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Um 9:17 Uhr schlug der Präsident sich die rechte Hand auf den Bauch. Er krümmte sich zusammen wie eine Garnele, dann kippte er nach rechts. Seine Hand löste sich vom Bauch, er packte das Geländer vor sich und hinterließ einen leuchtend roten Fleck darauf. Blut tropfte auf den Boden des Jeeps und bildete dort eine Pfütze in Form einer Chilischote.
Um 9:11 Uhr war Präsident Hsu Huo-sheng - von seinen Personenschützern seines Vornamens wegen, der wörtlich »der Feuergeborene« bedeutete, mit dem Codenamen »Phönix« belegt - mit seiner Fahrzeugkolonne in die Huayin Street eingebogen. Es war die Endphase des Präsidentschaftswahlkampfs. Hsu war als Workaholic bekannt, der morgens um sechs aufstand. Das hatte er schon als einfacher Anwalt getan, und als er Präsident geworden war, hatte er diese Gewohnheit beibehalten. Jeden Morgen ging er eine halbe Stunde aufs Laufband, bevor er beim Frühstück die Papiere zu seinem Briefing für den Tag las. Und diese Zeit war ihm heilig. Niemand, nicht einmal die First Lady selbst, wagte es, ihn zu stören.
Das Frühstücksmenü des Präsidenten fand Erwähnung in den Lebenserinnerungen eines kürzlich in Rente gegangenen Butlers im Wohnsitz des Präsidenten: Rindfleischsuppe auf Tainan-Art, um zu zeigen, woher er kam. Zwei einseitig gebratene Spiegeleier, wie die Amerikaner sie mochten, dazu acht Teigtaschen nach Festlandart mit Schweinefleisch und Frühlingszwiebeln, um zu zeigen, dass er nach allen Seiten hin offen war.
Der Präsident glaubte daran, so sein ehemaliger Butler, dass das Frühstück die Energie für den gesamten Tag lieferte. Es war daher von entscheidender Bedeutung zu essen, bis der Bauch voll war. Das Mittagessen konnte er auslassen, es sei denn, er hatte einen dienstlichen Termin, und dann bestand es in der Regel aus einem Bambusblattpäckchen mit Klebreis und Fleischfüllung und einer Vier-Kostbarkeiten-Suppe. Zum Abendessen bevorzugte er Steak, idealerweise in Streifen geschnitten und mit einem Hauch Sojasoße, Wasabi und kross gebratenem Knoblauch. Dazu Reis.
Präsident Hsus Vor-Frühstückslaune war berüchtigt. Einer Geschichte zufolge, die nach außen gesickert war, hatte er sich einmal an der Krawatte gestört, die man ihm herausgelegt hatte: »Was soll ich nur machen?«, hatte er getobt. »Einen Krawattendiener beschäftigen?« Diese Anekdote war selbstverständlich mehrfach von einem Sprecher des Präsidialamtes bestritten worden. Doch es stimmte, dass niemand den Präsidenten ansprach, bevor er gefrühstückt hatte. Und er lächelte nie, solange er sich in seinem Wohnsitz befand, auch nach dem Frühstück nicht. Sein Lächeln war das eines Politikers - seine Mitarbeiter, selbst der Premierminister, bekamen es nur selten zu sehen. Den Wählern hingegen war sein ungetrübtes Strahlen sicher.
Sehen Sie, Politiker lieben Wählerstimmen noch mehr als Wähler das Geld.
Der von seiner Wahlkampfzentrale veröffentlichte Zeitplan war in halbstündliche Slots unterteilt. Jeder Tag begann um 7:30 Uhr mit einer Besprechung in der Zentrale, an der Hsu teilnahm. Allgemeine Fragen wurden bis acht Uhr abgehandelt, danach besprach Hsu sich vertraulich mit seinen engeren Beratern. Um 8:45 Uhr stieg er dann in den Jeep und begab sich auf Wahlkampftour.
Der Start war auf 9:00 Uhr terminiert, um dem dichtesten Berufsverkehr zu entgehen. Die Fahrzeugkolonne fuhr auf der langsamen Spur, und Hsu im Heck des Jeeps winkte den Wählern und Wählerinnen zu, die aus ihren Bürofenstern sahen.
Präsident Hsu liebte den Wahlkampf. Während seiner ersten Amtszeit war im Leitartikel einer Zeitung gespottet worden: »Hsu ist möglicherweise der einzige Mensch in Taiwan, der am liebsten jedes Jahr Wahlen hätte.«
In den vorigen Wahlkampf war er mit einem Rückstand von siebzehn Prozentpunkten gegangen, den er auf drei Prozentpunkte gesenkt hatte. Letztlich hatte er mit einer Mehrheit von bloß 38808 Stimmen sensationell den Sieg errungen.
Den Lebenserinnerungen des Butlers zufolge hatte Hsu gleich am Tag seines Einzugs den gesamten offiziellen Wohnsitz erkundet. Der Butler hatte angenommen, der neue Präsident sei bloß neugierig auf sein neues Zuhause, doch dann wurde der wahre Grund ersichtlich. In dem Flur, an dem die Zimmer für ausländische Gäste lagen, war er stehen geblieben und hatte auf die Wand gedeutet: »Hängen Sie diese Gemälde in die Bibliothek. Ich möchte hier ein Foto des amtlichen Wahlergebnisses hängen haben.« Und zwar nicht nur mit den Stimmen für ihn selbst, stellte der Butler klar, sondern mit den Stimmen für alle Kandidaten.
