auf Samisch zu: »Du kannst mit mir reden, wenn du etwas nicht verstehst. Aber denk dran, nicht, wenn Hausmutter in der Nähe ist.«
Die Betreuerin hieß Anna und kam aus Adevuopmi. Sie war mollig und weich, hatte Sommersprossen und schiefe Zähne mit einem unübersehbaren Überbiss, den sie oft versteckte, indem sie mit geschlossenem Mund lächelte.
Als Else-Maj jetzt im Klassenzimmer des Schulgebäudes saß, behielt sie das Internat im Auge und vermisste Anna. Der Unterricht war schwierig, sie kam nicht mit und träumte sich fort. In der Schule war es trotzdem sicherer, weil Hausmutter nicht dort war. Der Magister hieß Bertil, durfte aber nie mit Namen angesprochen werden. Auch er war streng, aber niemand war wie Hausmutter.
Else-Maj hatte gesehen, dass sie die Rute geholt und ein Kind mit sich gezerrt hatte. Sie hatte die Schreie gehört. Die Spiele im Gemeinschaftsraum kamen zum Stillstand, und die Kinder dort starrten zu Boden. Alle außer Else-Maj, die Anna in der Diele entdeckte. Sie stand auf, weil sie in ihre Arme laufen wollte, doch Anna schüttelte wie wild den Kopf und verschwand außer Sichtweite.
Sie wollte fragen, was der Junge, der die Rute bekommen hatte, falsch gemacht hatte, damit sie nicht aus Versehen dasselbe tat. Sie flüsterte Biret ins Ohr, obwohl sie wusste, dass sie das Leben von ihnen beiden riskierte, schließlich hatte ein älterer Junge erzählt, Hausmutter habe einmal ein Kind umgebracht, weil es Samisch gesprochen hatte. So etwas erfuhr man, wenn man in der Pause oder nach dem Abendessen um die Hausecke des Internats schlich; denn da wurde heimlich Samisch gesprochen. Else-Maj traute sich selten dorthin, weil sie Hausmutter einmal hatte nach draußen stürmen sehen, nachdem diese das Fenster einen Spalt geöffnet und die Kinder gehört hatte.
Else-Maj versuchte stattdessen, sich unsichtbar zu machen, und blieb bei jeder sich bietenden Gelegenheit in Annas Nähe. Wenn Hausmutter die Kinder anschrie, schaute Else-Maj Anna an und sah, dass auch sie kurz die Augen zukniff. Wie sie manchmal vor und zurück wiegte, als nähme sie Anlauf, um etwas zu sagen. Aber niemand, absolut niemand, widersprach Hausmutter.
Äußerlich unterschied sie sich eigentlich nicht viel von den alten Frauen im Dorf; vielleicht war sie etwas größer und ein bisschen breitschultrig, fast wie ein Mann, trug aber Rock und Strickjacke und hatte ihre dunklen Haare oft zu einem Knoten im Nacken hochgesteckt. Doch da waren der entschlossene Mund, das manchmal vorgeschobene Kinn und vor allem die Augen, die sich verengten und gefährlich wurden. Else-Maj hatte miterlebt, wie sie sich von einer normalen Frau in etwas völlig anderes verwandelte.
Lehrer Bertil schrieb mit weißer Kreide einen Satz an die Tafel. Else-Maj hasste die Schwedischstunden. Rechnen ging besser, obwohl sie die Zahlen nicht auf Schwedisch sagen konnte, doch das konnte sie herausfinden.
Am besten lief es, wenn sie im Chor auf Schwedisch etwas aufsagen mussten, weil sie dann nur die Lippen zu bewegen brauchte; als der Lehrer sie aber nacheinander hören wollte, schnürte sich ihr die Kehle zu, und sie guckte nach unten auf die Bank.
Ihr Magen knurrte, obwohl das Frühstück noch nicht lange her war. Sie starrte auf das Zifferblatt über der Tür, kannte die Uhr nicht, ihr war aber aufgefallen, dass eine Unterrichtsstunde oft dann zu Ende war, wenn der große Zeiger senkrecht nach oben zeigte. Jetzt dauerte es nicht mehr lange.
Plötzlich war es still um sie, sie hatte vergessen, die Lippen zu bewegen, und sie hatte das Gefühl, als würden alle auf etwas warten.
