Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Die Welt der Theorie sei nicht die seine, erklärt Milan Kundera. Seine Überlegungen basierten auf seiner eigenen Praxis des Schreibens. Und zum Glück für seine Zeitgenossen und die Nachwelt hat der Autor diese Überlegungen aufgeschrieben. In dieser bunten Interview- und Essaysamm- lung diskutiert der große Romancier die Einflüsse bedeutender Kollegen wie Miguel de Cervantes, Honoré de Balzac, James Joyce und Leo Tolstoi auf die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts und besonders auch auf sein eigenes Schaffen. Im Essay »Dreiundsechzig Wörter« sammelt er Vokabeln, die in seinem Werk besonders oft vorkommen und erklärt deren Wert und Bedeutung für sich selbst. Ein Stück Literaturgeschichte über die Literaturgeschichte, eins der persönlichsten Werke Milan Kunderas - und dabei so klug, unterhaltsam und lustig wie eh und je.
»Milan Kundera skizziert seinen Überblick über die Entwicklung des europäischen Romans mit der draufgängerischen Knappheit eines Mannes, der genau weiß, wo die bedeutenden Punkte liegen.« London Review of Books
»Milan Kundera ist der traurigste, lustigste und liebenswerteste allerAutoren.« The Times, London
Christian Salmon: Ich möchte mich in dieser Unterhaltung auf die Ästhetik Ihrer Romane konzentrieren. Aber womit wollen wir anfangen?
Milan Kundera: Mit der Versicherung: Meine Romane sind nicht psychologisch. Genauer: Sie befinden sich jenseits der Ästhetik des üblicherweise psychologisch genannten Romans.
C.S.: Sind denn nicht alle Romane zwangsläufig psychologisch? Das heißt, mit dem Rätsel der Psyche beschäftigt?
M.K.: Wir wollen präziser sein: Alle Romane aller Zeiten sind mit dem Rätsel des Ich beschäftigt. Sobald man ein imaginäres Wesen, eine Figur erschafft, steht man automatisch vor der Frage: Was ist das Ich? Womit kann das Ich erfasst werden? Das ist eine der Grundfragen, auf denen der Roman als solcher beruht. Anhand der verschiedenen Antworten auf diese Frage könnten Sie, wenn Sie wollen, verschiedene Tendenzen und vielleicht verschiedene Perioden in der Geschichte des Romans unterscheiden. Die ersten europäischen Erzähler kennen den psychologischen Ansatz gar nicht. Boccaccio erzählt uns einfach Handlungen und Abenteuer. Allerdings erkennt man hinter diesen amüsanten Geschichten eine Überzeugung: Indem der Mensch handelt, tritt er aus der immer gleichen Welt des Alltags heraus, wo jeder jedem ähnlich ist, als Handelnder unterscheidet er sich von den anderen und wird Individuum. Schon Dante sagte: »Bei jeder Handlung ist die Hauptabsicht des Handelnden, sein eigenes Bild zu enthüllen.« Anfangs wird Handlung als Selbstporträt des Handelnden verstanden. Vier Jahrhunderte nach Boccaccio ist Diderot da skeptischer: Sein Jacques der Fatalist verführt die Braut seines Freundes, vor Freude betrinkt er sich, sein Vater verpasst ihm eine Tracht Prügel, ein Regiment zieht vorbei, aus Ärger darüber lässt er sich anwerben, in der ersten Schlacht wird er am Knie verwundet und hinkt bis an sein Lebensende. Er glaubte ein Liebesabenteuer einzugehen, während er in Wirklichkeit auf seine Invalidität lossteuerte. Er kann sich nie in seiner Tat wiedererkennen. Zwischen seiner Tat und ihm selbst klafft ein Riss. Der Mensch will sein eigenes Bild enthüllen, indem er handelt, aber dieses Bild ist ihm nicht ähnlich. Das Paradoxe der Handlung ist eine der großen Entdeckungen des Romans. Aber wenn das Ich durch sein Handeln nicht erfassbar ist, wo und wie kann man es dann erfassen? Es trat der Moment ein, in dem der Roman sich auf seiner Suche nach dem Ich von der sichtbaren Welt der Handlung abwenden und sich auf das Unsichtbare des Innenlebens einlassen musste. Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entdeckt Richardson die Form des Briefromans, in dem die Figuren ihre Gedanken und Gefühle bekennen.
