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Trond Lie war erst ein einziges Mal in der schmucken Kirche von Longyearbyen gewesen. Das war am achten März, dem Tag, an dem sich die Sonne jedes Jahr langsam, ja fast mühsam, über die spitze Bergkette im Süden der kleinen Siedlung schob, was von den Einwohnern der Stadt mit diversen Festlichkeiten gefeiert wurde. Alle Kinder Longyearbyens aus der Schule und dem Kindergarten und auch viele Erwachsene versammelten sich rund um die kleine Holztreppe des ersten Krankenhauses des Orts, um auf das Erscheinen der Sonne zu warten.
Das kleine Stück Treppe wurde hier fast wie eine Reliquie verehrt und zu allen möglichen Gelegenheiten vor der Kirche aufgestellt und mit Liedern der Schüler und Kindergartenkinder geradezu überschüttet.
Die Griechen hatten ihre kaputte Akropolis, die Römer das marode Kolosseum, und die Menschen auf Svalbard huldigten eben dem Stück einer alten Holztreppe.
Der Tag der Rückkehr der Sonne nach einer vier Monate anhaltenden dunklen Polarnacht war wohl der wichtigste Tag im Jahreskalender des alten Grubenstädtchens.
Vor der Begrüßung der Sonne fand eine kleine Feier im Kirchenraum statt. Bei dieser Gelegenheit hatte Trond auch Pfarrer Morten Hagebak zum ersten Mal gesehen. Von der neunten und letzten Stuhlreihe der überfüllten Kirche aus hatte Trond einen guten Blick auf die imposante Gestalt des evangelischen Pfarrers gehabt, der mit seinem Vollbart und dem dunkelgrauen, leicht wirren Haarschopf eher einem etwas zu groß geratenen, freundlichen Troll glich als einem Priester.
Die Kirche sei, wie Hagebak ihm hinterher bei einem Kaffee im Gemeindesaal erklärte, schon die zweite auf Svalbard und stamme aus dem Jahr 1958. Ihr Innenraum war aus hellem Holz mit eisblauen Paneelen und Verzierungen gestaltet. Die erste Kirche des Ortes war im Zweiten Weltkrieg im Jahr 1943 durch Bomben der deutschen Schlachtschiffe Scharnhorst und Tirpitz komplett zerstört worden. Bereits zwei Jahre zuvor hatte man alle Einwohner von Longyearbyen und dem Rest von Svalbard evakuiert und die liturgischen Gegenstände in Sicherheit gebracht.
Dies sei die einzige Kirche auf ganz Svalbard, hatte Hagebak ihm erläutert und dann den Teller mit den akkurat geschnittenen Kuchenstücken weitergereicht, nachdem er sich zwei davon, in jede Hand eines, genommen hatte. Barentsburg verfüge nur über eine kleine Kapelle neueren Datums. Und deshalb sei diese Kirche, die selbstredend die nördlichste der Welt sei, auch offen für alle Gläubigen, egal ob Christen, Moslems, Juden oder Buddhisten. Sie bleibe rund um die Uhr geöffnet.
Hagebak kratzte sich an seinem strubbeligen Krauskopf. Nein, eine andere Konfession als die eben genannten gebe es zurzeit nicht auf Svalbard. Nicht, dass er wüsste.
»Longyearbyen ist ja ein multikulti Ort, möglicherweise der multikultigste Ort der Welt. Wir haben hier über zweitausend Einwohner aus fast fünfzig Nationen. Wer hat das schon?«
Morten Hagebak blickte in die Runde der Gemeindemitglieder, als erwarte er Applaus.
Trond wiegte bedächtig den Kopf, wie es seine Art war.
»Und das funktioniert reibungslos?«, fragte er den Geistlichen.
Der Pfarrer nickte so heftig, dass seine krausen Locken tanzten.
»Ja, tatsächlich. Und nach den Norwegern sind die Thais die größte Gruppe, dann kommen die Schweden - oder vielleicht die Deutschen?«
Er strich sich über den Bart und nahm noch einen Schluck Kaffee.
»Was ist mit den Filipinos?«
Ingvild, die sich extra für die Feier zwei Stunden frei genommen hatte, schaltete sich mit dieser Frage ein. Sie strahlte Bjarne an, der als kleine Sonne verkleidet war.
»Ja, klar, die sind auch unter den ersten fünf. Dann gibt es noch zahlreiche Ukrainer - nicht nur in Barentsburg - und Russen, Chilenen und Briten .« Jetzt musste Hagebak nachdenken.
»Und Afghanen, Isländer, Iraker, Letten und Chinesen«, warf Ingvild ein. »Das sind die häufigsten Nationen hier oben.«
»Auch Afrikaner?«, fragte Trond dazwischen.
»Hm, gute Frage«, erwiderte der Pfarrer. »So gut wie keine. Das mag damit zusammenhängen, dass bis auf Südafrika und Ägypten kein afrikanischer Staat den Spitzbergenvertrag unterzeichnet hat. Der gibt jedem Einwohner von fast fünfzig Staaten das Recht, hier zu leben und zu arbeiten, ohne Visum und Aufenthaltsgenehmigung. Das ist einmalig auf der Welt.«
Trond nippte am Kaffee, der ihm zu stark war. Seit seinen Schlafstörungen in den ersten Wochen nach seiner Ankunft auf Svalbard war er, was seinen Kaffeekonsum betraf, vorsichtig geworden.
