Schweitzer Fachinformationen
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Der Polizist liegt im Bett. Er schläft aber nicht, er ist tot. Über sein Gesicht kriecht eine Fliege, und auf dem Boden stehen fein säuberlich nebeneinander zwei nackte Füße. Nirgends ist ein Tropfen Blut zu sehen. Die Leiche wirkt mit ihren auf dem Bauch gefalteten Händen adrett und scheinbar unversehrt. Erst als der Arzt sie umdreht, entdeckt er die Todesursache. Der Mann ist erschossen worden, mit einem einzigen aufgesetzten Schuss in den Rücken.
An dieser Stelle kommt bereits Noldi, beziehungsweise Kantonspolizist Arnold Oberholzer, ins Spiel. Er hat Ferien, denn um diese Jahreszeit ist es in der Polizeistation Tösstal relativ ruhig. Die Leute haben sich vor der Hitze in die Badi geflüchtet oder irgendwo in den Schatten der Büsche am Flussufer.
Noldi und seine Frau sind vor einer Woche losgefahren. Mit dem Auto durch den Nationalpark, über den Ofenpass nach Mustair. Dort haben sie zum ersten Mal Station gemacht. Nach dem Mittagessen besuchten sie die Klosterkirche. Vor dem Hauptaltar haben sie einander mit dem Ellbogen angestoßen. Sie erinnerten sich, wie sie vor Jahren mit den Kindern hier gewesen sind. Ihre jüngere Tochter konnte sich nicht an dem Fresko sattsehen, welches den Tanz der Salome darstellt. Sie macht einen Handstand vor Herodes, um ihm ihre Beine zu zeigen. Dafür verlangt sie den Kopf des Jochanaan. Das beeindruckte Felizitas nicht im Mindesten. Sie wollte nur so ein Kleid wie die Tänzerin, blau mit unten fünf Zipfeln.
Von Mustair fuhren Noldi und Meret weiter nach Meran. Die endlosen Obstplantagen rechts und links der Straße hatten schon Frucht angesetzt. Sie suchten ein kleines Hotel in der Altstadt. Dort im Zimmer fielen sie einander um den Hals. Sie fanden ihre ersten Ferien ganz ohne Kinder großartig und hatten gleichzeitig ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Erleichterung. Sie mussten sich kein abwechslungsreiches Programm einfallen lassen, um ihre Brut bei Laune zu halten, sondern schliefen, so lange sie Lust hatten, schlenderten müßig die Promenade am Fluss entlang und saßen stundenlang im Kaffeehaus, musterten die anderen Spaziergänger und machten über alle und jeden boshafte Bemerkungen, die sie sich vor den Kindern nie erlaubt hätten.
Jetzt, am Tag nach der Rückkehr, geht Noldi mit seinen drei Enkeln auf dem Tössdamm spazieren. Dieser Damm wurde im vorigen Jahrhundert angelegt, um den Talgrund vor dem wilden und völlig unberechenbaren Fluss zu schützen. Auf der einen Seite des Weges fällt das Ufer steil zur Töss ab, auf der anderen geht es ebenso steil hinunter. Es ist ein schöner Tag im Juni, der Himmel blau, die Bäume grün. Auf den Wiesen hat der Hahnenfuß den Löwenzahn schon abgelöst. Der vierjährige Mark, Noldis erster Enkel, zerrt zum Zeitvertreib einen schweren Ast hinter sich her, den er am Weg gefunden hat. Die Zwillinge, Luis und Lena, sind knapp zwei. Sie kamen genau an dem Tag zur Welt, als Noldi um ein Haar erschossen worden wäre. Daran denkt er nicht gern, denn das Entsetzen steckt ihm nach wie vor in den Knochen. Lieber erinnert er sich, wie er mit Meret, seiner Frau, und seinem jüngsten Sohn in die Geburtsabteilung der Klinik Hirslanden gekommen ist.
Richard, der Schwiegersohn, war da, und die Männer schlugen einander besonders kräftig auf die Schultern, um nicht vor Rührung in Tränen auszubrechen. Dann stießen alle mit Champagner auf das glückliche Ereignis an. Sogar der damals 13-jährige Pauli bekam einen Schluck. Nur Verena, die Mutter der Neugeborenen, trank nichts. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen.
Die Geburt hatte sich hingezogen. Offenbar konnten sich die Zwillinge nicht einigen, wer zuerst an der Reihe wäre. Das Mädchen, ein strammes kleines Ding, setzte sich schließlich durch, dann kam ihr Bruder, auch er gesund und munter, aber eine Spur zarter als seine Schwester.
Sie lagen eng nebeneinander in ihrem Bettchen, und Noldi traf fast der Schlag, als er sich über sie beugte und ihm durch die nur halb geschlossenen Lider vier blinde Äuglein entgegenstarrten, blau wie die von jungen Katzen.
»Wie heißen sie«, fragte er seinen Schwiegersohn. »Habt ihr schon Namen für die beiden?«
»Oh ja«, antwortete anstelle ihres Mannes Verena, die eben wieder erwacht war. »Sie heißen Luis und Lena.«
Diese beiden mustert Noldi jetzt wohlgefällig und staunt einmal mehr, wie groß sie bereits geworden sind. Sie haben beide den Kopf voller Locken, das Erbteil ihrer Großmutter. Davon kann man im Moment nichts sehen, denn sie tragen zum Schutz vor der Sonne Hütchen mit Tüchern, die ihnen hinten über den Nacken hängen. Wie sie da auf dem Weg hin und her rennen, sehen sie aus wie geschäftige kleine Fremdenlegionäre. Dann entdeckt Mark auf einem Pfahl am Wegrand im hohen Gras versteckt eine schwarze sehr schmutzige, sehr unappetitliche Jacke. Jemand muss sie hier verloren oder widerrechtlich entsorgt haben. Sofort will der Junge seinen Ast gegen die neue Trophäe austauschen. Er ist fassungslos, als sein Großvater ihm das kategorisch verbietet. Da er bereits in das Alter kommt, in dem man für seine Wünsche kämpft, beginnt er zu argumentieren, und er argumentiert gut. Noldi muss seine ganze Überredungskunst aufbieten und gleichzeitig die Zwillinge in Schach halten, damit keines von ihnen in der Zwischenzeit abhanden kommt. Trotzdem ist er mit sich und der Welt zufrieden. Bis das Handy in seinem Hosensack brummt. Er fischt es heraus, schaut nicht auf die Nummer, weil er meint, es sei seine Frau. Es ist aber nicht Meret, sondern Hans Beer, Vorstand der Kantonspolizei Zürich in Winterthur.
