Schweitzer Fachinformationen
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Vier Personen treffen in einem Intercity-Zug aufeinander. Alle haben ein Minimum an Gepäck dabei, obwohl ihre Reise weit ist. Ihre Freiheit unterscheidet sich ebenso grundlegend wie ihr Lebensglück. Die existenzielle Befindlichkeit der vier Reisenden macht eines deutlich: Materielle Einschränkung kann Ausdruck von innerer Freiheit wie auch von bitterer Not sein. Es gilt gut hinzuschauen! Dieses Buch handelt von Formen der Bescheidung, die mit innerer und äußerer Freiheit zusammenhängen.
Zwei der vier Reisenden, die sich im Frühling 2022 im Viererabteil eines gut gefüllten Zuges der Deutschen Bahn zusammenfinden, sind aus der Ukraine geflohen. Die junge Mutter ist mit dem Töchterchen an der einen Hand und einem großen Rollkoffer an der anderen eingestiegen, die Kleine mit einem Rucksäckchen und ihrem liebsten Stofftier. Nach tagelanger Flucht reisen sie nun durch ein fremdes Land und werden in der Schweiz stranden, ohne zu wissen, was sie da erwartet. Ich wage kaum, mir vorzustellen, wie es mir erginge: aus einem verheerenden Krieg evakuiert zu werden, eine Stunde Zeit zum Packen zu haben, einen Koffer mitnehmen zu können und ihn mit Kleidern, Verpflegung und zwei, drei liebsten Gegenstände zu füllen - und Tage später von Dagebliebenen zu erfahren, dass das eigene Zuhause nun zerstört, die Wohnung zerbombt, das Zurückgelassene verbrannt ist. Die fliehende Ukrainerin hat zudem die quälende Sorge auszuhalten, dass ihr Mann im Krieg weiterkämpft; dazu hat sie ihm die Kreditkarte für das ersparte Geld in der bedrohten Heimat gelassen.
Den beiden gegenüber sitzen ein Pilger und ein Minimalist. Der Pilger reist nach Le Puy-en-Velay, wo unweit der Loire-Quellen ein historischer Ausgangspunkt der französischen Jakobswege liegt. Von da aus wird er zu Fuß rund 1500 Kilometer weit nach Santiago de Compostela pilgern. Sein Gepäck hat er so leicht wie möglich gehalten, um unbelastet und leichtfüßig unterwegs zu sein. Hightech-Kleider und -Materialien reduzieren das Gewicht. Mit Schlafsack und Isomatte liegen auch improvisierte Übernachtungen drin, doch vertraut er auf Pilgerunterkünfte mit Duschen, Wasch- und Kochgelegenheit. Vor ihm liegen zwei Monate Freiheit, die am Morgen nicht wissen muss, wo sie am Abend lagert. Erwartungsvoll blickt er auf diese Auszeit vom Alltag und freut sich auf wechselnde Gefährtenschaft. Im krassen Gegensatz zu den beiden Geflüchteten erwartet ihn danach wieder das vertraute Zuhause, seine Angehörigen und Freunde, sein berufliches Leben und seine Hobbies.
Der Vierte in dieser zusammengewürfelten Gruppe ist ein junger Schweizer Unternehmer auf der Rückreise nach Zürich. Da er weltweit tätig ist und kaum mehr als drei Tage an einem Ort bleibt, hat er seine Wohnung verkauft und lebt seither in Hotels und bei Freunden. Auch er hat sein Gepäck reduziert, dauerhaft! Alle seine Gegenstände sind schwarz, um ihm auch die tägliche Kleiderwahl leicht zu machen - und weil so seine Objekte beim schnellen Einpacken auf weißen Hotellaken weniger leicht verlorengehen. Der moderne Minimalist ist begegnungsfreudig und reist daher auch mal in der 2. Klasse der Bahn. Er lässt den Pilger an seiner Seite in eine Doku des Schweizer Fernsehens schauen, die seinen Lifestyle darstellt. Genau 64 Gegenstände reichen ihm für sein Leben, und sie haben im Handgepäck Platz, was ihm die Flugreisen enorm erleichtert. Hinzu kommen ein gut dotiertes Bankkonto und Besitzanteile an mehreren Firmen rund um den Erdball. »Darum ist er immer unterwegs. Sein Büro ist dort, wo es Internet gibt«, hält die TV-Journalistin fest.1 In einem Monat fliegt der Unternehmer nahezu zweimal um die Erde. Damit hat der dynamische Single zwar ein spannendes Leben ohne drückendes Gepäck, doch auch einen verheerenden ökologischen Fußabdruck. Es bräuchte eine Vielzahl von Erden, um seinen Verbrauch an Energie und Ressourcen hochgerechnet auf die Weltbevölkerung zu decken.2
Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman (1925-2017) hat von der modernen Mobilität auf zwei Grundhaltungen in unserer Gesellschaft geschlossen. Seine Diagnose lautet etwas zugespitzt: In Europa und den USA leben viele Menschen in der inneren Haltung von Touristinnen und Touristen, andere in der von Vagabundierenden. Auf die zusammengewürfelte Vierergruppe im Zug angewandt: Der um die Welt jettende Unternehmer, der sich in Hotels verwöhnen lässt und Flugmeilen summiert, steht für die erste Grundhaltung: Wer arbeitet, darf es sich auch gut gehen lassen, sich etwas gönnen und als Gast König sein.
