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Die Debatte um »Polarisierung« ist von einem Widerspruch geprägt. Während immer mehr Menschen eine »Spaltung der Gesellschaft« fürchten, zeigen Umfragen, dass die Einstellungen der Bürger:innen gar nicht auseinanderdriften.
Nachdem er sich zuletzt mit »alternativen Fakten« befasste, widmet sich Nils C. Kumkar nun einem anderen Aspekt, der die Debatte über die Debatten verwirrt. Er zeigt, dass die Beobachtung der Gesellschaft notwendigerweise Polarisierung wahrnimmt, da Letztere im politischen System mit seinen Unterscheidungen zwischen Regierung und Opposition sowie zwischen Regierenden und Regierten angelegt ist. Spaltung, so Kumkar, lässt sich letztlich nicht überwinden. Die Frage wäre, wie man produktiver spalten kann. Kumkar bietet nicht nur eine Klarstellung in der Diskussion über Polarisierung, sondern auch eine neue Erklärung für den Erfolg des Rechtspopulismus.
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Einheit ist die Spaltung.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966)
Am 3. August 2024 war ich als wissenschaftlicher Beobachter auf einer Querdenkerdemonstration in Berlin. Was auf dieser Demonstration alles gefordert, befürchtet und angeprangert wurde, würde den Rahmen nicht nur dieses Kapitels sprengen. Und doch, eine Anklage auf Schildern und in Parolen beschäftigte mich besonders, vielleicht weil sie so unglaublich gewöhnlich war: Auf einer Demonstration, auf der mittelalte Techno-DJs in Superheldenkostümen das jüngst erlassene (wenig später im Eilverfahren durch das Bundesverwaltungsgericht ausgesetzte und bis heute nicht abschließend beschiedene) Verbot der rechtsextremen Zeitschrift Compact beklagten und feixend auf die Nachfolgeveröffentlichung Näncy verwiesen; auf der Kriegsverbrechertribunale gegen die »Erfinder« der Coronapandemie gefordert wurden; und auf der verschiedene - um es vorsichtig auszudrücken - eher randständige und miteinander nicht unbedingt kompatible Positionen dazu vertreten wurden, wer jeweils hinter allen Übeln der Gegenwart stünde, war eine der meistgeäußerten Befürchtungen die einer Spaltung der Gesellschaft beziehungsweise die Anklage, »die Regierung« spalte »das Volk«.
Bei näherem Hinsehen ist das allerdings weniger verwunderlich, als man zunächst meinen könnte. Ja, die 37Minderheit, die sich hier zu Wort meldet, hat sich in ihrer Fundamentalopposition nicht nur zu politischen Maßnahmen, sondern auch zu den Realitätsannahmen, die in die Begründung dieser Maßnahmen einfließen, gewissermaßen selbst abgespalten - mit Nachdruck in der immer wieder zu hörenden Feststellung, der »Mainstream« bestünde ohnehin aus »Schlafschafen«. Aber so sieht das erst einmal nur »von außen« aus. Die in dieser Metapher angedeutete Weltsicht funktioniert »von innen« gesehen nämlich anders. Wer davon ausgeht, dass eine kleine Minderheit im Verborgenen die Geschicke der Gesellschaft zu ihrem Vorteil manipuliert, der muss sich die Frage gefallen lassen, warum die Mehrheit das mit sich machen lässt - und die Antwort ist dann oft, dass sie eben getäuscht werde. Auf die Nachfrage, warum außer ihnen so wenige das verstehen, werden die so Gefragten dann vielleicht erwidern, dass diejenigen, die das Spiel durchschauen, als Verschwörungstheoretiker bloßgestellt und ausgegrenzt würden, während die Masse der Menschen sich in politischen Scheingefechten - links gegen rechts, Arbeiter:innen gegen Unternehmer:innen etc. - verwickeln lasse. Das ist dann aus dieser Sicht: die Spaltung der Gesellschaft. Und es ist, wenn man denn empirisch genau bei diesem Eindruck nachfasst, übrigens so, dass zumindest eine »Spaltungslinie« sich empirisch durchaus finden lässt: Anhänger:innen fast aller übrigen politischen Parteien wollten in Umfragen zur Zeit der Pandemie mit den Anhänger:innen der AfD, die sich zum Sprachrohr der Querdenker:innen gemacht hatte, nichts zu tun haben.1
Selbst wenn man nun einwenden könnte, dass es sich 38dabei - sobald man nicht nur diesen empirischen Ansatzpunkt, sondern auch die Deutung der Querdenker:innen dazu einbezieht - nun wirklich um eine abwegige Behauptung eines gesellschaftlich marginalisierten Mikromilieus handelt, ist die grundlegende Beobachtung dennoch darüber hinaus verallgemeinerbar. Was Menschen als Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft auffassen, hängt eng damit zusammen, wie sie sich Gesellschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt generell vorstellen. Wenn man sich dann diesen je spezifischen Annahmen über Zusammenhalt und den damit zusammenhängenden Erfahrungen von Spaltung zuwendet, findet man in der Regel durchaus ein (wie auch immer verschobenes) empirisches Korrelat. Und weil ein solches Bild davon, was gesellschaftlichen Zusammenhalt eigentlich ausmacht, weder in den Sozialwissenschaften2 (deren Vertreter:innen damit ja immerhin beruflich befasst sind) noch bei den Leuten als Konsens vorausgesetzt werden kann, ist in gewisser Weise zu erwarten, dass auch bei Spaltung und Polarisierung durchaus Unterschiedliches gemeint sein dürfte, je nachdem wer sich gerade jeweils sorgt (die Begriffe »Spaltung« und »Polarisierung« werden im Alltagssprachgebrauch oft austauschbar behandelt - deshalb werde ich es in diesem Kapitel, in dem es um just diesen Sprachgebrauch gehen soll, genauso halten).
