Schweitzer Fachinformationen
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Als I?gá erwachte, lag sie im Schatten einer Birke, in einer Grube aus Gras und Moos. Es war bereits warm, obwohl die Sonne noch tief stand. Jemand hatte sie mit dem Roavgu zugedeckt, in dem sie schlief, wenn die Nächte kalt waren. Er war aus Lammfellen zusammengenäht, dick und im Sommer viel zu heiß. Sie schob ihn beiseite und setzte sich auf, ihre Stiefel waren feucht, der Gákti zerknittert. Sie hatte in ihren Kleidern geschlafen.
»Buorre idit«, sagte sie.
Tante Ánne blickte auf. Sie war anscheinend die ganze Nacht wach gewesen, genau wie Rávdná wahrscheinlich auch. I?gá hielt nach ihrer Mutter Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken.
Sie hätte nicht einschlafen sollen.
»Guten Morgen, meine Liebe«, sagte Tante Ánne und stocherte in einem Feuer, das sie ohne die übliche Begrenzung der Árransteine entfacht hatte. Es schwelte lediglich und musste schon seit Stunden glühen, ein dünner Rauchfaden stieg aus ihm auf.
»Mon nohkken«, entschuldigte sich I?gá.
Tante Ánne schüttelte den Kopf.
»Mädchen müssen schlafen dürfen.«
Sie hob den Kaffeekessel hoch, daneben stand eine Tasse. Tante Ánnes Hände zitterten.
»Kalter Kaffee, wenn du dabei bist, zu erlöschen«, sagte sie leise.
Im Sommer trank Tante Ánne ihren Kaffee immer kalt, sie schenkte ihn aus, als wäre es Wasser. I?gá schüttelte den Kopf.
In den Birken hingen Wolldecken und vergilbte Kissen. Im Gras standen Emailletöpfe und Geschirr. Alle möglichen Dinge lagen wie Wiesenblumen um sie herum verteilt. In unmittelbarer Nähe gab es keine weiteren Koten, aus dem Wald aber war Hundegebell zu hören. Stimmen. Die Ziegen meckerten, aber die Singvögel waren verstummt.
Hinter den Bäumen konnten sie das weißgefleckte Hochgebirge erahnen, und unterhalb standen Birken im See, der im Laufe der Nacht näher gerückt war, das bemerkte I?gá sofort. An einer von ihnen war ihr Boot vertäut. Sie schob sich ein Stück weiter das Ufer hinauf, obwohl es bis zum Wasser noch einige Meter waren. Je wacher sie wurde und je genauer sie sich an die Ereignisse der Nacht erinnerte, desto sicherer war sie, sie könne zusehen, wie der See stieg, immer mehr Raum einnahm, als würde er die Luft zum Atmen verdrängen. Es roch nach nassem Laub und Gras, nach ertrunkenem Wald. Außerdem war es zu heiß. I?gá legte sich mit ausgebreiteten Armen und Beinen in die Senke, in der sie geschlafen hatte, um möglichst viel Luft atmen zu können, am liebsten wäre sie wie die Rentiere losgelaufen, immer höher in den Fjäll hinauf, und hätte sich in den liegen gebliebenen Schnee gelegt. Wenn sie das Fernglas zu Hilfe nahm, konnte sie auf den Gletschern, die dem Himmel am nächsten waren, ein paar Rentiere erkennen; weiter oben, als sie sich je trauen würde.
»Ah«, hörte sie Rávdná sagen. »Du bis wach.«
Sofort setzte I?gá sich auf, sie hatte ihre Mutter nicht kommen hören. Rávdná stand in den Kleidern, in denen sie hier angekommen war, auf der anderen Seite des Feuers. Ihre Wangen waren gerötet und Baumflechten hatten schwarze Punkte wie Sommersprossen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Eigentlich war Rávdná am schönsten, wenn sie arbeitete, dann wirkte sie verschwitzt und frei, heute aber sah sie vor allem erschöpft aus. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zu ihnen herüber.
»Ich habe die Koten-Stangen gefunden. Suchst du uns einen Platz?«, fragte sie Tante Ánne. »Nur für diesen Sommer. Wenn wir mehr Zeit haben, suchen wir uns einen richtigen Hügel zum Bauen.«
Sie stellte den Giisá ab, den sie in den Armen gehalten hatte, einen roten Holzkoffer von der Größe eines Säuglings. Sie nannten ihn immer Ánnes Giisá, weil sie es gewesen war, die ihn bemalt hatte. Auf dem Deckel war eine blaue Blume zu sehen, und Bäche zierten die Seiten. Im Grunde passte er überall hin, im Gras aber wirkte auch er auf einmal sehr einsam. Farbenfroh wie immer, und doch schien sein Glanz matter.
Noch immer sah Rávdná I?gá an.
»Wir sind am schönsten und schrecklichsten Ort der Welt gelandet«, sagte sie. »Nur dass du es weißt.«
»Maid?« I?gá verstand nicht recht, was ihre Mutter ihr sagen wollte.
»Diese Leute tun so etwas, ohne uns zu fragen. Ich hatte gehofft, es würde dir erspart bleiben, so etwas zu erleben, aber es ist, wie es ist, und wenn es passiert, hat man keine Zeit, groß herumzutrödeln. Ich brauche deine Hilfe. Kaffee können wir auch noch trinken, wenn wir alles herausgeholt haben. Es ist nicht mehr viel, aber ich habe nicht vor, es zurückzulassen.«
Rávdná war schon wieder auf dem Weg zum Boot, ihr Haar flocht sie sich im Gehen zu einem neuen Zopf.
