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20. JUNI 1866
Jeanne spürte das erste Ziehen im Unterleib, als sie den schweren Wassereimer aus dem Brunnen zog. Erstaunt setzte sie das Gefäß ab und befühlte ihren hochschwangeren Bauch. Die Hebamme Marianne hatte ihr doch vor wenigen Tagen gesagt, es sei frühestens in zwei Wochen so weit. Hatte sich die erfahrene Alte etwa geirrt?
Ach was, beruhigte sich Jeanne, das Kleine hat mich wahrscheinlich inwendig getreten. Sie hängte die schweren Eimer zu beiden Seiten an das Tragegestell und bückte sich, um es sich auf die Schultern zu heben. Als sie sich aufrichtete, zog es erneut. Diesmal deutlich heftiger als zuvor.
Mit sorgenvoll gekrauster Stirn schleppte Jeanne ihre Last die steile unbefestigte Gasse empor, die zu ihrer Hütte mitten im Maquis von Montmartre führte. Der Maquis hoch oben auf der Butte, wie man die höchste Erhebung von Montmartre nannte, war eine von Trampelpfaden durchzogene Freifläche. Zum Teil war sie unbebautes, mit Unkraut überwuchertes Ödland, zum Teil standen einfache Bretterbuden in unregelmäßigen Abständen nebeneinander.
In diesen Elendsquartieren hausten Bewohner aus der ärmsten Bevölkerungsschicht von Paris. Sie waren im Sommer der Hitze, im Winter der Eiseskälte in den zugigen Hütten schutzlos ausgeliefert. Es gab keine Abtritte, man verrichtete seine Notdurft hinter den Büschen in der Nähe der Hütten. Der nächste Brunnen war meist mehrere Hundert Meter entfernt.
Jacques Morin, mit dem die achtzehnjährige Jeanne Lambert seit einem Jahr zusammenlebte und von dem sie ihr erstes Kind erwartete, hatte ihre Behausung, die nur aus einem einzigen Raum bestand, selbst gezimmert. Je näher Jeanne ihrem ärmlichen Obdach kam, desto stärker machte sich der Gestank der benachbarten Abdeckerei bemerkbar. Dort wurden jeden Tag mindestens ein Dutzend Pferdekadaver gehäutet, und in den dadurch entstehenden Blutseen züchtete der Besitzer Würmer, die er als Köder an Angler verkaufte.
Wie üblich summten dichte Fliegenschwärme über dem Gelände.
Als Jeanne sich ihrer Hütte näherte, entdeckte sie zu ihrem Ärger, dass der verschlissene Vorhang, der im Sommer tagsüber den Eingang verschloss, ein Stück zur Seite gezogen war. Sie seufzte vernehmlich. Wahrscheinlich hatte Jacques in ihrer Abwesenheit die Hütte aufgesucht und den Vorhang nicht ordentlich zugezogen. Einen Teil der Fliegen würde sie nun auch in der Hütte vorfinden, wo sie sich an Jeannes wenigen Essensvorräten gütlich taten.
Jeanne setzte die schweren Wassereimer ab und betrat die Hütte. Tatsächlich erhob sich eine schwarze Wolke der Insekten von der Brotdose und dem Kochtopf. Beide Gefäße standen offen. Der Kochtopf auf dem winzigen Öfchen, das gleichzeitig als Herd und im Winter als Heizung diente, war leer, ohne Jeannes Mittagessen. Jacques hatte offenbar den Rest Erbsensuppe verzehrt, anstatt seiner Arbeit als Zimmermann nachzugehen.
In den letzten Monaten schwänzte Jacques seine Arbeitsstelle immer wieder und trieb sich stattdessen in den Kneipen herum, die es in reichlicher Anzahl auf dem Hügel von Montmartre gab. Erst als Jeanne sich nach ihren Waschgeräten bückte, fiel ihr das Stroh auf, das vor ihrer Lagerstatt auf dem hart gestampften Lehmboden verstreut war. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. Schwerfällig drehte sie sich zu dem Strohsack hin, der als Matratze diente. In seinem Innern bewahrte Jeanne den geringen Lohn auf, den sie mit ihrer Arbeit als Wäscherin verdiente.
Als sie den Strohsack wendete, bestätigten sich ihre schlimmsten Befürchtungen. Der Schlitz in dem harten Leinen, den sie sorgfältig mit Nadeln zugesteckt hatte, war aufgerissen. Im Stoff klaffte ein breites Loch. Als sie mit der Hand hineinfuhr und panisch herumtastete, fand sie den Beutel mit den wenigen Münzen nicht mehr. Es waren kaum fünf Francs gewesen, die sie dort vor Jacques versteckt hatte, um sie nach der Geburt zur Verfügung zu haben. Vom Munde abgespart, damit sie die Hebamme bezahlen und beim Trödler etwas zum Anziehen für das Kind kaufen konnte.
Denn die Hemdchen, Mützchen und Schühchen, die sie abends nach einem harten Tag am Waschfass beim schlechten Licht einer einzigen Kerze gestrickt, gehäkelt und genäht hatte, waren schon vor Wochen Jacques' Trunksucht zum Opfer gefallen. Er hatte sie ins Pfandhaus getragen und die wenigen Sous, die er dafür erhielt, noch am gleichen Abend versoffen.
»Dieser Mistkerl!«, schrie Jeanne nun in ihrer hilflosen Wut laut auf. Im selben Augenblick durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Eine warme Flüssigkeit rieselte ihre Schenkel hinab. Sie konnte sich gerade noch auf den beschädigten Strohsack schleppen, bevor die nächste Wehe sie übermannte.
