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Chicago, 22. Februar 1947
SIMONE
Und nun musste sie schon wieder fort. Die Nacht war weggewischt, die Umgebung sagte ihr Adieu im Rückwärtsgang. Zur Tür hinaus bei der gelben Küche, wo sie eben noch einen Kaffee getrunken hatten, draußen die Taverne mit der Aufschrift »Schlitz« in nun erloschenen Neonbuchstaben, die große Werbetafel mit der grinsend Porridge essenden Vorzeigefamilie und schon nach wenigen Metern der Taxistand. Jetzt kam das Schlimmste: Sie musste sich von dem Mann verabschieden, der so vertraut neben ihr ging. Von Anfang an hatte sie sich in seiner Gegenwart gefühlt, als wären sie einander schon ewig bekannt.
Ob es an seiner so sorglos zur Schau getragenen Armut lag? Gestärkte Kragen, Eleganz und Bügelfalten, das alles hielt auf Distanz, doch als sie gestern nach seinem Arm in dem abgetragenen Pullover gegriffen hatte, war da gleich die beruhigende Gegenwart eines lebendigen, warmen Körpers gewesen. Sie hatte nicht vorgehabt, mit ihm ins Bett zu gehen, ihr Tränenausbruch war nicht Bestandteil irgendeiner Taktik gewesen. Es kam häufig vor, dass sie sentimental wurde, wenn sie viel getrunken hatte, doch so heftig hatte sie es gestern gar nicht getrieben. Warum also war ihr das Elend dieser Stadt so nahegegangen? Sie hatte schon vieles und Schlimmeres gesehen. In Madrid die Vorstädte von Vallecas, das Gnadenviertel von Lissabon und, am schlimmsten, die blinden Kinder mit den verdrehten Füßen in Marokko. Aber das Elend dieser Länder war oft verursacht durch unfruchtbare Erde, durch Dürren, Naturgewalten. Und die Menschen waren zusammen arm; sie sangen, lachten, sprachen dennoch miteinander, fanden kleines Glück in einem wärmenden Sonnenstrahl, einer frischen Orange und ihren Ritualen. Hier jedoch waren Ungerechtigkeit und Dummheit die vorherrschende Ursache, und die Armen waren Verfluchte ohne Ort, wurden ohne Mitgefühl betrachtet, denn hier, in diesem Land, in dem doch alles möglich war, mussten sie selbst die Schuld an ihrem Unglück tragen.
Ihr Weinen war ehrlich gewesen, und Nelsons warmer Trost ebenfalls. Sie wollte nicht gehen. »Ein halber Tag, das ist nicht nur zu kurz, das ist eine regelrechte Gemeinheit! Ich muss unbedingt wiederkommen.«
Algren kickte unbesorgt eine leere Packung Chesterfields fort. »Aber natürlich kommst du wieder. Ich kann mir nicht vorstellen, dich nicht wiederzusehen.«
»Wenn ich doch nur nicht den Tag mit diesen Schnöseln vom Konsulat verbringen müsste! Auf jeden Fall werde ich vom Bahnhof aus noch einmal anrufen, bevor ich losfahre.«
Er lachte und öffnete ihr die Autotür. »Ich werde wie ein braves Hündchen neben dem Telefon darauf warten.« Seine Lippen näherten sich ihrem Mund, hielten zögernd inne und glitten dann nach oben weg, was Enttäuschung in ihr aufblitzen ließ. Sanft legte sich ein Kuss auf ihre Stirn. »Au revoir, mademoiselle.«
Nun ja, vielleicht war es tatsächlich besser, als Schlusspunkt Unverbindlichkeit zu setzen, immerhin hatte sie auf ihrer Amerikareise schon mehrere flüchtige Bekanntschaften wie diese gemacht. Aber nächtliches Zusammensein ohne lendemain, das schien ihr erst heute wie die deutlichste Widerspiegelung der Absurdität und des Selbstbetrugs, der in der Tätigkeit des Reisens lag, bei der so vieles unverbindlich und ohne Folgen blieb.