»Chef«, sagt Noldi, »das ist gerade ganz ungünstig. Kann ich dich zurückrufen?«
»Wo bist du?«, fragt Beer.
»Ich muss die Zwillinge hüten«, antwortet Noldi. »Sie sind schlimmer als ein Sack voll Flöhe. Bin mit ihnen gerade auf dem Tössdamm. Muss höllisch aufpassen, dass mir keines ins Wasser oder auf der anderen Seite die Böschung hinunterfällt.«
»Mutig, mein Lieber«, kommentiert Beer mit einem Grinsen in der Stimme. Noldi hört es und registriert voll Unbehagen, dass es nur ganz schwach ist.
»Es handelt sich um einen Notfall«, sagt Beer auch schon. »Ich brauche dich in Winterthur.«
»Jetzt?«
»Ja. Sofort.«
Noldi sagt nichts mehr.
Sein Chef fragt: »Bist du noch da?«
»Eigentlich nicht«, erklärt Noldi frech, während er Luis, der sich gefährlich weit an den Rand des Weges wagt, hinten am Kragen packt.
»Also wir sehen uns. In einer halben Stunde bei mir im Büro«, sagt Beer und legt auf.
Noldi knurrt nur, aber er weiß, was ein Befehl ist. Auch wenn es ihm absolut nicht in den Kram passt, nimmt er die Kleinen fest an der Hand und ruft dem Größeren zu: »Komm, Mark, wir müssen zurück.«
Der Junge ist nicht begeistert, aber aus dem Ton seines Großvaters hört er, dass es keinen Sinn hätte zu protestieren. Bedauernd lässt er den Ast fallen und trabt hinter den anderen her. Noldi hat der Anruf von Beer nervös gemacht. Obwohl sie alte Freunde sind, kommt es selten vor, dass ihn der Chef während der Freizeit kontaktiert. Luis und Lena schwingen tapfer ihre Beinchen, um mit Noldi mitzuhalten. Doch sie haben Mühe, bis ihm in den Sinn kommt, sein Tempo zu mäßigen. Dann marschieren sie einträchtig alle vier über die Brücke, bleiben in der Mitte stehen, um die Töss zu begutachten. So viel Zeit muss sein, denkt Noldi grimmig, denn das machen sie jedes Mal, wenn sie hier vorbeikommen. Mark hängt sich an das Geländer. Der Wasserstand ist tief. Seit einer Weile hat es nicht mehr geregnet, und die Schneeschmelze in den Bergen ist längst vorüber. Noldi denkt an den zehnjährigen Jungen, den sie vor zwei Jahren tot aus der Töss geholt haben, und nimmt die Zwillinge fester an der Hand.
»Au«, sagt Lena, sie schlenkert mit dem Arm, um sich zu befreien, doch der Griff des Großvaters lockert sich nicht. Dann überqueren sie auf dem Fußgängerstreifen die stark befahrene Tösstalstrasse. Erst am Eingang zur Sunnematt, wo Oberholzers seit dreißig Jahren wohnen, lässt er die Kleinen frei. Sie laufen los, während Mark sich beim Großvater einhängt.
Noldis Haus steht an einer Seite der Einfahrt, auf der anderen die Garage unter einem großen Kastanienbaum. Der Platz dazwischen, bedeckt von feinem Kies, ist sauber gekehrt. Da war Noldi heute früh morgens bereits am Werk. Er hat einige der kleinen grünen Kastanien, die vom Baum gefallen sind, auf das Sims zum Kellerfenster gelegt. Die holt er jetzt und gibt sie Mark. Luis und Lena sind schon bei der Treppe, die zum Eingang führt, und rufen nach der Großmutter. Meret öffnet die Haustür. Sie ist eine hochgewachsene, kräftige, aber gut gebaute Frau. Auch nach vier Geburten hat sie ihre Beweglichkeit erhalten, und es gibt Momente, da wirkt sie immer noch wie ein Mädchen. Unlängst hat sie ihrem Mann gestanden, sie habe sich zum ersten Mal die Haare gefärbt, nachdem sie am Hinterkopf eine graue Stelle entdeckte. Noldi musste sich beschämt eingestehen, er hat davon nichts bemerkt. Für ihn altert seine Frau nicht, oder nur kaum. Aber vielleicht schaut er auch nicht genau hin. Das erhält ihn so jung, wie er sich fühlt.
Jetzt steht Meret in der Haustür und fragt sofort: »Noldi, ihr seid schon zurück. Ist etwas passiert?«
»Eigentlich nicht«, antwortet er, während er die Zwillinge mit einem Schubs an ihrem Hinterteil die drei Stufen zum Eingang hinauf befördert.
»Beer hat angerufen. Er will mich sehen.«
»Wieso das? Du hast doch bis Freitag frei. Dafür haben sie dir die Wochenendstreife aufgebrummt«, sagt Meret.
»Weiß der Teufel, was der Chef hat. Er...
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