Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Rom, Italien
5:12 Uhr, La Spezia, Italien. Er stieg in den Zug und machte, eingelullt vom Schaukeln des Waggons, ein Nickerchen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
6:22 Uhr, Pisa Centrale. Er würde nicht den Shuttlebus zur Piazza dei Miracoli nehmen. Würde sich nicht den Schiefen Turm ansehen und sich vorstellen, wie Galilei Kugeln herabfallen ließ, um sein Fallgesetz aufzustellen. Nicht seine Kreativität demonstrieren, indem er sich selbst dabei fotografierte, wie er den Turm stützte.
Ehe er ausstieg, ging er auf die Zugtoilette, stopfte sein leuchtend gelbes Kapuzensweatshirt in den Mülleimer und ersetzte es durch ein rotes Trainingsanzugoberteil. Dann wechselte er den Bahnsteig und bestieg den Zug um 6:29 Uhr nach Florenz. Er suchte sich einen Platz und schlief erneut ein.
Die ganz frühen Züge sind nur selten verspätet. Um 7:29 Uhr traf er in Firenze Santa Maria Novella ein. Unterwegs hatte der Zug sich gefüllt. Die meisten Ankömmlinge wandten sich beim Verlassen des Bahnhofs nach Südosten und steuerten die Kuppel an, die Brunelleschi für die Kathedrale Santa Maria del Fiore entworfen hatte. Dort würden sie die vierhunderteinundsechzig schmalen Stufen hinaufkeuchen und -schnaufen, um stolz auf die windgepeitschte alte Stadt unter ihnen hinabzublicken.
Sein Plan war, erneut den Bahnsteig zu wechseln und den Zug um 8:08 Uhr nach Rom zu nehmen. Er änderte den Plan, ging auf die Bahnhofstoilette und zog einen kurzen schwarzen Mantel an. Schon wollte er das Trainingsanzugoberteil in einem Zwischenraum über der Toilette verstecken, da fiel ihm der alte Mann ein, den er draußen in einer Ecke neben dem Eingang zum WC gesehen hatte, zusammengerollt, das Gesicht in den Armen vergraben. Behutsam drapierte er die rote Jacke um die Schultern des Mannes.
Dann ging er zum Busbahnhof. Dort fuhr um 8:02 Uhr ein Bus nach Perugia. Er hielt in sämtlichen kleinen Städten, doch es blieb noch jede Menge Zeit. Ein Fehler jedoch: Er hätte das Kapuzensweatshirt behalten sollen. Der Mantel war zu förmlich für einen Touristen. Nichts mehr zu machen. Er holte einen Rucksack aus seinem Koffer und verstaute Letzteren dann hinter einem Zeitungskiosk.
Der Bus fuhr pünktlich ab. Bei einem Halt in Arezzo kaufte er sich einen Kaffee und ein Schokocroissant. Die Italiener liebten ihre Süßigkeiten. Sie waren wie Ameisen.
10:54 Uhr, Perugia. Er eilte zum Bahnhof, um den Zug um 11:05 Uhr nach Rom zu erreichen; keine Zeit, um in Erinnerungen an das hiesige geschmorte Kaninchen zu schwelgen. Kein Kleiderwechsel diesmal, nur eine Ergänzung, eine Yankees-Kappe. Drei weitere Stunden, um Schlaf nachzuholen.
Im Zug war es ruhig: vier Backpacker mit schottischem Akzent; drei Geschäftsreisende, die es kaum erwarten konnten, an ihre Laptops zu kommen; eine allein reisende Frau aus Taiwan, vielleicht auch Hongkong. Er wählte einen Sitz am Ende des Waggons und schlief ein. Das lag nicht nur daran, dass er in der Nacht zuvor nicht geschlafen hatte. Er wusste einfach nicht, wann er das nächste Mal Gelegenheit zum Schlafen haben würde.
Um 14:01 Uhr fuhr der Zug in Roma Termini ein, fünf Minuten verspätet. Er stieg aus und fand sich in einer quirligen Menschenmenge. Beim Verlassen des Bahnhofs wandte er sich nach Süden, fort von den Massen, die zur Piazza della Repubblica strebten, und steuerte auf eine Reihe Schließfächer neben einem Kaffeestand zu. Mit einem Schlüssel öffnete er eines der Fächer. Gut: wie erwartet zwei zugeklebte Plastiktüten. Er nahm sie an sich und ging gegenüber in eine Gasse, wo er einen algerischen Laden betrat. In einer dunkelbraunen Safarijacke mit Lederflicken an den Ellbogen und mit einem Rollkoffer im Schlepptau kam er wieder heraus.
Die Gassen in der Umgebung des Bahnhofs waren von Flüchtlingen und Immigranten bevölkert. Er schlug eine Adresse nach und kam bald zu einem hohen Gebäude, das der Smog mit einer gelbgrauen Schmutzschicht überzogen hatte. Mit dem Aufzug fuhr er in den vierten Stock. Die Glastür öffnete sich mit einem Summen.
Das Gebäude beherbergte drei Hotels: das Hotel Hong Kong, das Hotel Shanghai und im vierten Stock das Hotel Tokyo. Der mittelalte Mann mit dem Bierbauch im Hotel Tokyo stellte keine Fragen, sondern händigte ihm im Austausch für dreißig Euro einen Schlüssel aus.
Das Zimmer war schlicht. Ein Bett, ein Stuhl und ein so kleiner Fernseher, dass man sich die Nase am Bildschirm platt drücken musste, um etwas zu erkennen. Das Telefon - so alt, dass es vielleicht schon Vintage war - klingelte um exakt 14:40 Uhr. Er meldete sich.