»Ja, aber Thailand und die Philippinen haben auch nicht unterschrieben«, warf er ein, »und trotzdem sind viele Menschen aus diesen beiden Ländern hierhergekommen und geblieben. Aber kein einziger Nordkoreaner - obwohl die den Vertrag 2016 auch unterzeichnet haben und sich ebenfalls ohne Probleme hier tummeln dürften.«
»So einfach ist es also nicht«, schloss Ingvild, während sie sich nach den Kindern umsah, die weiter hinten im Kirchen-café spielten. Dann wandte sie sich wieder zu ihrem Vater und dem Pfarrer.
»Aber Morten kennt sich sehr gut aus, Papa«, sagte sie. »Vor seiner Zeit in Longyearbyen war er in der mobilen Einsatztruppe der Vereinten Nationen auf der ganzen Welt tätig, und zwar in der Flüchtlingshilfe. Morten war in der Szene bekannt und hat viele Schleuserbanden zur Strecke gebracht. Er hat mir mal Fotos und Artikel aus dieser Zeit gezeigt, wirklich beeindruckend.«
Trond zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Da haben Sie sicher viel gesehen.«
Der Troll nickte freundlich und hob die Tasse vor seine Nase. Ingvilds Lob war ihm offenbar etwas peinlich.
»Und gelernt. Ich hatte ja, wie Ingvild gerade erwähnte, unter anderem mit Menschenhandel zu tun. Wir haben versucht, die Drahtzieher dingfest zu machen. Ein ganz übles Geschäft. Ich bin heilfroh, dass ich jetzt am wohl einzigen Ort der Welt bin, an dem so etwas nicht möglich ist. Der Spitzbergenvertrag garantiert ein friedliches Zusammenleben ohne gesetzliche Druckmittel.«
Das war Tronds erste Begegnung mit dem Pfarrer gewesen.
Inzwischen war es Juni geworden und Sysselmann Mette Møller hatte ihn hier in die Kirche gebeten. Am Telefon hatte sie nichts verraten wollen, nur dass sie dringend seine Hilfe brauche.
Trond zog sich im Vorraum gerade seine Schuhe aus - endlich war die Zeit der Stiefel für ein paar Monate vorbei und man konnte leichteres Schuhwerk tragen -, als die Tür aufflog und die geradezu mediterran gekleidete Gouverneurin von Svalbard die Garderobe betrat. Hier gab es viel Platz für dicke Daunenjacken, Overalls, Mützen, Schals, Handschuhe und die typischen Gesichtsmasken, die Strümpfen ähnelten und in den dunklen Monaten dringend nötig waren. Ohne diese Masken einem Januarsturm auf Svalbard zu trotzen, war nicht nur leichtsinnig, sondern schlichtweg dumm, wie Trond sehr schnell an den eigenen halberfrorenen Wangen hatte erfahren müssen.
Mette Møller trug ihr langes helles Haar heute als Pferdeschwanz statt in dem strengen Dutt, den sie meist bevorzugte. Der legere Look verlieh ihr etwas Leichtes, doch nicht Unseriöses, wie Trond fand. Dazu trug sie über ihrer Jeans eine karierte Bluse und hatte sich eine grün gestreifte, dünne Strickjacke um die Schultern geknotet. Gewagt. Es hatte gerade mal zehn Grad.
Aber es war eben Sommer, arktischer Sommer.
»Hei, Mette!«, begrüßte er sie, richtete sich auf und ging auf sie zu. Er freute sich, sie zu sehen.
Seit den Morden im Schatten der Grube Svea im Januar, bei der etliche Wissenschaftler umgebracht worden waren und in die verschiedene Geheimdienste verstrickt gewesen waren, hatten sich ihre Wege kaum gekreuzt.
»Gut, dich zu sehen, Trond«, erwiderte die Chefin der Polizei und aller Behörden auf Svalbard.
Mette Møller hatte damals wegen des schlechten Wetters nicht gleich Verstärkung aus Tromsø erhalten und deshalb dem frisch pensionierten Kriminalkommissar Trond Lie zunächst die Ermittlungen übertragen.
»Na, hast du dich mittlerweile an die Arktis gewöhnt?«
Trond Lie hasste die Arktis. Zumindest im Winter. Er war, wie er nicht müde wurde zu betonen, ausschließlich wegen seines Enkels hierhergekommen und äußerte sich zum Rest nur ungern.
Nicht zur Dauerdunkelheit, die ihn anfangs mit einem handfesten Polarkoller fast um den Verstand gebracht hätte, nicht zur eisigen Kälte, nicht zu dem ewigen umständlichen An- und Ausziehen, Überstreifen und Auf- und Zuknöpfen von irgendwelchen Kleidungsstücken.
Nicht einmal zu dem alten Mann im Pelzmantel, dem König der Arktis, dem Eisbären, dem er damals dreimal begegnet war, was er tatsächlich nur mit viel Glück und der Unterstützung von Oleg Kalinin, dem Freund seiner Tochter, und der jungen Frida van Namen überlebt hatte.
Da wurde die Tür zur Kirche geöffnet und Pfarrer Hagebak stand mit einem Gewehr in der Hand im Raum. Er lachte und ergriff, ohne zu zögern, erst Mettes, danach Tronds Hand und schüttelte sie. Dann blickte er auf seine großkalibrige Waffe.
»Ich bin wohl der einzige Pfarrer auf der Welt, der seine Gäste mit einem Gewehr in seiner Kirche begrüßt. Entschuldigung, aber ich war auf dem Weg zum Waffenschrank, der hier in der Ecke steht.«
Mit langen Schritten durchquerte er die Garderobe und trat auf einen Holzschrank zu, der Trond bis jetzt nicht aufgefallen war. Er zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche, drehte ihn im Schloss und öffnete den Schrank. Darin hingen ordentlich aufgereiht etwa zehn Gewehre. Hagebak hängte die Waffe, die er trug, daneben.
Der Pfarrer stutzte und...
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