Schweitzer Fachinformationen
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Als wir fünf waren, hat mir Caroline einen kleinen pinken Taschenrechner geschenkt.
Er hatte die Form einer Katze und bonbonfarbene Tasten. Sie mochte ihn, aber ich liebte ihn, und da sie mich liebte, wurde er meiner. Als Kind war sie immer so. Großzügig und manchmal etwas zu einfühlsam mit dem, was andere Leute wollten. Ich spielte endlos mit diesem Taschenrechner, und als ich ihn verlor, überraschte sie mich mit einem neuen. Es war der Buchhaltungstaschenrechner unseres Dads, den sie von seinem Schreibtisch stibitzt hatte, und weil sie Caroline war, hatte sie die Tasten mit klebrigem pinken Nagellack überzogen. Nur für mich.
Caroline bekam Ärger und ich ein Hobby. Danach schenkte sie mir viele seltsame Geräte und ich kaufte ihr jede Nagellackfarbe, die ich finden konnte. Es war ein Scherz zwischen uns beiden. In einem Jahr war es ein altmodischer Abakus im Tausch gegen Neonlacke. Dann die Sonnenuhr gegen auf Temperatur reagierende Metallictöne. Und schließlich mein Lieblingsteil: ein Taschenrechner von Mayfair Sound Products aus dem Jahr 1987, hergestellt in Japan. Es war ein klobiges Gerät größer als meine Hand. Er war angenehm schwer und hatte laute Tasten. Ich schenkte ihr bloß royalblauen Lack. Schrecklich unangemessen, aber sie trug diese Farbe ständig, selbst nachdem wir nicht mehr miteinander sprachen.
Nach Carolines Angriff finde ich den Mayfair ganz unten im Chaos meines Zimmers. Er ist völlig zertrümmert. Zerstört. Doch was mich fertigmacht - was mich endlich aus meiner Schockstarre reißt -, ist ein perfekter blutiger Fingerabdruck auf der einen unversehrten Ecke des Geräts. Sie muss es aufgehoben, in Betracht gezogen und dann wieder zurückgelegt haben, bevor sie nach der Sonnenuhr gegriffen und mich geweckt hat.
Ich verstehe nicht, warum. Ich muss nicht verstehen, warum. Ich schluchze, als ich in dem Chaos wühle, und während ich nach den Bruchstücken suche, erkenne ich etwas.
Der Tod ist nicht das Ende des Lebens, sondern seine Aufspaltung. Wenn jemand stirbt, verteilt sich seine Seele auf all die Dinge, die andere von ihm erhalten haben. Liebe. Blutergüsse. Geschenke. Man bemüht sich, zusammenzutragen, was übrig geblieben ist - sogar die Dinge, die schmerzhaft sind -, nur um sich dann zu quälen.
Die Sonne geht bereits auf, bis ich alle Bruchstücke des Mayfair-Taschenrechners gefunden habe. Im Haus ist es inzwischen still, Mom und Dad sind mit der Leiche im Krankenhaus. Ich stehe den Teilen allein gegenüber, die in der schwachen Morgendämmerung ausgebreitet auf meinem Schreibtisch liegen. Da wären der gebürstete Metallrahmen, die herausgesprungenen Tasten, die smaragdgrünen, von Kupfer durchzogenen Eingeweide der Schaltkreise. Den Dreck herunterzuputzen, war der einfache Teil. Jetzt versuche ich herauszufinden, wie alles wieder zusammengehört. Falls man es überhaupt wieder zusammensetzen kann.
Ich habe keine Ahnung, wie man irgendwas, das in so viele Teile zersprungen ist, je wieder zusammensetzen soll.
Caroline ist tot.
Meine Schwester ist tot.
Es gibt keine Teile, keine Bruchstücke, die man wieder zusammensetzen könnte, um in der Abwesenheit meiner Schwester einen Sinn zu erkennen. Da ist nur eine plötzliche, schockierende Leere, wo einst ihr Leben war.
Ich versuche, die Leerstellen zu zählen. Ihre Formen nachzuzeichnen. Wenn jemand stirbt, macht man das. Man versucht zu erfassen, was verloren ist. Einige Dinge, die fehlen, sind sofort offensichtlich. Der fehlende Klang seiner Stimme, die To-do-Listen, die er nie abarbeiten wird, oder die Leere auf seinem Platz am Frühstückstisch. Auf diese Dinge bin ich vorbereitet.
Aber so viel schlimmer sind die kleinen, die schrecklich winzigen Lücken - eigentlich nicht mehr als Nadelstiche -, die Caroline überall sonst hinterlässt. Leerstellen, die meine Erinnerungen durchlöchern wie Schrotkugeln, so verstreut, dass ich nicht erfassen kann, was fehlt. Ich kann es nicht zählen. Ich kann es nicht bemessen.
Meine Schwester wird zu einer Konstellation aus Leerstellen.
Und wie der kaputte Taschenrechner komme ich zu keinem Ergebnis, bin unfähig, dem Ganzen irgendeinen Sinn abzuringen. Also sitze ich tagelang an meinem Schreibtisch und starre die Teile an, die im gedämpften Licht eines jeden Sonnenaufgangs zu schweben scheinen. Verbogenes Metall, Plastiktasten, smaragdgrüne Innereien, kupferne Adern. Bruchstücke, Teile eines früheren Ganzen.
