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Vor einiger Zeit blätterte ich in den Russland-Reisebriefen von Rilke und Lou Andreas-Salomé, folgte Rilkes ekstatischer Schilderung einer Feier der orthodoxen Osternacht im Kreml und der Idylle einer gemeinsamen Fahrt auf der Wolga. Ich verstand, warum das Paar mitgerissen war, und gleichzeitig kam mir dieses Schwelgen in fremden einfachen Lebensumständen schon damals anachronistisch vor: »We Had a Wonderful Time in This Terribly Poor Country« hieß mal ein Bild eines Pärchens vor idyllischer Landschaft in einer zeitgenössischen Kunstausstellung. Jahre später, als ich während des Ukrainekriegs wieder in die russischen Briefe schaute, fiel mir auf, dass Rilke Kiew abgelehnt hatte, es war ihm zu »international«, es gebe dort »elektrische Bahnen« und »große Hôtels«.1 Und dann las ich plötzlich irgendwo im Netz, dass Rilke für Mussolini und den Faschismus geschwärmt habe.
Wie? Rilke und Mussolini? Der Dichter, der die feinsten Verästelungen der Liebe wie der Einsamkeit kannte und einen Feigenbaum beschreiben konnte, dass man ihn zum ersten Mal sah? Ein Mann, der mit seinen sanften Versen ganze Reihen von Schlossherrinnen in beseelte Backfische verwandelt hatte; der jedem eingesperrten Tier mit seinem Schulbuch-»Panther« ein Denkmal gesetzt hat, das heute noch wirkt?
Und gleich neben diesem zarten Wortkünstler sollte sich auf einmal ein aufgeblasener Politclown ins Bild drängen, den man jahrzehntelang allenfalls gerühmt hatte, weil er »nicht so schlimm war wie Hitler«? Wobei die Verharmlosung Mussolinis und seines brutalen Regimes seinen deutschen Lehrling mit an die Macht gebracht hat.
Wirklich: Rilke und der erste regierende Faschist Europas? Was mich besonders überraschte, war, dass ich doch längst hätte Bescheid wissen müssen. Schließlich kam ich ja tatsächlich aus Rilke-Land. Nicht nur, dass ich gerade mal sieben Kilometer von Rilkes Grab entfernt geboren wurde und aufgewachsen war; dass manche meiner Lehrer so begeistert von ihm erzählen konnten, als sei Rilke »einer von uns«. Nein, auch zu Hause war Rilke da. Eine stattliche Zahl Insel-Bändchen stand bereit und wurde gelesen, von seinem Stunden-Buch bis hin zu den Duineser Elegien. Rilkes berühmtes Gedicht Archaischer Torso Apollos, das ich anfangs höchstens halb verstand, und sein noch berühmterer, trocken-pathetischer Schluss hatten mich immer begleitet: »Du musst Dein Leben ändern.«2
Regelmäßig waren wir zu Rilkes schön gelegenem, schlichtem Grab spaziert, hatten sein bekanntestes, dort in Stein gemeißeltes Rosengedicht beschaut, waren gelegentlich um Muzot, den immerhin dreißig Kilometer entfernten, legendären Ort seines letzten großen kreativen Schubs herumgeschlichen, hatten uns durch Rilkes Lob der Landschaft, in der wir lebten, beinahe persönlich geehrt gefühlt, empfanden uns in den früher glutheißen Sommern dort gelegentlich schon als Spanier und Provenzalen.
Dann hatte ich auch noch in München Germanistik und Philosophie studiert, an einer Universität, an der ich, dank bloßer Namensgleichheit mit einem historischen Rilke-Forscher, manchen Dozenten als prädestiniert für meine Fachrichtung galt. Während mich andere aus dem gleichen Grund besonders kritisch beobachteten. Manchmal versuchte ich, Rilke schon zu umgehen. Aber beinahe naturgemäß fuhr ich dann doch irgendwann nach Duino und Ronda. Wie viele lachte ich über die affektierten Jugendgedichte und war begeistert von der radikalen Paris- und Selbsterfahrung in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die mich bis heute unmittelbar in ihren Bann ziehen und eines der beeindruckendsten Werke der europäischen Avantgarde geblieben sind.
Natürlich wusste ich auch bald, dass Martin Heidegger, viel zu lange ein Propagandist Hitlers, Rilke als Schüler Hölderlins für sich in Anspruch nahm3; dass Heideggers philosophischer Rivale Theodor W. Adorno im gegen Heidegger gerichteten Jargon der Eigentlichkeit Rilke als »auf dem Grat«4 zum Faschismus stehenden Dichter mit aufgenommen hatte. Doch das waren nicht mehr als Interpretationen, die man beide mit gutem Recht anzweifeln konnte, Stellvertretergefechte auf den schmalen Schultern eines so einzelgängerischen wie salontauglichen Dichters, mit denen sich nichts beweisen ließ.
Aber Rilke von »wahren Diktatoren« begeistert? Er lobe die »gesunde und sichere Gewalt« des Duce, las ich jetzt, diesen »Schmied eines neuen Bewusstseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzündet. Glückliches Italien!« Das hatte Rilke geschrieben? Wo? Warum hatte ich nichts davon gehört?