Am Ufer löste sie das Seil.
Inzwischen war es richtig heiß geworden, und das Holzboot roch stark nach Teer, normalerweise nahm man nur eine sanfte Note davon wahr.
»Wir müssen rudern. Das Wasser ist zu stark gestiegen.«
Rávdná war schon ins Boot gesprungen und wartete ungeduldig auf I?gá. Diese setzte sich schnell in den Bug, und Rávdná lenkte sie durch den Wald, indem sie sich mit dem Ruder von den krummen Birken abstieß. Überall ragten Bäume aus dem See, zwischen denen sie sich hindurchmanövrieren musste.
»Vuoi reihttása«, fluchte Rávdná, als sie sich wieder im Astwerk verfingen.
I?gá blickte zu den Baumkronen auf. Ihr Boot waren ganz und gar von Laub umgeben. Über, neben und unter ihr waren Bäume, Sträucher und Wiesen lagen unter Wasser, und der See war so grün, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Wie Gletscherwasser, nur noch intensiver. Das Wasser sah warm aus, aber sie wusste, dass es kein kälteres gab. Vom Grund leuchtete es hellgrün herauf, denn obwohl die Bäume unter Wasser waren, standen sie noch in vollem Laub. I?gá hatte gedacht, unter Wasser würden die Blätter sich lösen, in einem See wäre man automatisch nackt, aber so war es nicht, sie standen in ihrer vollen Schönheit in der Tiefe. Weiter draußen kratzten nur noch ein paar Zweige wie Fingernägel an der Reling.
Rávdná setzte sich erst, als sie die Bäume hinter sich gelassen und offenes Wasser erreicht hatten, sie krempelte die Ärmel hoch und ruderte. I?gá tat das normalerweise nur, wenn sie mit ihrer Tante die Netze heraufholten, und auch dann war es so, dass Tante Ánne übernahm, sobald es windig wurde. Sowohl sie als auch Rávdná hatten Arme, wie sie sich nur von Generation zu Generation alleinstehender Frauen weitervererbten, Frauen, die stets allein zurechtgekommen waren.
Rávdnás Bewegungen zogen einen weiten Bogen. »Rávdná rudert, als käme Wind auf«, sagte Tante Ánne oft. Der Wind war immer da, auch wenn er nicht wehte.
Wie schnell konnte man sich in der eigenen Heimat fremd fühlen? Bisher hatte I?gá sich das noch nie gefragt, jetzt aber wusste sie die Antwort: schnell. In einer einzigen Nacht konnte es geschehen. I?gá kam sich vor wie ein Vogel, der gegen eine Fensterscheibe geflogen war und nun orientierungslos über seine frühere Welt hinwegflog.
Der Birkenwald war ein See.
Die Bäche Unterwasserströmungen.
Vertraute Steine tauchten unter dem Boot auf, die im Wasser wie geschrumpft aussahen. Um sie herum dunkle Schatten, die die herabbrennende Sonne noch dunkler wirken ließen.
Da lag der Weg, der früher durchs Dorf führte.
Da der Trampelpfad, den sie als Abkürzung genommen hatten. Der Kletterbaum mit der baufälligen Holzhütte. Auf den flachen Felsen am Bach hatte I?gá immer mit den anderen Kindern gespielt, bis sie feststellte, dass sie dafür zu groß geworden war. Im Sand hatten sie Dörfer gebaut, Koten mit Fenstern, Wollgras als Muster. I?gá hatte sogar dann noch heimlich mit jüngeren Kindern mitgespielt, als die anderen in ihrem Alter längst damit aufgehört hatten.
Jetzt schwebten sie und Rávdná zum Dorf hinein, als würden sie einem unsichtbaren Strom folgen. I?gá presste sich an die Reling und hielt sich am Seil fest, falls sie hineinfallen sollte. Rávdná ruderte langsam und vorsichtig, um die Hindernisse unter Wasser nicht zu streifen.
Hätte I?gá die Hand auszustrecken gewagt, hätte sie das Dach von Heaikka Biettes Torfkote berühren können. Den perfekten Rauchabzug im Dach. Sie war alt genug, um sich zu erinnern, wie sorgfältig Heaikka Biette all das, was jetzt unter ihnen lag, errichtet hatte. Lange hatte er daran gefeilt, das Holz mehrere Jahre lang getrocknet. Die Kuppel des Dachs aus Birkenholz war so symmetrisch geformt, dass selbst Touristen davon beeindruckt waren. Sie hatten sie fotografiert, und Heaikka Biette war wegen seiner Baukunst in die Zeitung gekommen. Ein schöneres Zuhause hätte man sich nicht vorstellen können, doch von hier oben vom Boot aus erinnerte es eher an einen nichtssagendne Hügel aus Torf oder ein mit Wasser vollgelaufenes Erdloch. Der Rauchabzug war schwarz, und I?gá stellte sich vor, wie sie durch das Reahpen schwamm und dann zur Tür wieder hinaus, immer und immer wieder, durch den Rauchabzug hinein und zur Tür wieder hinaus, obwohl sie gar nicht schwimmen konnte. Niemand im Dorf konnte das. Würde sie wohl an der Oberfläche treiben? Bei großen Gegenständen funktionierte das, hatte Tante Ánne gesagt, vielleicht würde das Wasser I?gás neuen Körper ja auch an der Oberfläche halten.
Rund um Heaikka Biettes Kote stand eine Ansammlung von kleineren Bauten, und aus dem Vorratskeller blubberte es. Die etwas kleinere Torfkote für die Ziegen...
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