In diesem ersten Kapitel möchte ich von diesem Ausgangspunkt aus entwickeln, warum ich das nicht für ein ärgerliches Hindernis halte, das auf der Suche nach dem einen, richtigen Verständnis von Polarisierung aus dem Weg geräumt werden muss, sondern vielmehr für ein 39wesentliches Merkmal genau der Welt, in der Polarisierung erst ihren sozialen Sinn ergibt. Zunächst werde ich dazu einen irritierenden Befund aus einem Forschungsprojekt zu unterschiedlichen Vorstellungen von Politik präsentieren. In diesem zeigte sich nämlich, dass die Spaltungsvorstellungen der einen sogar die Zusammenhaltsvorstellungen der anderen sein können. Vor diesem Hintergrund arbeite ich im nächsten Schritt heraus, warum sich dennoch eine Minimaldefinition von Polarisierung erarbeiten lässt, die sich, obwohl wirklich sehr basal gehalten, von fast allem unterscheidet, was in der Sozialwissenschaft für gewöhnlich als Polarisierung aufgefasst wird - Polarisierung ist aus meiner Warte vor allem ein kommunikatives Ordnungsmuster. Und anders, als dieser etwas technische Begriff Sie vielleicht vermuten lässt, ist damit keineswegs gemeint, dass es sich »nur um Gerede« ohne Haftung in der Realität handelt. Ganz im Gegenteil geht es darum zu verstehen, dass Polarisierung in die Art und Weise eingebaut ist, in der Gesellschaft sich einen Reim auf sich selbst macht.
Wir können uns im Alltag oft gerade deswegen überhaupt verständigen, weil wir nicht so genau nachfragen, wie etwas gemeint ist. Das ist eine der grundsätzlichen Erkenntnisse der Ethnomethodologie, also der Erforschung der Methoden, mit denen wir im Alltag soziale Ordnung herstellen und bewältigen. Instruktiv sind in dieser Hinsicht Harold Garfinkels »Krisenexperimente«, 40kleine Aufgaben, die der US-amerikanische Soziologe und Begründer der Ethnomethodologie seinen Studierenden stellte und die darin bestanden, gegen die Routinen der gemeinsamen Alltagsbewältigung so zu verstoßen, dass daran eben genau diese Routinen als Methoden sichtbar werden. In diesen Experimenten zeigt sich, wie sehr es Menschen in die Verzweiflung treiben kann, wenn man auf die höflich gemeinte Frage nach dem Befinden einer gemeinsamen Freundin mit der Erkundigung reagiert, was genau mit Befinden in diesem Falle gemeint ist; oder wenn man auf die Feststellung, dass jemand müde sei, nachfragt, wie das denn jetzt zu verstehen sei - ob der Gegenüber also körperlich müde, geistig erschöpft oder einfach gelangweilt sei.3
Im Alltag wird diese Unschärfe wohl am häufigsten in Streitereien bemerkbar, die sich auf die Intention von Äußerungen beziehen. »So habe ich das nicht gemeint«, heißt in diesen Fällen dann: Das wollte ich mit dieser Äußerung nicht bezwecken (oder zumindest wollte ich nicht, dass du darauf so reagierst, als hätte ich das bezweckt, und das auch noch zum Thema machst). Für gewöhnlich (also wenn man sich nicht streitet) setzt man einfach voraus, dass schon deutlich werden wird, worauf eine Äußerung hinauslaufen soll, und lebt ganz gut mit der geteilten Fiktion, dass alle an der Kommunikation Beteiligten sich das gleichermaßen erschließen können. Wo man das nicht voraussetzen kann oder will, ändert sich sofort der Charakter des Gesagten, weil man die Intention nicht einfach »dazusagen« kann, ohne sich ein anderes Problem einzuhandeln: Sobald man nämlich nicht nur sagt, dass man etwas meint, sondern dazusagt, 41wie man es meint, macht man sich verdächtig. »Aber ich meine das gar nicht als Kritik« ist zum Beispiel so eine nachgeschobene Bemerkung in Diskussionen, bei der jede:r (ich zumindest) sofort annimmt, dass hier ein Konflikt nur auf der Oberfläche gescheut, untergründig aber sehr wohl gesucht wird. Schließlich weist man damit ja darauf hin, dass man selbst durchaus weiß, dass man auch anders verstanden...
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