C.S.: Die Geburt des psychologischen Romans?
M.K.: Der Ausdruck ist natürlich ungenau und nicht ganz zutreffend. Vermeiden wir ihn und umschreiben wir es so: Richardson hat dem Roman den Weg zur Erforschung des menschlichen Innenlebens gewiesen. Die großen Namen, die das weiterführten, sind bekannt: der Goethe des Werther, Laclos, Benjamin Constant, dann Stendhal und die Schriftsteller seines Jahrhunderts. Diese Entwicklung ist meiner Meinung nach bei Proust und bei Joyce auf ihrem Höhepunkt. Joyce analysiert etwas noch Ungreifbareres als Prousts »verlorene Zeit«: den gegenwärtigen Augenblick. Es gibt scheinbar nichts Offensichtlicheres, nichts Greifbareres, Spürbareres als den gegenwärtigen Augenblick. Und doch entzieht er sich uns völlig. Das ist das Allertraurigste am Leben. In einer einzigen Sekunde nehmen unser Sehen, unser Hören, unser Riechen (bewusst oder unbewusst) eine Unmenge von Ereignissen wahr, und durch unseren Kopf zieht ein Schwarm von Empfindungen und Ideen. Jeder Augenblick stellt ein kleines Universum dar, das im nächsten Augenblick unwiderruflich vergessen ist. Joyce' großes Mikroskop vermag diesen flüchtigen Augenblick festzuhalten, zu erfassen und ihn uns zu zeigen. Doch die Suche nach dem Ich läuft wieder einmal auf ein Paradoxon hinaus: Je größer die das Ich beobachtende Optik des Mikroskops ist, umso mehr entgehen uns das Ich und seine Einmaligkeit: Unter Joyce' großer Linse, die die Seele in Atome zerlegt, sind wir alle gleich. Doch wenn das Ich und seine Einmaligkeit im Innenleben des Menschen nicht erfassbar sind, wo und wie kann man sie dann erfassen?
C.S.: Kann man sie überhaupt erfassen?
M.K.: Natürlich nicht. Die Suche nach dem Ich hat immer mit einem unbefriedigenden Paradoxon geendet und wird immer so enden. Ich rede nicht von einem Scheitern. Denn der Roman kann die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten nicht überschreiten, und das Aufzeigen dieser Grenzen ist schon eine immense Entdeckung, eine immense kognitive Leistung. Trotzdem haben die großen Romanciers, nachdem sie den Grund einer ins Einzelne gehenden Erforschung des Innenlebens des Ich ausgelotet hatten, bewusst oder unbewusst eine neue Richtung gesucht. Man spricht oft von der heiligen Dreifaltigkeit des modernen Romans: Proust, Joyce, Kafka. Meiner Ansicht nach gibt es diese Dreifaltigkeit gar nicht. In meiner persönlichen Geschichte des Romans schlägt Kafka die neue Richtung ein. Die nach-Proust'sche Richtung. Seine Art und Weise, das Ich aufzufassen, ist ganz und gar unerwartet. Wodurch wird K. als einzigartiges Wesen definiert? Weder durch seine äußere Erscheinung (wir erfahren nichts darüber) noch durch seine Biographie (wir kennen sie nicht), noch durch seinen Namen (er hat keinen), noch durch seine Erinnerungen, seine Neigungen, seine Komplexe. Durch sein Verhalten? Der Freiraum für seine Handlungen ist kläglich eingeschränkt. Durch sein Denken? Ja, Kafka geht K.s Reflexionen unentwegt nach, doch die sind ausschließlich auf die gegenwärtige Situation bezogen: Was muss man da jetzt tun? Der Vorladung nachkommen oder sich drücken? Dem Ruf des Priesters folgen oder nicht? K.s gesamtes Innenleben wird von der Situation absorbiert, in der er wie in einer Falle gefangen ist, und was diese Situation überschreiten könnte (K.s Erinnerungen, seine metaphysischen Überlegungen, seine Meinung über die anderen), wird uns nicht mitgeteilt. Für Proust stellte das innere Universum des Menschen ein Wunder dar, ein Unendliches, das uns immer wieder in Staunen versetzte. Aber bei Kafka ist das Staunen woanders. Er fragt nicht nach den inneren Motivationen, die das Verhalten des Menschen bestimmen. Er stellt eine radikal andere Frage: Welche Möglichkeiten bleiben dem Menschen noch in einer Welt, in der die äußere Determiniertheit so übermächtig geworden ist, dass innere Beweggründe nicht mehr ins Gewicht fallen? Tatsächlich, was hätte es an K.s Schicksal und Haltung ändern können, wenn er homosexuelle Neigungen oder eine schmerzliche Liebesgeschichte hinter sich gehabt hätte? Nichts.
