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Zwei Erlebnisse aus seiner Kindheit hatten sich tief in Willy Perls Gedächtnis eingebrannt. Die erste Begebenheit trug sich auf einem Wiener Spielplatz zu, wo andere Kinder sich weigerten, mit ihm zu spielen. Er fragte nach dem Grund und erhielt als Antwort: "Weil du Jesus getötet hast." Erstaunt und voller kindlicher Naivität entgegnete er, er habe niemanden getötet. Das zweite Ereignis war, als Perl Zeuge wurde, wie einer seiner nicht-jüdischen Spielgefährten einen ihm unbekannten jüdischen Buben mit Schläfenlocken verprügelte. Perl schritt nicht ein, wofür er sich später schämte, doch seine kindliche Rechtfertigung war simpel: Der Schläger war sein Freund, der fremde Jude nicht.
Beide Vorfälle waren Symptome einer sich innerhalb der Wiener Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausbreitenden antijüdischen Stimmung.2 Geschuldet war diese nicht zuletzt dem politischen Kalkül von Bürgermeister Karl Lueger, der antisemitische Hetze als Mittel zur Mobilisierung der Massen eingesetzt hatte - und dabei so weit gegangen war, dass sich Kaiser Franz Joseph zunächst sogar geweigert hatte, Luegers Wahl in das oberste Amt der Stadt anzuerkennen. Trotz dieser Entwicklungen erlebte Willy Perl nach eigener Aussage zunächst eine schöne, unbeschwerte Kindheit. Noch richtete sich die unverhohlene Ablehnung vor allem gegen die durch Aussehen und Gebräuche leicht erkennbaren orthodoxen Juden aus Osteuropa, nicht gegen assimilierte Juden wie Perls Familie. Sein Großvater Solomon stammte zwar auch aus einem jüdischen Stetl im Osten der heutigen Slowakei nahe der polnischen Grenze, war aber als junger Mann auf der Suche nach einem besseren Leben nach Prag übersiedelt. Dass er seinem Sohn - Willys Vater - den deutschen Namen Rudolf gegeben hatte, zeugt vom Bestreben, sich für den sozialen Aufstieg an die deutsche Sprache und Kultur anzupassen und die Provinz hinter sich zu lassen.
Solomon Perl hatte ein Pfandhaus gegründet, aus dem später eine Bank entstanden war, und es so zu Wohlstand gebracht. Auch Perls Vater Rudolf, der als Handelsreisender für eine Textilfirma tätig war, hatte sich eine schicke Wohnung in der Prager Altstadt und eine Bedienstete leisten können. Willy Perl, am 21. September 1906 geboren, wuchs daher in einem wohlhabenden und modernen Umfeld heran. Das änderte sich auch nicht, als sein gesamter Familienverband - 60 bis 70 Personen - vier Jahre später aus ökonomischen Gründen in die Hauptstadt des Habsburgerreichs umzog. Der Schritt machte sich für Perls Vater bezahlt, denn er wurde bald zum Eigner einer der größten Großhandelstextilfirmen der Monarchie. Die Familie bewohnte ein Appartement in der Paracelsusgasse im gehobenen dritten Wiener Gemeindebezirk und leistete sich eine Pferdekutsche und später sogar ein Automobil - erst einen gelben Audi, danach einen Puch - samt Fahrer.
Doch das Glück sollte nicht von langer Dauer sein, denn die Katastrophe des Ersten Weltkriegs ließ auch die Welt der Perls aus den Fugen geraten. Während des Krieges strömten massenhaft mittellose orthodoxe Jüdinnen und Juden aus Galizien und der Bukowina auf der Flucht vor der russischen Armee nach Wien. Ihre Ankunft war Wasser auf den Mühlen antisemitischer Agitatoren, deren Hetze gegen die Flüchtlinge sich auch auf die assimilierten Juden auswirkte. Es folgte der Untergang der Donaumonarchie, der der Stellung der jüdischen Bevölkerung in dem geschrumpften, instabilen Gebilde, das Restösterreich nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain darstellte, ebenfalls nicht zuträglich war. Die junge Republik schlitterte zudem in eine schwere Währungskrise und die Inflation stieg in schwindelerregende Höhen.
Unter den Opfern der Geldentwertung befand sich auch Willy Perls Vater Rudolf. Er hatte sich beim Import von italienischen Textilien verspekuliert und verlor sein Vermögen. Die Familie musste die Wohnung in der Paracelsusgasse aufgeben und bezog eine kleinere Bleibe in der nahe gelegenen Kollergasse. Möglicherweise waren diese Verwerfungen im Leben des jungen Perl einer der Gründe, warum er ein Rabauke und Disziplin ein Fremdwort für ihn war. Sein ungezügeltes Verhalten hatte allerdings schwerwiegende Folgen. Weil er sich im Gymnasium von seinem Griechischlehrer ungerecht behandelt fühlte und auf eine Frage mit "Leck mich am Arsch" antwortete, wurde er beinahe der Schule verwiesen. Sein Vater konnte zum Glück erreichen, dass es bei einer Beurlaubung blieb, und Willy Perl wiederholte daraufhin das siebte Schuljahr. Mitte 1925 schloss er das Bundesgymnasium in der Kundmanngasse mit einem Jahr Verspätung - und mit mäßigen Noten - ab und schrieb sich im darauffolgenden Herbst an der Universität Wien ein.