Zwei Stunden später drängte sich das schwarz behaarte Köpfchen ihres Töchterchens aus ihrem Leib.
»Was für ein Glück, dass ich zufällig vorbeikam, um dir etwas Ziegenmilch zu bringen.«
Die alte Hebamme Marianne, bei der Jeanne auf der Butte gewohnt hatte, bevor sie mit Jacques in die eigene Bretterbude gezogen war, tätschelte ihr die schweißbedeckte Stirn.
Zuvor hatte sie Jeanne tatkräftig bei der Entbindung geholfen, die Nabelschnur durchtrennt und das kleine Mädchen in ein sauberes Tuch gewickelt. Dann legte sie es Jeanne an die Brust.
»Wie soll sie denn heißen?«, fragte sie nun.
»Ich will sie Elise nennen, nach meiner verstorbenen Mutter.«
Marianne nickte beifällig. »Ein schöner Name.«
»Aber diesen Schuft solltest du noch heute rauswerfen«, fügte sie mit grimmigem Gesichtsausdruck hinzu. »Er hat dir nichts als Unglück gebracht. Wie ich es dir von Anfang an .« Marianne stockte und biss sich auf die Lippen.
»Sprich es nur aus!«, entgegnete Jeanne resigniert. »Es ist wahr, du hast mich vor dem Taugenichts von Anfang an gewarnt.«
»Er neigte schon als Junge zur Trunksucht«, bestätigte Marianne. »Wie seine beiden Eltern, die mehr Branntwein als Wasser tranken, wann immer sie es sich leisten konnten.«
Jeanne wich dem Blick der Hebamme aus.
»Doch heute ist es die Grüne Fee«, sagte die alte Frau erbittert. »Nicht nur teurer, sondern auch viel teuflischer als Schnaps.«
Grüne Fee nannte man im Volksmund den Absinth, ein alkoholisches Getränk, das seinen typischen Geschmack den darin enthaltenen Gewürzen Wermut, Anis und Fenchel verdankte. Die grüne Farbe stammte von zugesetzten Kräutern wie Minze oder Melisse. Man verdünnte es in den Schenken zwar mit Wasser, Absinth war aber trotzdem ungleich stärker als Bier oder Wein und sogar viele Sorten Schnaps.
»Leider ist der Kerl mit seinen schwarzen Locken und blauen Augen anscheinend unwiderstehlich für die Weiber«, fuhr die Alte in ihrer Tirade fort, als Jeanne noch immer schwieg.
Seufzend stand die Hebamme auf. »Wenigstens das hat er der Kleinen vererbt. Die wird mal eine richtige Schönheit, wirst sehen.«
Als Jeanne ebenfalls Anstalten machte, sich zu erheben, drückte Marianne sie sanft, aber bestimmt auf das Lager zurück. »Untersteh dich!« Sie hob warnend den Zeigefinger. »Du bleibst jetzt den ganzen Tag liegen und ruhst dich aus. Heute Abend seh ich noch mal nach dir.«
»Aber . die Wäsche«, protestierte Jeanne schwach. »Ich hab's Madame George versprochen, sie heute zu schrubben.«
»Da wusste ja noch niemand, dass das Kleine es so eilig hat, auf die Welt zu kommen. Mach dir keine Sorgen! Ich geh bei der George vorbei und sag ihr Bescheid.«
»Aber . Jacques hat doch meinen ganzen Lohn gestohlen«, protestierte Jeanne noch einmal. »Ich muss doch was verdienen, um das Kind zu ernähren. Und dich will ich auch bezahlen.«
Marianne schürzte die Lippen. »Um mich mach dir mal keine Sorgen, Jeanine!« Sie wies auf Jeannes volle Brust, aus der ein Tropfen Milch sickerte. »Das Kleine ist auch gut versorgt. Und du hast die Ziegenmilch, die ich dir mitgebracht habe. Ein wenig Brot hat der Schuft dir auch noch gelassen. Das sollte erst mal reichen. Nach der Geburt soll man ohnehin nicht gleich zu viel essen. Heute Abend bring ich dir eine kräftige Brühe mit«, versprach sie, bevor sie sich unter die niedrige Türöffnung bückte und Jeanne zum Abschied zuwinkte.
Die blieb noch eine halbe Stunde liegen. Dann stand sie mühsam auf und legte ihr Töchterchen auf dem Strohsack ab. Hinter dem Vorhang verborgen, lugte sie rechts und links den Trampelpfad entlang, konnte Marianne jedoch nirgends entdecken. Erst dann schlüpfte sie hinaus, klaubte einen Arm voll Reisig zusammen, der auf einem Haufen neben der Bretterbude lag, und entzündete damit hinter der Hütte ein Feuer. Darüber hängte sie einen großen Topf an einen Dreifuß und erwärmte nach und nach das Wasser, das sie morgens vom Brunnen geholt hatte. Topf für Topf füllte sie ins Waschfass in einer Ecke der Hütte.
Als das Fass voll war, griff sie nach einem Laken, das sie schon am frühen Morgen in einer Bütte eingeweicht hatte, und begann, es mit Kernseife einzureiben und über dem Waschbrett zu schrubben.
Schließlich muss das Leben ja weitergehen, dachte sie, während sie wegen ihrer Schmerzen im Unterleib die Zähne zusammenbiss. Auch wenn es die alte Marianne noch so gut mit mir meint.
20. JUNI 1866, AM GLEICHEN TAG
Alphonse Dumas zuckte zusammen, als ein weiterer schriller Schrei der Gebärenden aus dem Schlafzimmer drang. Seit vielen Stunden...
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