1. Die Entführung der Kinder Kapitel 1. Die Ankunft Die Luft, die von der Ostsee herüberwehte, roch nicht einfach nur nach Salz, sondern nach einem Neuanfang. Nach Wochen voller Baulärm, Termindruck und der bleiernen Stille, die sich zwischen ihn und Lena gelegt hatte, fühlte sich der Wind vom Timmendorfer Strand für Aaron Keller wie eine Erlösung an. Er parkte den Kombi, die Reifen knirschten auf dem Kies der Ferienwohnung. Ein Geräusch, so schlicht, so frei von jeglichem Stress, dass es wie eine Melodie in seinen Ohren klang. Endlich, dachte er, ein paar Tage ohne das ständige Klingeln des Handys, ohne die unsichtbare Last auf seinen Schultern, die ihn zu einem stummen Schatten seiner selbst gemacht hatte. Die Anspannung fiel mit jedem Atemzug von ihm ab, und er spürte, wie die ersten, zarten Momente des Glücks seinen Geist durchdrangen. Lena stieg aus, schob ihre Sonnenbrille auf die Nase und atmete die salzige Luft tief ein. Ihre Augen, die monatelang von Sorgen umwölkt gewesen waren, funkelten plötzlich wieder. Ein unbeschwertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. "Siehst du? Das ist besser als jede Therapie", sagte sie, während sie eine große Strandtasche schulterte. Ihr Blick traf seinen, und zum ersten Mal seit Langem sah er nicht die Kälte der Enttäuschung, sondern einen Hauch von Hoffnung. Er wollte diese Hoffnung nicht enttäuschen. Die Kinder, Paula und Lukas, stürmten aus dem Auto, als wären sie aus Katapulten geschossen worden. Paula, mit ihren acht Jahren fast schon zu klug für ihr Alter, steckte sofort ihre Finger in den weichen Sand, der das Grundstück säumte. "Mama, riech mal! Das riecht nach echtem Urlaub!" Lukas, ihr sechsjähriger Wirbelwind, kickte einen Kieselstein in Richtung der Holzveranda. Das Haus selbst schien sie mit offenen Armen zu empfangen: hell, geräumig, mit einem atemberaubenden Blick auf die Ostsee. Im Wohnzimmer, in dem ein großer Holztisch stand, darauf eine Vase mit frischen Blumen, stellten sie die Koffer ab. Aaron öffnete die Terrassentür, und das Rauschen der Wellen schwappte herein, füllte den Raum mit einem friedlichen Geräusch. Die folgenden Tage flossen wie Sand durch ihre Hände. Morgens, wenn die Sonne noch tief stand, gingen sie gemeinsam zum Strand. Aaron und Lukas bauten gewaltige Sandburgen mit Wassergräben, während Lena und Paula Muscheln sammelten, als wären sie die wertvollsten Schätze der Welt. Die Kinder kicherten und planschten im kühlen Wasser, ihre Gesichter mit Sonnencreme verschmiert und von breiten Grinsen verziert. Doch die Idylle hatte feine Risse. Abends, wenn die Kinder im Bett waren, holte Aaron heimlich sein Handy hervor. Er sagte, er müsse nur kurz seine E-Mails checken. Lena sah ihn an, und in ihren Augen lag eine scharfe Enttäuschung, die ihn schmerzte. "Lass es einfach liegen, Aaron. Es ist Urlaub. Das kann bis nächste Woche warten." Einmal, als sie in einem kleinen Fischrestaurant am Hafen aßen, bemerkte Lena einen alten Mann. "Sieh mal, der schaut uns die ganze Zeit an." Aaron drehte sich um. Am Ende des Stegs stand ein Fischer mit einem wettergegerbten Gesicht. Eine zerschlissene Mütze verdeckte fast seine Augen, die direkt auf Aarons Familie gerichtet schienen. Ein unangenehmes Gefühl überkam Aaron, als hätte er etwas Falsches getan. Doch als er erneut hinsah, war der Mann verschwunden. "Ein Spinner", murmelte Aaron und versuchte, die seltsame Begegnung zu vergessen, aber das Gefühl des Unbehagens blieb. Am vierten Tag war die Sonne besonders heiß. Die Kellers breiteten ihre große Decke an einem belebten Strandabschnitt aus. Lukas spielte mit einem Eimer und einer Schaufel am Rand des Wassers, nur wenige Meter entfernt. Paula war damit beschäftigt, einen Wassergraben zu graben. Aaron saß auf der Decke, sein Handy in der Hand. Er wollte nur schnell die Nachrichten lesen. Ein Artikel über ein neues Bauprojekt einer konkurrierenden Firma fesselte ihn. Er tauchte ein in die Details, vergaß die Zeit, den Strand, und alles, was ihm in diesem Moment wichtig sein sollte. Lena hatte sich eine Flasche Wasser geholt. Als sie zurückkam, sah sie, wie Aaron in seinem Handy versunken war, und atmete genervt aus. Sie schaute zu den Kindern, die nur ein paar Meter entfernt waren. "Sie sind ja gleich da", dachte sie. Sie packte ihre Sonnencreme aus, um sich nachzucremen. Es waren nur wenige Sekunden. Als sie wieder aufblickte, traf der Schock sie wie ein kalter Schlag. Der Sand war leer. Lukas' Eimer und seine kleine Schaufel lagen verlassen am Rand der Wellen. Paulas gegrabener Graben war halb mit Wasser gefüllt. Aber von den Kindern war keine Spur. Lena sprang auf. "Aaron! Aaron, wo sind die Kinder?!" Aaron, aus seinen Gedanken gerissen, blickte auf. Sein Herz raste. "Sie . sie waren doch gerade noch da." Panik, die wie ein Monster in seinem