Der Fahrer gab Gas, und mit dem Wagen nahm auch das unbarmherzige Rückwärts an Fahrt auf. Die Müllhalde, Bretterzäune, Lagerhallen, italienische Läden, alles flog vorbei, wenn nicht gerade ein Zug ihren Weg kreuzte und sie warten mussten.
Im Hotel machte sie eine Katzenwäsche und kleidete sich um. Ernsthaft vorbereiten musste sie sich nicht, heute hielt sie vor dem Mittagessen nur eine kleine Rede vor der Legation. Bis dahin war noch ein wenig Zeit, also beendete sie rasch den Artikel für die France-Amérique.
Zum Lunch ging es in einen Club im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers, Panoramascheiben erzwangen einen Beinaherundumblick. Die Herren von der Legation hatten einige frankreichaffine Amerikaner dazugeladen, ihr gegenüber saß außerdem eine blonde Französin, die man als Baronesse und Journalistin, der Name war an ihr vorbeigerauscht, vorgestellt hatte. Während des ganzen Essens verzapfte die Dame euphorisch patriotische Phrasen, doch sie war zu beschäftigt, um darauf etwas Ernsthaftes zu erwidern, beschäftigt damit, durch die prahlenden Scheiben nach draußen zu blicken, auf den Kanal, die unzähligen skyscrapers, und sich zu vergegenwärtigen, dass sie noch in Chicago war. Die Stadt war zu einem Ausstellungsstück geworden, es war ein von ihr getrenntes, in der Vitrine in Szene gesetztes Chicago. Oder hatte man nicht vielmehr sie selbst jetzt unter Glas gestellt?
Sie ließ ihre Gedanken zu sprachtheoretischen Überlegungen abschweifen, war doch alles andere interessanter als das Tischgespräch. Im Englischen ließ sich das Duzen vom Siezen nicht durch eine Vokabel unterscheiden, und jedes Gegenüber rückte dadurch gleich sehr nah. In Frankreich bevorzugte sie auch bei Freunden und Geliebten das förmliche Vous und bei Männern zusätzlich den Nachnamen als Anrede, das erschien ihr angemessener, respektvoller. Auch Sartre hielt es so. Hier hatte das keinen Sinn, aber in ihrem Umgang mit Nelson hatte sie bemerkt, dass es dennoch sehr wohl einen subtilen Unterschied in Ton- und Wortwahl gab, der verdeutlichte, welches you gerade gemeint war. So richtig zu fassen bekam sie das allerdings noch nicht.
Während des Desserts offenbarte der Diplomat ihr, womit er und sein Adjutant, wie sie den unterwürfigen jungen Sekretär heimlich nannte, sie den Rest des Tages zu unterhalten gedachten. »Heute Abend müssen wir Sie leider einer anderen Runde überlassen. Aber vorher möchten wir es uns nicht nehmen lassen, eine Stadtrundfahrt im Wagen mit Ihnen zu machen, vorbei an allen Sehenswürdigkeiten, zwischendurch Stippvisiten in verschiedenen Museen und .«
»Meine Herren, bitte verzeihen Sie«, unterbrach sie ihn aus einem Impuls heraus, der ihr plötzlich ununterdrückbar die Kehle heraufgestiegen war, »aber daraus kann leider nichts werden. Ich habe versprochen, einen Freund zu besuchen, der schwer erkrankt ist.« Sie hatte schon jetzt das Gefühl, hier nur noch Zeit zu verlieren. Auch noch den Nachmittag mit diesen Leuten verbringen? Das konnte und wollte sie nicht. Die Notlüge würde ihr hoffentlich aus der Patsche helfen.