C.S.: In Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins sagen Sie: »Ein Roman ist kein Bekenntnis des Autors, sondern eine Erforschung dessen, was das menschliche Leben ist in der Falle, zu der die Welt geworden ist.« Was meinen Sie denn mit Falle?
M.K.: Dass das Leben eine Falle ist, hat man schon immer gewusst: Man wird geboren, ohne darum gebeten zu haben, in einen Körper gesperrt, den man nicht gewählt hat und dessen Schicksal es ist, zu sterben. Dafür bot die Welt als Raum immer eine Fluchtmöglichkeit. Ein Soldat konnte desertieren und in einem benachbarten Land ein neues Leben beginnen. In unserem Jahrhundert zieht sich die Welt plötzlich immer enger um uns zusammen. Das entscheidende Ereignis dieser Verwandlung der Welt in eine Falle war zweifellos der Krieg von 1914, der (zum ersten Mal in der Geschichte) Weltkrieg genannt wurde. Zu Unrecht. Betroffen war nur Europa, und nicht einmal ganz Europa. Aber das Wort »Weltkrieg« drückt umso beredter das Gefühl des Schreckens angesichts der Tatsache aus, dass von nun an nichts, was sich auf unserem Planeten abspielt, nur ein örtlich begrenzter Vorgang ist, dass alle Katastrophen die ganze Welt betreffen und wir folglich immer mehr von außen, durch Situationen determiniert werden, denen niemand entgehen kann und die uns einander immer ähnlicher machen.
Aber verstehen Sie mich richtig. Wenn meine Position jenseits des sogenannten psychologischen Romans ist, so heißt das nicht, dass ich meinen Figuren ihr Innenleben nehmen will. Es heißt lediglich, dass meine Romane in erster Linie anderen Rätseln, anderen Fragen nachgehen. Es heißt auch nicht, dass ich Romane, die von der Psychologie fasziniert sind, nicht akzeptieren würde. Die Veränderung der Situation nach Proust erfüllt mich eher mit Wehmut. Mit Proust entfernt sich langsam etwas ungeheuer Schönes von uns. Für immer, unwiederbringlich. Gombrowicz hatte eine ebenso spaßige wie geniale Idee. Das Gewicht unseres Ich, sagte er, ist abhängig von der Bevölkerungsdichte auf der Erde. So repräsentierte Demokrit ein Vierhundertmillionstel der Menschheit, Brahms ein Milliardstel, Gombrowicz selbst ein Zweimilliardstel. Von dieser Arithmetik aus gesehen, nimmt das Gewicht des Proust'schen Unendlichen, das Gewicht eines Ich, des Innenlebens eines Ich, immer mehr ab. Und wir haben bei diesem Wettlauf zur Leichtigkeit eine verhängnisvolle Grenze überschritten.
C.S.: »Die unerträgliche Leichtigkeit« des Ich ist seit Ihren ersten Büchern Ihre Obsession. Ich denke an Das Buch der lächerlichen Liebe; zum Beispiel an die Novelle Eduard und Gott. Nach...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.