Eine Frauenstimme, was ihn aus der Fassung brachte. War sie das? »Hotel Relais Fontana di Trevi«, sagte sie.
»Wo ist Eisenschädel?«
Seine Gesprächspartnerin senkte die Stimme und verriet keinerlei Gefühle. »Das Zimmer ist reserviert. Zweiter Pass.«
Ehe er nachhaken konnte, war die Leitung tot.
Er öffnete seinen neuen Koffer, in dem sich eine lange Reisetasche und weitere Kleidung befanden, zog die Safarijacke und die Jeans aus, warf sie in den Koffer und schob ihn unters Bett, zog eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke an, setzte eine schwarze Wollmütze und Kopfhörer auf. Mit der Reisetasche über der Schulter verließ er das Zimmer.
An der Rezeption war niemand; der Mann mit dem Bierbauch sah nun im Hinterzimmer Fußball. Er verließ das Hotel und ging über die vollgestellte Treppe nach unten.
Wieder auf der Straße, zog er ein Allzweckwerkzeug aus dem Ärmel und knackte das Schloss an einem der zahlreichen Fahrräder, die am Geländer angeschlossen waren. Er schob das Rad einige Schritte weiter und schwang sich auf den Sattel.
Durch abgelegene Gassen fuhr er nach Westen bis zur Metrostation Barberini, wo er das Fahrrad stehen ließ und sich in Trab setzte, um sich einer Gruppe Japaner anzuschließen, die einem Fähnchen folgten. An der Fontana di Trevi löste er sich von den silberhaarigen Touristen und schlängelte sich durch die geschäftige Menge zu einem Hotel an der Südseite des Platzes.
Dort reichte er dem breit lächelnden Angestellten einen Pass, den dieser betrachtete und ihm mit einer Schlüsselkarte zurückgab. »Nur eine Nacht?«
Er lächelte und nickte.
»Aus Korea? Meine Freundin spricht ein bisschen Koreanisch.«
Er lächelte und nickte erneut. Der Mann im Hotel Tokyo hatte einen unscheinbaren Asiaten gesehen. Dieser Angestellte sah einen schüchternen Koreaner mit schlechten Englischkenntnissen.
Seelenruhig ging er zum Aufzug und gelangte unbehelligt in Zimmer 313. Einhundertfünfzig Euro für ein einfaches Zimmer mit einem Fenster, das den Lärm der Menschenmassen draußen nicht abschirmte.
Er riss die erste der beiden Plastiktüten aus dem Gepäckschließfach auf, und ein großer brauner Umschlag fiel heraus, der zwei Fotos enthielt: das eine eine Halbprofilaufnahme eines Asiaten in mittlerem Alter; das andere offenbar ein Tisch auf einer Caféterrasse, mit einem X markiert. In der zweiten Tüte ein ganz und gar nicht smartes Mobiltelefon, ein silbernes Candybar-Nokia 7610. Er steckte es in die Tasche.
Der Adidas-Reisetasche entnahm er ein Zielfernrohr, das in eine schützende Schicht Unterwäsche gebettet war. Er wickelte es aus und beobachtete durchs Fenster die Fontana di Trevi und den Platz davor. Trotz der jahreszeitlichen Kälte waren noch immer zu viele Menschen hier, undeutliche Gestalten, die kreuz und quer durch sein Blickfeld liefen. Hatten sie unbedingt das beliebteste Touristenziel der Welt für diesen Auftrag auswählen müssen? Jeden Tag wurden Münzen im Wert von dreitausend Euro in den Brunnen in der Mitte des Platzes geworfen, wurden zehntausend Fotos vom Meeresgott Oceanus mit grinsenden Touristen gepostet.
Er zog einen Rollkragenpullover an, setzte seine Sonnenbrille wieder auf und hängte sich eine Kamera um den Hals. Wie Eisenschädel gesagt hatte: Wenn du die Umgebung nicht ändern kannst, werde ein Teil davon.
Unten auf dem Platz verschmolz er mit den Touristenströmen, stöberte in einigen Souvenirläden und nahm dann in einem Café Platz. In den Macchiato, den er dort bestellte, gab er wie die Italiener zwei kleine Löffel Zucker und biss - natürlich - in einen sizilianischen Cannolo.
Er blätterte in dem Donato-Carrisi-Roman, den er bei sich trug, und betrachtete das Foto, das im Buch lag. Der runde Tisch gleich vor dem Fenster war der mit X gekennzeichnete. Vom Hotelzimmer aus würde er gute Sicht auf den Tisch haben, die Entfernung betrug etwa hundertfünfundzwanzig Meter. Die Gebäude, die den Platz umgaben, würden den Wind größtenteils abschirmen, und nichts wäre im Weg. Außer Menschen.
Doch es gibt eine Lösung für jedes Problem. Im Durchschnitt dauert es vier Sekunden, bis jemand auf einen Schreck reagiert. Sagen wir sicherheitshalber drei Sekunden. Das bedeutete, ihm blieben drei Sekunden, nachdem er sich um einen etwaigen Passanten in der Schusslinie gekümmert hatte. Drei Sekunden, um seinen zweiten Schuss abzugeben, von dem Augenblick an, in dem besagter Passant zu Boden ging.
Das würde eine Kugel mehr bedeuten, aber das war kein Grund zur Sorge. Mit seinem Telefon schoss er ein Foto...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.