Schweitzer Fachinformationen
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Den restlichen Tag konnte ich kaum an etwas anderes denken als an die Nachricht.
Nach der Arbeit fuhr ich ins Fitnessstudio und absolvierte eine richtig harte Trainingseinheit. Strampelte wie ein Verrückter auf dem Crosstrainer, jagte den Puls auf 175 hoch. Wollte das Hämmern im ganzen Körper spüren, in der Brust, im Hals, in den Ohren, hinter den Augen, sodass der Blick bei jedem Herzschlag verschwimmt. Das harte Training bringt das Gehirn auch wieder in Gang, reißt einen aus dem alten Trott heraus und lenkt die Gedanken in neue Richtungen.
Die anderen im Studio warfen mir verstohlene Blicke zu. Eine etwa zwanzigjährige junge Frau, die ich schon öfter gesehen hatte, schien zu befürchten, ich bekäme gleich einen Herzinfarkt oder so. Aber als ich das Studio verließ, ging es mir besser, ich war ruhiger.
Auf dem Weg zur Wohnung überlegte ich, was ich wegen meines Vaters unternehmen sollte. Ich konnte mich bei ihm melden oder es lassen. Doch auch wenn ich nicht zurückrief, wäre nichts wie vorher. Er hatte Kontakt aufgenommen, wollte mir etwas erzählen. Das würde mir keine Ruhe lassen.
Er hatte mich vor die Wahl gestellt, und beide Alternativen behagten mir überhaupt nicht.
Madde und ich wohnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in der Stadt. In fünf Minuten war man zu Fuß am Marktplatz mit dem alten Rathaus und in zehn Minuten beim großen ICA-Supermarkt. Alles war in der Nähe. Oder auch nichts, wie auch immer man es betrachtete.
Am Fluss stehen neue Eigentumswohnungen, groß und schön mit verglasten Balkonen. Sie sind teuer und gehen trotzdem weg wie nichts. Auch in unserer kleinen Stadt gibt es also Leute mit Geld. Für Madde und mich waren die Wohnungen allerdings unerschwinglich. Wir konnten uns eine heruntergekommene Mietwohnung mit zwei Zimmern leisten, zweiundfünfzig Quadratmeter, im dritten Stock ohne Aufzug.
Wenn ich an die Wohnung denke, droht mich der Schmerz zu überwältigen. Starr sitze ich da und warte, bis er nach einer Weile abflaut.
Unser Leben, unsere Zukunft, all unsere Hoffnungen und Sehnsüchte waren auf zweiundfünfzig Quadratmetern zusammengepfercht.
Im Wohnzimmer stand die ganze Zeit eine unausgepackte Umzugskiste. Wahrscheinlich steht sie immer noch da.
Verdammt.
Als ich zur Tür hereinkam, briet Madde gerade etwas in der Küche.
»Hallo«, rief sie, um das Dröhnen des alten Dunstabzugs zu übertönen.
»Hallo«, rief ich zurück und stellte die Tasche mit meiner Sportkleidung ab, bevor ich durch den schmalen Flur in die kleine Küche ging.
Madde sah zu mir und lächelte. »Na?«
»Hallo.« Ich legte die Hände auf ihre Hüften, sie drehte mir den Kopf zu, und wir küssten uns.
»Oh, du bist ja ganz rot«, sagte sie.
»Ich war im Fitnessstudio.«
Ich zog sie an mich. Sie hielt einen Pfannenwender in der Hand, in der gusseisernen Pfanne brutzelten Truthahnfleischbällchen. Daneben kochten Nudeln in einem Topf.
»Was kann ich tun? Soll ich den Tisch decken?«, fragte ich.
»Ja, gern. Und ein bisschen Gemüse schneiden. Im Kühlschrank liegen Gurken und Tomaten.«
Ich deckte unseren winzigen Küchentisch. Ein paarmal hatten wir zu dritt daran gesessen, wenn mein Großvater zu Besuch gekommen war, aber eigentlich war es zu eng.
Ich sah zu Madde, die auf den Herd konzentriert war. Wir konnten beide nicht besonders gut kochen und hatten auch wenig Interesse daran. Und wie so oft dachte ich, wie komisch das alles war. Wie wunderbar. Dass diese großartige Frau in unserer Küche stand und Fleischbällchen briet. Dass sie von Stockholm zu mir in dieses kleine Nest im finstersten Småland gezogen war.
Madde war neunundzwanzig, ein paar Jahre älter als ich. In meinen Armen wirkte sie klein, aber eigentlich war sie mittelgroß. Sie war schlank und hatte eine gute Figur. Sport trieb sie nie, aber sie sah trotzdem fit aus, keine Ahnung, wie sie das schaffte. An diesem Abend trug sie enge schwarze Jeans (in deren Gesäßtaschen ich gern meine Hände schob) und ein weißes Oberteil, das das kleine Tribaltattoo über ihrem Steißbein verbarg. Die dunkelbraunen Haare gingen ihr gerade mal über die Ohren und ließen ihren schlanken Hals frei. Man sah, dass sie sie nicht hier in der Kleinstadt schneiden ließ. Etwa jeden zweiten Monat fuhr Madde nach Stockholm und ging dort zum Friseur.
Sie hatte ein hübsches, symmetrisches Gesicht mit hohen Wangenknochen und braunen Augen. Immer sorgfältig geschminkt mit viel Kajal und Rouge.