Für Bauman spiegelt sich im klassischen Tourismus die perfekte Konsumhaltung: Der Tourist wählt in Freiheit, wohin er gehen will, und er bestimmt Reisemittel und Aufenthaltsorte nach eigenem Geschmack. Die Touristin hat weder Lust noch Zeit, sich mit etwas abzugeben, das sie unnötig in die Pflicht nimmt, und sie findet keine Zeit, sich um die Probleme anderer zu kümmern. Auch eigene existenzielle Fragen sind oft aufgeschoben. Die Welt lässt sich genießen - und es gilt, von ihren Angeboten möglichst zu profitieren.
Vagabunden und Geflüchtete sind die anderen, die unterwegs sind: Auch sie sind in Bewegung, allerdings ohne die Wahlfreiheit, ihr Ziel zu bestimmen, sondern von Verzweiflung getrieben und von der Not, ihr Überleben zu sichern. Ihr Geschick erinnert daran, dass die Welt kein selbstgemachtes Paradies ist, sondern dass das Prekäre hinter jeder Ecke steht. Auch viele Migranten und Migrantinnen vagabundieren. Sie reisen auf der Flucht vor wirtschaftlicher oder politischer Not durch die Welt in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Viele hoffen, einmal den Standard zu erreichen, den sie bei Touristinnen und Touristen erleben.3
Was Baumans Skizze nicht mitberücksichtigt, ist eine dritte Grundhaltung: die von Pilgernden. Familienmenschen und Singles ziehen ein paar Tage, Wochen oder Monate zu Fuß durchs Land, setzen sich Wetter und Wegen aus, scheuen auch vor Ungewissem und Prekärem nicht zurück, gehen zielgerichtet, bleiben durch Auf und Ab unterwegs, kommen dabei mit Freuden und Sorgen der Bevölkerung in Kontakt, und sie erfahren, dass das gemeinsame Ziel schon unterwegs unterschiedlichste Menschen verbindet. Das glückliche Ankommen wird - so erzählen Pilgernde aus vielen Jahrhunderten - für Leichtfüßige wie für Strapazierte zum großen Fest. Unterwegs dahin lebt das Pilgern von der Kunst, ohne unnötige Last zu wandern, solidarisch auf dem Weg zu sein, liebe Orte loszulassen und täglich Neuland zu wagen, zielgerichtet zu bleiben, persönlich voranzuschreiten und sich von guter Gefährtenschaft ermutigen zu lassen.
Alle drei Grundhaltungen lassen sich auf das Alltagsleben beziehen: Die Maximierung des individuellen Genusses unter großzügigem Einsatz der eigenen Mittel in Wohnen, Essen, Kleidung und Freizeitgestaltung steht dem Geworfensein von Menschen gegenüber, die äußerlich oder auch innerlich nirgends zu Hause sind, ihre Sicherheiten verloren haben und bang in die Zukunft schauen. Pilgerspiritualität im eigenen Alltag begnügt sich mit dem materiell Notwendigen, bindet sich nicht an Dinge und Orte und sieht das Leben als Weg in einer herausfordernden Welt, die sich ebenso reizvoll zeigt wie sie Strapazen kennt.
Dieses Buch handelt nicht von materieller Not und davon, was hilfreich sein kann, Armut und Elend zu überwinden. Es handelt auch nicht von der Glücksuche jener, die sich materiell gut absichern und sich vieles leisten. Es geht hier um eine Lebenskunst, die Pilgernde erahnen und von der Philosophien aller Zeiten und unterschiedlichste Religionen sprechen. Vier ausgewählte Zitate können dafür illustrativ stehen:
Nichts gehört uns wirklich, außer der Zeit! - Geld hat noch keinen reich gemacht. - Nicht wer zu wenig hat, sondern wer mehr begehrt, ist wahrhaft arm. - Betrachte alles Irdische um dich herum als Ausstattung einer Herberge: Mache dich auf den Weg und setze deine Wanderung fort!
Seneca Briefe an Lucilius4
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Wir lieben . unser Haus und unseren Hof und unsere Tiere. Wir haben Freude an der Seide aus Benares und genießen den Duft des Sandelholzes. Ein Verzicht auf diese Freuden kommt uns wie der Sturz in einen Abgrund vor (.). Solchen Hausleuten habe ich dann immer gesagt, dass es mir einmal genauso ging, als ich noch im Haus lebte und die Sinnenfreuden genoss, als ich noch nicht das Glück der Stille erfahren hatte, noch nicht aus dem leidvollen Lebenstraum erwacht war.
Siddhartha Gotama Buddha Mein Weg zum Erwachen5
Jede Nation ist ihnen Heimat, und jedes Vaterland ist ihnen ein fremdes Land. Die frühe christliche Kirche über ihre Mitglieder Brief an Diognet6
Ein Rabbi bekam Besuch. Außer einem Bett, einem Tisch, einem kleinen Schrank und ein paar Büchern war nichts im Zimmer. Der Besucher: »Haben Sie keinen weiteren Besitz?« Darauf der Rabbi: »Sie haben ja auch nur wenige Dinge bei sich.« Der Besucher: »Ich bin doch nur auf der Durchreise.« Der Rabbi: »Genau wie ich!«
Weisheit der jüdischen Chassidim Auf Durchreise7
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