Seinen ursprünglichen Wunsch, Medizin zu studieren, hatte Perl aufgeben und sich stattdessen für ein Studium der Rechtswissenschaften entschieden. Als angehender Anwalt interessierte er sich vor allem für Kriminologie und auch für Psychologie. Insofern war es von Vorteil, dass sein Vater ein Bekannter Sigmund Freuds war. So konnte der junge Student den berühmten Psychoanalytiker mehrmals in dessen Wohnung in der Berggasse besuchen. Zudem schrieb sich Perl an der Hochschule für Welthandel ein. Dieser Ehrgeiz, der im krassen Gegensatz zu seinen schulischen Leistungen stand, war vielleicht dem Verlangen geschuldet, unbedingt erfolgreich zu sein, um seinen gescheiterten Vater finanziell zu unterstützen. Rudolf Perl hatte sein Geschäft zwar wieder aufgebaut, war aber erneut in den Bankrott geschlittert. Weitere Pleiten folgten, und ohne sich jemals von den Rückschlägen zu erholen, ging er zurück nach Prag, wo er 1935 als gebrochener Mann an Krebs starb.
Seine Zeit an der Universität war nicht nur in beruflicher Hinsicht prägend für Willy Perl. Dem sozialen Aspekt kam eine ebenso wichtige Rolle zu. Perl hatte zwar auch nicht-jüdische Freunde, es waren aber vor allem Juden, mit denen er in diversen jüdischen Organisationen Umgang pflegte. Im Sportverein Hakoah spielte er Fußball, später trat er den Verbindungen Emunah und Ivria bei. Vor allem der Ivria, für die er mehrere Jahre als Schriftführer im Vorstand tätig war, fühlte er sich sehr verbunden. Mehrmals pro Woche besuchte er die "Bude" - das Vereinslokal - und focht auch zwei Duelle, beide Male als Herausforderer. Bei der ersten dieser Mensuren trug er eine Narbe auf der linken Wange davon und musste wegen der Verletzung aufgeben, wie im dazugehörigen Protokoll nachzulesen ist: "Perl nach 3 Schlägen kampfunfähig."3
Willy Perl (zweite Reihe, Erster von rechts) und Verbindungsbrüder, 1923
Seinen Erfahrungen und der Sozialisierung in der Ivria maß Perl einen hohen Stellenwert für seinen weiteren Lebensweg bei. Denn die Ivria war nicht nur Ort studentischer Umtriebe, sie war auch eine Selbstschutzorganisation. Gerade die Universität Wien war eine Hochburg des Deutschnationalismus. Regelmäßig kam es zu Übergriffen auf jüdische Studenten und es wurde versucht, sie aus den Hörsälen zu werfen. Im Verband waren sie jedoch in der Lage, sich zu wehren, auch wenn sie sich in der Unterzahl befanden. Schlägereien waren an der Tagesordnung. Perl selbst, von Natur aus ein Draufgänger, benötigte die Unterstützung der anderen nicht immer: Im Vorfeld eines Aufmarschs deutschnationaler Burschenschafter trat er deren Anführer allein gegenüber und ohrfeigte ihn. Eine handfeste Prügelei war die Folge, bei der Perl gründlich sein Fett abbekam. Wie schon zu seinen Schulzeiten hatte auch dieser Vorfall weitreichende Konsequenzen und hätte beinahe zu seinem Verweis von der Universität geführt. Die Anschuldigung, öffentlichen Aufruhr verbreitet zu haben, konnte er in einem persönlichen Gespräch mit dem Rektor gerade noch entkräften.
An dieser Episode zeigt sich, dass Perl wenig geneigt war, Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Vielmehr war er bereit, hohe persönliche Risiken für seine Überzeugungen auf sich zu nehmen. In den Mittelpunkt dieser Überzeugungen rückte ab Mitte der 1920er-Jahre eine noch relativ junge Ideologie, die vor allem vom österreichischen Journalisten Theodor Herzl maßgeblich geprägt worden war: der Zionismus.
Auch wenn Perl in einem säkularen Umfeld aufgewachsen war, hatte das Judentum von Anfang an eine gewisse Rolle in seinem Leben eingenommen. Seine Familie feierte die traditionellen Feste und besuchte die Synagoge, und sein Vater hatte ihm und seinem 1910 geborenen Bruder Walter oft Geschichten aus der hebräischen Bibel erzählt, die seine Fantasie beflügelten. An einem großformatigen Buch mit einem Einband aus Zedernholz und Illustrationen von Jerusalem und dem Heiligen Land, das er in der Familienbibliothek entdeckt hatte, hatte Perl besonderen Gefallen gefunden. Sein Interesse an der Geschichte des jüdischen Volkes wurde also schon in Kindestagen geweckt, und möglicherweise waren es diese Geschichten, die in ihm den ersten Funken des Zionismus entfachten.
Dieser war für Perl sozusagen eine Familienangelegenheit. Verwandte von ihm hatten 1897 am von Theodor Herzl initiierten ersten Zionistenkongress in Basel teilgenommen, auf dem die Zionistische Weltorganisation gegründet worden war. Deren Ziel war die "Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden, die sich an ihren jetzigen Wohnorten nicht assimilieren können oder wollen."4 Perl selbst besuchte mit seinem Vater 1923 den 13. Kongress, der Anfang August im tschechoslowakischen Karlsbad stattfand. Er...
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