Magen wuchs, lähmte ihn. Er rief nach ihnen, doch seine Stimme war belegt, kaum hörbar. Die glückliche Familienidylle war in einem Bruchteil einer Sekunde zerbrochen. Zurück blieben nur die Spuren ihrer Füße im Sand und die leeren Spielzeuge, die wie ein Mahnmal für die Sorglosigkeit der Eltern dastanden. Kapitel 2. Der Vorfall Die anfängliche Panik verwandelte sich in eine qualvolle, lähmende Leere. Die lauten Schreie von Aaron und Lena, die die Namen ihrer Kinder in den Wind brüllten, wurden von der Masse der Strandbesucher geschluckt. Unzählige Blicke, die zunächst neugierig, dann besorgt und schließlich mitfühlend waren, trafen auf das Ehepaar, aber niemand schien wirklich zu helfen. Aaron rannte, stolperte, durchwühlte jede Strandmuschel, fragte jeden Badegast, aber er sah nur schüttelnde Köpfe. Lena, die Tränen liefen über ihr Gesicht, versuchte vergeblich, sich an die letzten Momente zu erinnern. Was hatte sie falsch gemacht? Wie konnte sie nur für Sekunden abgelenkt sein? Ihre Gedanken waren ein verworrenes Knäuel aus Vorwürfen und Verzweiflung. Aaron fand Lukas' Eimer, nur wenige Meter vom Wasser entfernt, halb mit Sand gefüllt. Es war ein so unschuldiges Bild, dass es ihm das Herz zerbrach. Er umklammerte den kleinen blauen Plastikeimer, als wäre es das Letzte, was ihm von seinem Sohn geblieben war. Lena sank in den Sand, eine Hand vor dem Mund, und schüttelte immer wieder den Kopf. "Das kann nicht wahr sein. Sie sind doch nur . sie sind doch nur spielen gegangen." Doch ihr Blick, der über den leeren Strand wanderte, sagte etwas anderes. Erst als die Sonne langsam unterging und der Strand sich leerte, rief Aaron die Polizei. Seine Hände zitterten so sehr, dass er die Nummer kaum wählen konnte. Am Telefon klang seine Stimme rau und belegt, seine Worte waren ein Wirrwarr aus Panik, Scham und Verzweiflung. Wenige Minuten später traf ein Streifenwagen mit Blaulicht ein, eine Sirene, die die Stille der Abenddämmerung zerschnitt. Kommissar Mertens, ein Mann mit einem Gesicht, das aussah wie eine zerlesene Landkarte, stieg aus. Seine Augen, die zu viel gesehen hatten, um noch überrascht zu sein, musterten Aaron und Lena, als wären sie Figuren in einem ungelösten Rätsel. Er hörte ihnen ruhig zu, unterbrach sie nicht, während sie abwechselnd ihre Geschichte erzählten. Dann trennte er sie und sprach mit jedem einzeln. Er fragte Aaron nach seiner Arbeit, nach dem Grund, warum er die letzten Tage in seinem Handy versunken war. "Haben Sie Feinde, Herr Keller? Neider in Ihrer Firma? Hat jemand gedroht, Sie zu ruinieren?" Aaron fühlte sich nackt, bloßgestellt. Er war doch nur ein Vater, der nach seinen Kindern suchte, warum fühlte er sich wie ein Verdächtiger? Lenas Geschichte war die einer Frau, die sich vernachlässigt fühlte. Mertens fragte sie nach den Problemen in ihrer Ehe, nach den Finanzen, und ob sie Aaron die ständige Ablenkung verziehen hätte. Die Fragen trafen wie Hammerschläge. Sie fühlte sich von ihm verraten, die intimsten Details ihres Lebens wurden offengelegt, nicht um die Kinder zu finden, sondern um eine Schuldige zu finden. Der Verdacht Mertens' war spürbar. Er glaubte nicht an einen gewöhnlichen Entführungsfall, sondern an eine Geschichte von Untreue und finanziellen Problemen. Er notierte ihre Streits und die offene Distanz zwischen ihnen. Aaron und Lena bemerkten, wie ihre Not und ihr Schmerz als Beweise für ihre Schuld interpretiert wurden. Während die Polizei ihre Suche am Strand fortsetzte, blieben Aaron und Lena allein in ihrer Ferienwohnung zurück. Die Stille im Haus, das Fehlen des kindlichen Lachens, war unerträglich. Aaron starrte auf die Bilder der Kinder auf seinem Handy. Lena lief ziellos von einem Raum in den anderen, suchte nach Spuren, nach irgendeinem Anzeichen. Sie fanden nichts, außer einem alten, zerlesenen Roman auf Paulas Nachttisch. Ein Buch über ein kleines Mädchen, das am Strand nach einem Piratenschatz sucht. Lena spürte einen Stich, als sie es sah. Doch das hier war kein Märchen. Am nächsten Morgen wurden die Gesichter von Paula und Lukas in den lokalen Medien und im Internet verbreitet. Die Gerüchteküche brodelte. Jeder schien seine eigene Theorie zu haben. Die Kellers waren plötzlich nicht mehr Opfer, sondern nur noch Verdächtige. Aaron und Lena saßen in ihrer Ferienwohnung, umgeben von der beklemmenden Stille. Sie sahen sich an, aber in ihren Augen spiegelte sich nicht mehr nur der Schmerz, sondern auch das gegenseitige Misstrauen, das die Polizei zwischen sie getrieben hatte. Jeder von ihnen hielt die eigene Geschichte für die Wahrheit, während der andere die Schuld tragen sollte. Wer von ihnen hatte die Kinder wirklich im Stich gelassen? Die Fragen waren unausgesprochen, aber sie lagen wie eine unheilvolle Wolke über ihnen. Kapitel 3. Der Verdacht Die Presse war wie eine...