»Else-Maj, ich habe gesagt, du bist dran.«
Sie hörte ihren Namen und wusste, dass man von ihr erwartete, etwas zu sagen. Ihr Herz raste, als sich der Lehrer vom Pult erhob, zu ihr kam und mit einer Hand ihre Wangen umfasste, und sie roch Seife. Er drückte zu und sprach vor ihr das Wort überdeutlich aus. Offensichtlich wollte er sie dazu bringen, das Gleiche zu sagen, wollte den Mund zwingen, seinem Bewegungsmuster zu folgen.
Sie pinkelte in die Hose. Es rieselte einfach los, und die Beine ließen sich überhaupt nicht zusammendrücken. Es tropfte die Stuhlbeine hinunter, und jemand lachte. Der Lehrer wich instinktiv zurück und machte ein besorgtes Gesicht.
»Geh!«
Sie schaute zu ihm hoch, verstand nichts.
»Geh ins Internat!«
Er zeigte zur Tür. Sie verstand nicht.
»Mana!«, flüsterte Biret.
Der Lehrer starrte ihre Freundin wütend an. Else-Maj wusste, dass es böse enden konnte, stand schnell auf und lief zur Tür. Es war kalt am Po und bis unten an den Beinen. Sie rannte über den Schulhof, zum Internat, und Anna fing sie an der Tür ab. Else-Maj hielt ihren Hintern auf Abstand, weinte und sagte, sie habe in die Hose gepinkelt. Das Samische sprudelte nur so aus ihr heraus, und Anna legte ihr sanft eine warme Hand auf den Mund.
»Sie ist in der Nähe«, flüsterte sie Else-Maj ins Ohr. »Du musst aufhören zu weinen.«
Sie nahm sie an die Hand, und sie gingen zur Dusche im Keller. Else-Maj schälte sich aus nasser Strumpfhose und Unterhose und war wieder kurz vorm Weinen, als sie merkte, dass der Rock, den ihre Enná genäht hatte, Pipiflecken abbekommen hatte. Anna nahm die Kleider, um sie in der Badezimmerecke, wo der Waschbottich stand, zu schrubben.
»Spül dich schnell ab.«
Else-Maj brauste die Beine mit warmem Wasser ab, schämte sich, dass sie mit nacktem Unterkörper vor einem fremden Menschen stand. Versuchte, sich wegzudrehen, wollte sich hinhocken und sich verstecken.
»Ich hole dir frische Wäsche«, sagte Anna, bevor sie rasch wegging.
Else-Maj nahm ihr Handtuch vom Haken und zitterte ein wenig, bevor sie trocken war. Dann waren Absätze zu hören, hart und in einer Schnelligkeit, die nicht zu Anna gehörte. Sie wich zurück und versuchte, sich zwischen den Handtüchern zu verbergen. Der Duschkopf tropfte, Hausmutter war da und drehte ihn zu. Als sie sich umwandte, trafen sich ihre Blicke. Else-Maj schaute sofort auf ihre weißen Füße, die so breit waren wie die ihrer Enná.
»Was machst du hier?«
Die Stimme prallte von den Wänden ab, traf sie. Sie schaute hoch und schüttelte langsam den Kopf.
»Warum bist du ausgezogen?«
Else-Maj schaute auf ihren Mund, das wütende Gesicht und die zusammengekniffenen Lippen.
»Entschuldigung«, sagte sie leise auf Schwedisch.
Anna hatte es ihr beigebracht, gemeint, sie solle es sagen, wenn etwas schiefging. Hausmutter riss sie so am Arm, dass das Handtuch zu Boden fiel. Else-Maj versuchte, sich wegzudrehen, wollte sich aber weder von vorn noch von hinten zeigen. Wollte sich nur hinsetzen und die Schenkel verstecken. An der Wand hing die Rute, und sie wusste, dass Hausmutter auch die Kleinsten auspeitschte. Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich wieder bepinkeln.
Annas leichte Schritte näherten sich, und sie kam mit einem Stapel Kleider in den Händen herein. Ihre Wangen waren gerötet und die Augen weit aufgerissen. Hausmutter schüttelte Else-Maj und sprach gleichzeitig Anna streng an, die mit fast flehender Stimme reagierte. Else-Maj wollte laut schreien, weil ihr der Arm wehtat, als Hausmutter ihre Nägel durch den dünnen Stoff...
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