Ihr Gegenüber blickte zerknirscht drein. »Wie liebenswürdig von Ihnen. Für uns natürlich sehr bedauerlich. Wo wohnt Ihr Freund?«
»In der West Wabansia Avenue. Ich werde mir dann gleich ein Taxi nehmen.«
»Wabansia? Aber Mademoiselle de Beauvoir, in diese Gegend können wir Sie keinesfalls allein gehen lassen, das ist viel zu gefährlich. Wir bringen Sie.« Der Diplomat nickte seinem Adjutanten zu, der sich in vorauseilendem Gehorsam bereits erhoben hatte. »Und wenn Sie erlauben, fahren wir vorher wenigstens an ein paar Sehenswürdigkeiten vorbei, die Sie sich wirklich nicht entgehen lassen sollten.«
»Aber gern, sehr freundlich von Ihnen«, sagte sie, wohl wissend, dass es sinnlos gewesen wäre, zu widersprechen. Hauptsache, rasch weg hier!
Altehrwürdige Gebäude, Brunnen und zuletzt der Water Tower rauschten an ihr vorbei, bis ihr Film von Chicago endlich wieder richtig herum ablief, nur schaute sie ihn sich diesmal durch die panzerverglasten Scheiben einer monströsen schwarzen Regierungslimousine an. Ein Einbeiniger auf Krücken, der gerade ein Geschäft hatte betreten wollen, blieb stehen und blickte ihnen mit zahnlos offenem Mund entgegen. Einen ähnlichen Anblick boten zwei Jungen, die gemeinsam einen Schlitten hinter sich herzogen, und eine Gruppe Männer vor einer Taverne.
Endlich waren sie da. Hastig brachte sie die Verabschiedung hinter sich.
»Wir warten noch, bis Sie drin sind!«, rief ihr der Diplomat hinterher, da hatte sie schon die Treppe halb erklommen.
Oben hämmerte sie mit beiden Fäusten an die Tür. »Aufmachen, aber sofort!« Würde Nelson über diesen Überfall verärgert sein oder nur überrascht? »Aufmachen, ich bin es!«
Die Tür öffnete sich und offenbarte: Er war nichts von beidem. So breit wie jetzt hatte sie ihn noch nicht grinsen sehen. »Du hättest mir sagen müssen, dass ich vor der Tür warten soll und nicht vorm Telefon, dann hätte ich schneller geöffnet.«
»Ich bin geflohen«, sagte sie und stürzte sich in seine Arme.
Er zog sie mit sich ins Haus und schloss die Welt mit einer schwungvollen Bewegung seines freien Arms aus. »Und das in einem Luxusschlitten, wie ich sehe. Jetzt hast du mir was eingebrockt. Alle meine Nachbarn werden denken, ich wäre unter die Reichen gegangen. Ab jetzt werden sie mich noch öfter anpumpen als sowieso schon.«
Sie löste sich von ihm und ging Richtung Schlafzimmer, kickte dabei schon ihre Schuhe von den Füßen. »Oje! Kannst du mir noch einmal verzeihen?«
»Möglicherweise lasse ich mich dazu hinreißen«, sagte er und kam ihr nach.
Sie ließ ihren Rock zu Boden fallen und stieg heraus. Ihre Lust auf ihn hatte sich schon im Auto immer deutlicher bemerkbar gemacht. »Du hast das Bett frisch bezogen.«
»Ja, tut mir furchtbar leid.« Er half ihr aus dem Oberteil. Seine Lippen wanderten über ihren Nacken, eine wohlige Gänsehaut nahm die Verfolgung auf und blieb ihnen dicht auf den Fersen.
»Nicht schlimm«, gurrte sie ihm ins Ohr. »Dann sind wir jetzt quitt.«
Danach lagen sie eng beieinander, tranken Wodka und teilten sich eine Zigarette. Nelsons Fingerspitzen fuhren sanft über ihren Oberarm. »Du bist mir vielleicht ein verrückter Frosch, einfach so noch mal hier...
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