Schweitzer Fachinformationen
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1876, Manaus, Brasilien
Luise schien es, als prallte sie gegen eine heiße Wand aus Luft. Das feuchte Klima im fernen Brasilien setzte ihr auch nach Monaten noch entsetzlich zu. Wie sollte sie sich an die Mischung aus Hitze, Schwüle, Feuchtigkeit und an die endlosen Bäume um sie herum gewöhnen?
Sie war eine geborene und wohlerzogene Preußin und als solche in den vier Jahreszeiten aufgewachsen. Auf den kalten Winter hoffte sie in Manaus vergeblich.
Ihre Ehe mit Heinrich Lorenz war frisch.
Luises Vater hatte das lukrative Geschäft gegen ihren Willen arrangiert.
Mit schwerem Herzen spazierte sie zum Ufer des Igarapés. Eine ihrer Mägde hatte Luise erklärt, dass die Wasserwege am Rio Negro unter den Einheimischen so genannt wurden.
Ihr Ehemann Heinrich hatte Land am Amazonas gekauft und häufte seit Monaten unfassbaren Reichtum an. Luise lebte als seine Frau in einem großen Haus mit eigenem Anlegehafen. Um sie herum wimmelte es von den Angestellten ihres Mannes, die das Gelände pflegten und für ihre Sicherheit sorgten. Hier konnte sie sich frei bewegen. Die Gärtner waren angewiesen worden, Schlangen und andere gefährliche Tiere vom Grundstück fernzuhalten.
Mit einem Sicherheitsabstand zum Rio Negro blieb sie stehen. Der Fluss ängstigte sie. Zu viele schaurige Geschichten hatte sie gehört. Piranhas und Riesenschlangen lebten in den Gewässern. Auf einem der hohen Treffen der Kautschukbarone hatte der Gouverneur von einem Fisch berichtet, der in die Harnröhre der Menschen eindringe.
Luise drückte ihren Säugling an sich.
Warum nur hatte ihr Vater sie an Heinrich Lorenz verheiratet und ihrem Leben diese schreckliche Bürde übergestülpt?
Vor wenigen Wochen hatte sie Heinrichs Sohn auf die Welt gebracht. Luise betrachtete das Bündel in ihren Armen. Sie erinnerte sich an ihre Erleichterung, als Karl geboren wurde und sich herausstellte, dass es sich tatsächlich um einen Jungen handelte.
Heinrich hatte seine Freude über seinen Erben zum Ausdruck gebracht und Karl seinen Namen gegeben.
Karl schlief friedlich in ihren Armen. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich umgehend an das Klima gewöhnt. Seufzend streichelte sie über das kleine pausbäckige Gesicht. Sie liebte ihren Jungen, wenn das auch für seinen Vater nicht galt. Der blonde Flaum auf dem kleinen Kopf war ein deutlicher Hinweis auf Karls preußische Herkunft.
Luise schluckte ihren Kummer herunter. Sie war eine Fremde an diesem Ort. Schlimmer noch, ein Eindringling.
Die Einheimischen kannten die Gefahren des Dschungels, die Tücken des Klimas. Sie lebten im Einklang mit dieser fremden Welt. Sie waren ein Teil davon.
Nur den weißen Wilderern mit ihren neuartigen Waffen konnten sie nicht genug entgegensetzen.
Luise spürte die feindlichen Blicke der Einheimischen, wenn sie in ihren prunkvollen Kleidern durch die Straßen Manaus' spazierte. Sie schämte sich in Grund und Boden, wenn verlauste Kinder um Geld bettelten, während Heinrich ihr verbot, das gleiche Kleid zweimal zu einem besonderen Anlass zu tragen.
Sie hatte keine Ahnung gehabt, als sie vor einem Jahr von Preußen aufgebrochen war, um die Frau an Heinrichs Seite zu werden. Monatelang hatte sie heimlich in ihrem Zimmer geweint und ihr Schicksal nicht akzeptieren wollen.
Innerhalb weniger Wochen war ihre Blutung ausgeblieben und eine Schwangerschaft festgestellt worden. Das hatte alle Fluchtfantasien zunichtegemacht.
Mit dem kleinen Karl konnte sie erst recht nirgends hin.
»Du nix jammern, du reich sein. Freuen.« Emefa, die afrikanische Haushälterin, hatte das zu Luise gesagt.
Heinrich bestand darauf, dass seine Angestellten »ordentlich« mit ihm redeten. Also lernten sie Deutsch und Portugiesisch.
Emefa hatte ein burschikoses Wesen und ließ sich nicht unterkriegen. Luise mochte die Frau sehr und bewunderte ihre Stärke. Schließlich hatte man sie ihrem Kontinent entrissen und hierher verschifft.
War es Luise nicht ähnlich ergangen? Durfte sie als reiche Preußin unglücklich sein? Oder war das Gotteslästerung?
»Senhora Lorenz«, rief Emefa.
Luise konnte sie von Weitem sehen. Emefa stand auf der Veranda und rieb eine Hand an ihrer Schürze ab.
»Du essen. Dünn sein. Nix gut für filho.«
Luise wusste Emefas Fürsorge zu schätzen. Sie stillte Karl, und das laugte sie aus. Er war ein kräftiges Bürschlein.
Sie setzte sich in Bewegung, als sie ein Schreien hörte.
Irritiert sah sie auf das Baby in ihren Armen. Es schlief und war es nicht gewesen, obwohl der Laut seinem Geschrei ähnelte.
Luise drehte sich um ihre Achse. Das Plärren wurde lauter.