Doch jetzt sehe ich nur noch die neue Leere, die sie voneinander trennt.
Wenn ich vor etwas Angst habe, studiere ich es. Caroline würde es wegtanzen oder vielleicht ein Gedicht schreiben. Etwas Verträumtes und Kreatives. Aber ich bin unsere logische Hälfte. Eine Spaßbremse, doch klug. Unser notwendiges Übel - wie wir als Kinder scherzten -, als unsere gemeinsamen Ängste Caroline in die Kunst trieben und mich in die Forschung. Zu Daten und Wissenschaft. Vielleicht sogar zu anekdotischen Aussagen einer Primärquelle, wenn ich verzweifelt war.
Niemand will mit mir über das reden, was passiert ist. Ich verzweifle.
Also recherchiere ich über den Tod.
Ich lese von Himmelsbestattungen und Wasserbestattungen. Ich sehe Videos von Tänzen und Paraden und sogar von Asche, die in wunderschöne blaugrüne Perlen verwandelt wird. Ich lese von dem jüdischen Brauch, die Spiegel zu verhängen, damit die Trauernden ihre Gedanken nach innen richten, nicht nach außen.
Auch ich verhänge meine Spiegel, aber nur weil ich jedes Mal, wenn ich mich sehe, sie sehe. Ich erblicke ihr letztes, zuckendes Grinsen, das wie ein transparenter Film über meinem eigenen Gesicht liegt. Unserem Gesicht. Wir sind Zwillinge. Keine eineiigen, aber ähnlich genug.
Wir sind Zwillinge.
Wir waren Zwillinge, schätze ich.
Auch das passiert laut meinen Recherchen. Wenn jemand stirbt, wird die Vergangenheitsform zum Feind, obwohl die Vergangenheitsform alles ist, was einem bleibt, und es fühlt sich so an, als wüsste sie das ebenfalls.
Tja. Scheiß auf die Vergangenheitsform, schätze ich.
Ach, und außerdem: Scheiß auf das obere Treppengeländer. Nach dieser Nacht habe ich es vermieden, die gesplitterte Bruchstelle überhaupt nur anzusehen, an der Caroline und ich abgestürzt sind. Dann bin ich eines Morgens aufgewacht, weil Männer in Stiefeln die Treppe rauf- und runterpolterten, und plötzlich war es repariert. Das machte es irgendwie nur schlimmer. Ein hässliches Gefühl loderte in mir, als ich meine Hände auf das neue Holz legte, ein Gefühl von Verrat. Ich verstand nicht, warum, aber es ist dasselbe hässliche Gefühl, das ich jetzt habe, eine Woche später, nur acht Tage nachdem Caroline in unserem Zuhause in den Tod gestürzt ist, als ich zusehe, wie ein Laster in der Einfahrt hält und einen brandneuen Kronleuchter liefert.
Ich beobachte, wie die Männer die Kristallkonstruktion an ihren Platz hieven. Und während ich sie aufsteigen sehe, denke ich: Als Todesritual hätte Caroline das hier geliebt. Allein das Drama.
Nicht den Kronleuchter an sich, sondern die Tatsache, dass unsere Eltern trotz des Todes ihrer Tochter keine zwei Wochen warten konnten, ihn zu ersetzen. Das Gleiche gilt für das Geländer. Ich sollte ihnen anrechnen, dass sie es überhaupt einen Tag ausgehalten haben, doch dann suche ich im Internet nach Kronleuchtern. Der hier ist eine Spezialanfertigung. Bei dem Scheiß muss man schon ein paar Beziehungen haben, um ihn in weniger als sechs Wochen zu bekommen. Als das Installationsteam ihn schließlich einschaltet, zwinge ich mich, direkt in seine kalten, grellen Innereien zu blicken.
War ihre Tochter überhaupt schon offiziell für tot erklärt, als unsere Eltern ihren neuen Kronleuchter bestellt haben?
Mein Kopf antwortet in Carolines säuselnder Stimme.
Wahrscheinlich nicht, Mars, lacht sie.
Die Trauerfeier findet bei uns zu Hause statt, einen Tag nachdem der neue Kronleuchter aufgehängt wurde.
Wie alles in meiner Familie ist die Trauerfeier eine sorgsame Inszenierung der Verschleierung. So hält es die Familie Matthias nun mal. Mom ist schließlich eine New Yorker Senatorin, wir alle haben also die Aufgabe, den Schein zu wahren. Unser Leben findet im Licht der Öffentlichkeit statt und das gilt wohl auch für unseren Tod.
Freunde und Familie treten ein und nichts verrät, was hier geschehen ist. Das Kristall wurde zusammengefegt, die Trümmer weggesaugt, das Blut aus den Fugen geschrubbt. Insgeheim denke ich, dass Mom und Dad die Trauerfeier nach der Lieferung des Kronleuchters ausgerichtet haben, nicht andersherum. Er verströmt eine fröhliche Wärme und verkündet, dass es hier nichts zu verstecken gibt, und falls doch, dass man es hier nirgendwo verstecken...
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