Besonders liebte ich an ihr jedoch die Dinge, die nicht ganz in das souveräne Bild passten. Die zeigten, dass sie kein Rockstar war, sondern ein ganz normaler Mensch. Ihre weißen Socken, die sich beim Waschen rosa verfärbt hatten. Wie sie sich mit den Zehen des einen Fußes den anderen kratzte. Wie sie unsicher am Herd stand und die verschiedenen Knöpfe unter die Lupe nahm, um mit dem richtigen das kochende Nudelwasser herunterzudrehen.
Hier war sie nicht in ihrem Element. Und ich war der Grund dafür. Wegen mir ertrug sie das alles. Um mit mir zusammen zu sein. Bei dem Gedanken wurde mir wieder mal bewusst, dass ich sie liebte.
An jenem Abend, nachdem mein Vater sich nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder bei mir gemeldet hatte, deckte ich den Tisch und mischte einen Salat aus Gurken, Tomaten und Mais. Madde stellte die abgegossenen Nudeln und die Pfanne mit den Fleischbällchen auf Untersetzer auf den Tisch. Ich holte noch das Ketchup, und wir setzten uns.
»Was hast du heute gemacht?«, fragte ich beim Essen.
»Nichts Besonderes«, antwortete sie. »Ich habe auf der Website vom Arbeitsamt nach neuen Stellenangeboten gesucht, aber sie hatten nichts.«
Als Madde im Winter zu mir gezogen war, arbeitete sie eine Weile auf dem Korseryd Herrgård, in der Vorweihnachtszeit und über Neujahr brauchte man dort zusätzliches Personal. Doch nach der Probezeit hatte man sie nicht übernommen. Seither war sie nicht sehr motiviert, etwas anderes zu finden, auch wenn sie jede Woche die Seite vom Arbeitsamt checkte. Zumindest behauptete sie das.
Ich verdiente nicht gerade die Welt, sagte aber trotzdem, sie solle sich Zeit lassen, ich könne die Miete und alles andere übernehmen. Doch davon wollte sie nichts hören, Widerstand zwecklos.
Madde kam aus einer reichen Familie. Villa in Danderyd, Sommerhaus an der Côte d'Azur. Ihre Mutter hatte altes Geld aus irgendeinem Industrieunternehmen mitgebracht und leitete die Rechtsabteilung eines Konzerns. Maddes Vater war Fotograf und eher der Künstlertyp, aber auf seine Weise sehr erfolgreich. Madde war die zweitälteste von vier Geschwistern und so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Ihre Mutter beschrieb sie als kalt, herrschsüchtig und lieblos, mit ihr war sie nie ausgekommen. Als Teenager hatte Madde rebelliert, oft die Schule geschwänzt und war mit achtzehn von ihren Eltern rausgeworfen worden. Seither hatte sie kaum Kontakt zu ihrer Mutter. Ihr Vater war sanfter, hatte ihr immer wieder mit Geld ausgeholfen und sie wenn nötig auch mal in seinem Atelier wohnen lassen. Sie hatte jeden möglichen Scheißjob in Stockholm gemacht, hatte sie erzählt. Und sie war mit dem Rucksack um die Welt gereist. Manchmal hatte sie ein paar Monate an einem Ort bleiben müssen, um Geld für die Weiterreise zu verdienen.
»Und wie war dein Tag?«, fragte sie.
»Gut«, antwortete ich. »Wie immer.« Ich nahm mir noch Nudeln und verteilte Ketchup darauf. »Sehr lecker.«
Madde lächelte schief und sah mich ironisch an. Sie wusste, dass sie alles andere als eine Spitzenköchin war.
Wir aßen schweigend. Gegen meinen Willen musste ich an meinen Vater denken, an den Traum von Klara. Madde merkte, wie geistesabwesend ich war.
»Ist irgendwas passiert?«, fragte sie schließlich.
»Nein, warum?«
»Du wirkst nachdenklich.«
»Nein, alles in Ordnung. Ich habe nach dem Training nur einen Riesenhunger.«
Madde nickte und sah auf ihren Teller. Sie wirkte nicht überzeugt. »Okay.«
»Wollen wir heute Abend einen Film anschauen?«
»Das klingt super.«
Ich konnte ihr aus dem ganz einfachen Grund nichts vom Anruf meines Vaters erzählen, dass sie dachte, meine Eltern seien tot. Bei einem Brand umgekommen, als ich noch ein Kind war. Und Madde war so einfühlsam gewesen, nicht weiter nachzufragen.
So war es mir am einfachsten erschienen. Wer rechnete schon damit, dass mein Vater sich nach so vielen Jahren melden würde? Und in gewisser Weise war es ja auch keine Lüge. Für mich war er tot.
Klara hatte ich nie erwähnt.
Madde legte ihr Besteck auf den Teller, sie war fertig. Ich spießte die letzten Fleischbällchen in der Pfanne auf.
»Du«, sagte ich, »mir ist gerade eingefallen, dass ich nach dem Essen noch mal los muss. Ich habe Großvater versprochen, ihm bei etwas zu helfen. Er ist gerade im Sommerhaus.«
»Aha.«
»Es dauert nicht lange. Wir können uns danach noch was anschauen.«
»Okay.«
Es stimmte, dass mein Großvater in seinem Haus auf dem Land war, aber wir hatten nichts vereinbart. Ich musste ihm nur erzählen, dass sich mein Vater gemeldet hatte, und das wollte ich nicht am Telefon machen, damit Madde nichts hörte.
Vor zwölf Jahren hatte mein Großvater nach meiner letzten Begegnung mit meinem Vater zu mir gesagt, ich müsse es ihm sofort erzählen, wenn er sich noch einmal melden sollte. Ich dürfe ihn auf keinen Fall allein treffen. Auf gar keinen Fall.
Das hatte ich ihm damals hoch und heilig versprochen, und dieses...
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