Denn es gibt keinen Sieg ohne einen besiegten Gegner, und Gäste, die mit einer Einladung in den offiziellen Wohnsitz geehrt wurden, sollten wissen, dass sie einen Mann mit einer Leidenschaft für das Siegen trafen. »Seht«, würde dieses Foto verkünden, »hier sind meine besiegten Gegner.«
Reportern erzählte Hsu gern, dass er als Kind an Asthma gelitten hatte und seine Mutter mit ihm ins örtliche Krankenhaus gefahren war, wenn er einen Anfall hatte, wo man ihm eine Steroidinfusion gab und ihm Ruhe verordnete. Und während er ruhte, hatte er das Gefühl zu schweben, fühlte sich schwerelos. Anfangs überlegte der junge Hsu, ob das bedeutete, dass er tot war. Später kam er zu dem Schluss, dass er einfach flog.
Und so fühle es sich auch an, eine Wahl zu gewinnen, erzählte er den Reportern. Wie fliegen. Als hätte man ein bisschen zu lange am Steroidtropf gehangen.
Aber diese Wahl war wieder hart umkämpft. Hsu hatte vor Zuversicht gestrotzt, bis zwei Oppositionsparteien eine unerwartete und noch nie da gewesene Allianz eingingen und mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten antraten. Einer Meinungsumfrage vom vorigen Wochenende zufolge lag Hsu mit elf Prozentpunkten zurück.
Bei diesem Rückstand hätte jeder andere Kandidat eingepackt. Nicht so Hsu. Er zeigte nur umso mehr Einsatz. Jeder einzelne von Taiwans dreiundzwanzig Millionen Einwohnern wusste, dass Hsu keiner war, der sich geschlagen gab. Manche liebten ihn dafür, andere nannten ihn einen Dummschwätzer. Bei einer Ansprache vor seinen Wahlkampfhelfern, von der irgendjemand ein Video online gestellt hatte, sah man Hsu mit verzerrtem Gesicht brüllen: »Habt keine Angst, weil wir zurückliegen. Das spornt uns erst recht an.« Folglich war Hsus Terminkalender für die letzte Woche so vollgepackt, dass nicht einmal eine Mücke darin eine Lücke für sich gefunden hätte. Hsu machte seinen Plan deutlich: »Wir steigern die Wahlbeteiligung in unseren Hochburgen, und in ihren nehmen wir ihnen Stimmen ab.«
Und das erinnerte alle daran, was er gesagt hatte, als er sich um das Amt des Bürgermeisters von Taipeh beworben hatte: »Zieht man einen Wähler von der gegnerischen auf die eigene Seite, ist das so gut wie zwei Stimmen. Also sagt mir, wo ihre Wähler sitzen, und da gehe ich hin.«
Hsu im offenen Heck des Jeeps hörte das durch die Lautsprecher verstärkte Geschrei der Menge, noch bevor die Fahrzeugkolonne auch nur in die Huayin Street eingebogen war. Dort waren seine Anhänger, wie er wusste. Passanten auf den Gehwegen sahen ihn an, wenn er stolz und aufrecht vorbeifuhr wie zu einer weiteren vierjährigen Amtszeit bestimmt.
Von Hsus Wahlkampfzentrale in der Zhongshan North Street war die Fahrzeugkolonne durch die Nanjing West Street zur Chengde Street gefahren und bog nun auf die Huayin Street in Richtung Taiyuan Road ab. Dies war eines der wenigen verbliebenen traditionellen Viertel und früher eine Hochburg von Hsu gewesen. Mittlerweile eher nicht mehr. Seine Gegner hatten viel Geld in die Hand genommen und ihn als einen gewieften Politakteur dargestellt, der seine Prinzipien dem Profit opferte.
Aber er wusste, wie er darauf reagieren musste: »Ich bin in einer Gegend wie dieser geboren. Ich bin in einer Gegend wie dieser aufgewachsen. Und ich werde niemals die Mütter und Väter vergessen, die das Schulgeld für ihre Kinder Cent für Cent zusammenkratzen müssen. Sie können versuchen, meinen Namen zu beschmutzen, aber sie werden keinen Erfolg haben. Ich schwöre Ihnen hier, Hand aufs Herz, dass meine Regierung Ihnen dabei helfen wird, die Ausbildung Ihrer Kinder zu bezahlen.«
Die Phrasen, die aus den Lautsprechern des Jeeps tönten, waren zu hören, lange bevor die Fahrzeugkolonne zu sehen war. Hsu stand hinter der Fahrerkabine, eine Hand auf dem Geländer, das dort angebracht war, und mit der anderen winkte er in einem fort wie eine dieser japanischen Katzenfiguren. Er winkte unermüdlich, doch er konnte nicht leugnen, dass der Wahlkampf körperlich fordernd war: An den Innenseiten beider Ellbogen trug er Tapes, um die Muskelschmerzen zu lindern, und am Rücken hatte er runde Hämatome von der Schröpfbehandlung. Dies war ein wichtiger Tag für seinen Wahlkampf. Es waren nur noch sieben Tage bis zur Wahl, und der heutige Tag markierte den Beginn des Endspurts.
Ein Abgeordneter aus Hsus Partei seufzte und flüsterte einem Reporter ins Ohr: »Wenn Sie die Gelegenheit haben, filmen Sie ihn, wenn er das nächste Mal einen Tempel besucht. Er entzündet das Räucherwerk, dann schließt er die Augen und murmelt vor sich hin. Als würde er mit den...
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