Sie eilte in die Richtung, aus der sie den Lärm vernahm.
Ein Baby.
Dort weint ein Baby.
Ihr Puls schoss in die Höhe. Ihre frischen mütterlichen Instinkte jagten ihr die Tränen in die Augen.
Im Igarapé schwamm etwas. Es trieb zwischen die Boote.
»Senhora Lorenz!« Emefas Stimme klang hinter ihr.
Luise eilte auf den Steg, um zu sehen, wohin das Baby getrieben war.
Sie erhaschte einen Blick auf einen schwimmenden Korb. Darin lag ein schreiendes Baby. Es war in Rage und strampelte heftig mit den Beinchen.
Luises Herz zersprang in ihrer Brust.
Ein herannahendes Boot scheuchte das Wasser auf. Wellen bildeten sich auf dem Rio Negro.
Hinter Luise kam Emefa schnaufend zum Stehen. »Senhora!« Sie rang nach Luft.
Luise musste handeln. Der Korb schwankte und drohte zu kippen. Sie drückte Karl in Emefas Arme und sprang in den Fluss.
Emefas Kreischen hallte laut wider. »Socorro! Hilfe! Senhora Lorenz Wasser fallen.«
Luise schwamm zu dem Korb und griff danach. Das Baby schien unverletzt. Sein Plärren aber war ohrenbetäubend. Luise schob es schwimmend vor sich her.
Diego und Cristobal, die beiden Gärtner, erreichten den Steg und halfen Luise. Diego nahm den Korb. Cristobal zog sie aus dem Wasser.
Die Aufregung sprang auf alle Beteiligten über. Diego murmelte portugiesische Worte, die Luise nicht vollständig verstand. Sie drängte den Mann zur Seite und nahm den Schreihals aus dem Korb.
Vor lauter Geschrei verschluckte sich das Baby. Sie klopfte sanft auf seinen Rücken.
Instinktiv schob Luise sich an den Männern vorbei, lief auf die Wiese und öffnete den Ausschnitt ihres Kleides, um die tröstende Brust anzubieten.
Völlig durchnässt und mit sich überschlagendem Puls hockte Luise auf der Wiese und starrte in die dunklen Augen des Kleinen, der kräftig zu saugen begonnen hatte und sie dabei ansah.
»Senhora, náo. Kind nix für Preußen-Frau.« Emefa eilte mit Karl auf dem Arm herbei. »Ich rufen Katharina. Sie trocken machen.« Sie lief in Richtung des Hauses davon.
Luise zog vorsichtig an der zerlumpten Decke, die um die Brust des Babys gebunden war. So entdeckte sie, dass es sich um einen Jungen handelte. Genau wie Karl legte er sein kleines Händchen zwischen die Wölbung ihrer Brüste und ließ sie während des Trinkens nicht aus den Augen.
Der Kleine war so hungrig, er forderte auch die andere Seite.
»Senhora Lorenz.« Emefa kehrte schnaufend zurück.
Luise sah, dass Katharina ebenfalls auf dem Weg zu ihnen war. Sie trug Karl auf dem Arm.
Emefa wollte Luise das Baby der Einheimischen abnehmen.
Luise schob Emefas Hand zur Seite und schüttelte heftig den Kopf.
»Filho Karl nix trinken übrig. Senhor Lorenz böse sein.« Emefa warnte Luise eindringlich. »Ich Mehlbrei machen für Wald-Kind.«
»Ich habe Karl vor einer Stunde gestillt. Ich habe genug Milch.« Luise widersprach. Sie brachte es nicht übers Herz, dem Baby die tröstende Brust zu verwehren.
Dieser Junge war in einem Bastkorb angespült worden. Wie verzweifelt musste seine Mutter sein, sein Schicksal dem Fluss zu überlassen? Was hatte dieses Baby für Ängste ausgestanden?
Luise verstand Emefas Sorge. Schon oft hatte die Haushälterin Heinrichs harte Hand zu spüren bekommen, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen abgelaufen war.
»Luise, was ist passiert? Woher stammt dieses Baby?« Katharina, Luises Zofe, näherte sich mit geweiteten Augen.
»Ich habe ihn gefunden und werde ihn behalten.« Schützend drückte sie den Jungen an sich.
»Das ist ein Kind der Indigenen. Man sieht es auf den ersten Blick. Der Baron wird das nicht dulden.« Katharina blickte Luise missmutig an.
Diego brachte den Korb, in dem der Kleine gelegen hatte.
Luise fand neben einer weiteren zerschlissenen Decke eine aus Holz geschnitzte Figur. Stirnrunzelnd nahm sie sie heraus und musterte sie.
Die Figur schien ein vogelartiges Tier darzustellen.
Luise begriff die Zusammenhänge nicht. Sie kannte die Welt der Indigenen zu wenig.
Es spielte keine Rolle.
In ihren Armen löste sich der Kleine von ihrer Brust, und sie verdeckte ihre Blöße. Sie erhob sich vom Gras und ließ ihn ein Bäuerchen machen.
»Wir haben genug Geld, um zwei Kinder aufzuziehen.« Luise entschied sich für ein zweites Kind.
Sie sah die ungläubigen Blicke von Diego und Cristobal, beides Indigene, denen Heinrich einen neuen Namen gegeben hatte, damit er sie leichter aussprechen konnte.
Diego senkte den Blick. »Götter segnen, Senhora.«
»Nix Götter. Nur Kreuz-Gott beten. Senhor Lorenz böse sein. Schlagen dir.« Emefa schnappte aufgelöst nach Luft.
Sie alle duckten sich unter Heinrich. Luise...
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