Lag es nur daran, dass ich gelernt hatte, zuerst die Bücher der Autoren zu lesen, statt von vornherein die Geschichten über ihr Leben? Rilke war ein Konservativer, klar. Wer freundlich profitierend von Adelssitz zu Adelssitz zieht, muss aufpassen, nicht zu sehr als Revolutionär aufzufallen. Aber ausgerechnet der Faschismus, mit seinen pathetisch wuchernden Sprachverhunzungen? Rilke war in seinen besten Gedichten doch sehr um Genauigkeit des Ausdrucks bemüht.
Und wenn Faschismus - wer hatte mir und einigen anderen, die bei der Erwähnung von »Rilke und Mussolini« jetzt erst einmal erstaunt den Kopf schüttelten, die Sicht darauf vernebelt?
Warum fand sich in all den Regalmetern der Forschung nur sehr wenig dazu? Ich fing an zu recherchieren: Ein Buch von Egon Schwarz, eines jüdischen Emigranten aus Wien, mit erzwungen abenteuerlicher Lebensgeschichte und einem dazu passenden lebensnahen Blick auf Literatur hatte vor über fünfzig Jahren für einige Zeit für Aufregung gesorgt.5 Aber das war lange her, und inzwischen tat man wieder so, als sei nie etwas geschehen und Rilke mehrheitlich etwas zum Staunen für feinsinnige ältere Herrschaften und Popstars wie Lady Gaga. Meist wird schnell abgewunken, »das« sei vielleicht da, aber nicht wichtig. Und so geht das bis in die jüngste Zeit.6
Aber wie sehen Rilkes Stellungnahmen zum Faschismus denn überhaupt aus? Warum gibt es siebzig Jahre nach ihrer Entdeckung zwar eine unvollständige französische Originaledition und eine parallel erschienene, ebenso unvollständige italienische Übersetzung jener Lettres Milanaises, um die es auf den ersten Blick geht7, aber keine ordentliche deutschsprachige Ausgabe? Es gibt unzählige Editionen von Rilke-Briefen, doch ausgerechnet in diesem Fall ist mehr als ein erster Versuch dazu in einer vor gut fünfzig Jahren in den USA entstandenen Doktorarbeit nicht vorhanden.8 Einem dicken deutschen Band politischer Briefe, in dem eine kleine Auswahl besagter Lettres zwischen über 200 anderen Briefen versteckt ist, merkt man den Versuch des wacker gralshüterhaften Herausgebers, seinen Helden vor allen erdenklichen unangenehmen Fragen zu schützen, im Kommentar und auf jeder Seite des Nachworts deutlich an.9
Aber genauso stellt sich natürlich die Frage: Haben Rilkes Aussagen zum Faschismus denn etwas mit seinem Werk zu tun? Sind seine politischen Überzeugungen dort sichtbar? Oder waren diese vielleicht doch nur ein seltsamer Ausrutscher, geboren aus dem getrübten Bewusstsein eines schwerkranken Mannes, wie gern erzählt wird?
Ich musste Rilke selbst noch einmal lesen.
Und Mussolini? Eine Schwester meiner Großmutter hatte einen Sizilianer geheiratet, einen freundlichen kleinen Mann, der in Italien Deutsch und Griechisch unterrichtete und es durch seine bescheidene Art und seinen genauen Witz bei mir zum Lieblingsverwandten gebracht hatte. In unserem letzten Gespräch vor seinem Tod hatte er plötzlich Mussolini gepriesen. Für die Italiener sei er der Richtige gewesen. Danach hatte ich mich näher mit dem Duce beschäftigt. Jetzt stieß ich unter Rilkes Briefpartnerinnen auf eine Italienerin, die dem Dichter aus Prag, der nicht auf sie hören wollte, einen Eindruck zu vermitteln versuchte von dem, was damals in Italien geschah.
Wer war diese Frau? Von ihrer offenen Ablehnung des Faschismus ging Rilkes vertiefendes Lob erst aus. Doch über sie selbst war in den Rilke-Büchern, die so gern möglichen Liebschaften des Dichters nachspürten, bis auf wenige Zeilen nichts zu finden.10 Wie kam Aurelia Gallarati-Scotti, von der ich zuerst nur diesen Namen kannte, dazu, dem Bewunderten auf seinen ersten begeisterten Mussolini-Satz ohne Umschweife mit »Nein, lieber Rilke« zu antworten - und ihn damit zu für ihn ungewöhnlichen, ausführlichen Gegenreden herauszufordern? Ich begann, auch nach ihr zu forschen, von der natürlich viel weniger bekannt war, bemühte mich, beider Leben bis zu ihrem Aufeinandertreffen und während des Briefwechsels zu rekonstruieren. Wie kamen sie in ihrer Zeit zu ihren Überzeugungen? Was beschäftigte sie, während sie schrieben? Allmählich verstand ich, was da passiert war. Und begann mich zu fragen, was die Auseinandersetzung der beiden über den Faschismus mit unserer Zeit zu tun haben könnte.
Es soll hier also nicht darum gehen, Rilke zu schützen oder ihn böse vom Sockel zu stürzen. Es wäre auch ganz falsch, Reinheit, Unfehlbarkeit von ihm zu erwarten. Großartige Künstler können politisch, moralisch oder in ihrem Privatleben Würmer sein - und trotzdem großartige Kunst schaffen. Genauso falsch ist es aber, deswegen nichts von den Untiefen in ihrem Leben und Denken wissen zu wollen, aus denen sich diese Kunst eben auch speist. Wenn wir über die Werke von Dichtern oder Schriftstellern mehr von der Welt verstehen möchten, müssen wir diese Menschen schon ganz...
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