Schweitzer Fachinformationen
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Da sitze ich jetzt im Bus und fahre nach Berzona, obwohl ich mir geschworen habe, in meinem Leben keinen Fuß mehr in diesen Ort zu setzen. Der Grund, warum ich trotzdem hier unterwegs bin, liegt in der Nachricht, die ich vor einigen Tagen erhalten habe. Cellini ist gestorben. Und man hat mir eine Todesanzeige geschickt. Offenbar war es sein Wunsch, dass ich zur Beerdigung komme. Sie ist für den nächsten Tag in Cavigliano angesetzt.
Wie früher nehme ich bis Cavigliano die Centovallibahn. Zu meiner Enttäuschung rattert und scheppert sie jetzt durch einen finsteren Tunnel, dessen Widerhall ihren Lärm vervielfacht, und die Stationen sind verschmiert mit Graffiti. Erst bei San Martino kommt sie wieder ans Licht. Aber auch die alte Strecke ab Ponte Brolla scheint mir enger geworden, vermutlich weil die vielen neuen Häuser nahe an die Bahnlinie gerückt sind.
In Cavigliano finde ich mich nicht mehr zurecht. Solang ich mich erinnern kann, war die Busstation direkt auf dem Bahnhofplatz. Doch jetzt hält hier nur der Schulbus. Gleich bei der Kirche steht ein Neubau, in dem die Casa Communale, eine Bar sowie eine Schule untergebracht sind. Schräg über den Platz gibt es einen kleinen Park und eine weitere Schule. Neben all diesen Neubauten wirkt die alte Kirche, als wäre sie geschrumpft. Ich frage ratlos einen Mann, der bei offenem Seitenfenster in seinem Auto sitzt, wo der Bus ins Onsernonetal abfährt. Nach seinen Angaben haste ich dann die schmale Gasse hinauf, die zwischen alten Häusern zur Kantonsstraße führt. Bei den einen bestehen die Mauern noch aus den ursprünglichen Steinen, die anderen sind grau verputzt. Hinter einer Wand aus Granit versteckt sehe ich einen modernen weißen Neubau. Oben wechseln alte und neue Häuser ab. Ich gehe eilig an ihnen entlang bis zur Haltestelle bei der Kreuzung. Tatsächlich kommt der Bus von Intragna her schon nach wenigen Minuten. Er ist voll besetzt mit Wanderern, die hier unterwegs sind, ihren Riesenrucksäcken, Kindern, Hunden und Walkingstöcken. Ich finde noch einen Fensterplatz, setze mich und schaue hinaus in das unendlich zarte, frühlingshafte Grün, das die dicken Falten der Berghänge überzieht. Ich sehe es und sehe es nicht, denn vor meinem inneren Auge ist Cellinis Gesicht aufgetaucht, überraschend nah nach so vielen Jahren und immer noch fremd.
Bevor Cellini auf der Bildfläche erschien, war schon ein Gendarm vorbeigekommen. Die Haselstauden blühten, und jedes Mal, wenn ein Windhauch sie streifte, zogen Pollenwolken über die Wiese. Ich notierte mir gerade, welche Pflanzen ich in Locarno für meinen neuen Garten kaufen wollte, als es an der Haustür klingelte. Das war ungewöhnlich, denn die meisten Besucher gingen um das Haus herum und klopften an die Terrassentür.
Der junge Mann hatte ein schmales, langes Gesicht und den Körperbau eines Knaben. Wegen der Hitze trug er die Uniformjacke offen. Ich führte ihn auf die Terrasse und setzte ihn in einen Korbstuhl unter dem Sonnenschirm. Er stülpte seine Mütze über das Knie. Ich kochte Kaffee. Wir redeten italienisch. Der Junge bemühte sich um eine deutliche Aussprache. Ich freute mich, dass ich ihn verstand und mich auch selbst in dieser Sprache einigermaßen mitteilen konnte. Früher hatte ich das Reden stets Broch überlassen. Ich fragte den jungen Mann nach seiner Familie. Er stammte aus Losone und hatte drei Geschwister. Ihm war es nach dem Militär als Einzigem gelungen, einen anderen Job zu bekommen als auf dem Bau. Der Vater arbeitete jeden Sommer als Kellner in Ascona.
Der Gendarm trank den Kaffee mit geschlossenen Augen. Dann stellte er die Tasse ab, leckte den Schaum von der Oberlippe, seufzte, sah mich an. »Kennen Sie zufällig einen Herrn Casanova?«, fragte er.
»Ja.«
»Woher?«
»Aus dem Dorf«, sagte ich.
»Hat er bei Ihnen gewohnt?«
»Nur kurz«, sagte ich und setzte in einer plötzlichen Eingebung hinzu: »Aber er hat hier etwas vergessen.« Ich sprang auf, holte Frieders Rucksack. Er hing nach wie vor noch an demselben Garderobehaken, wohin ich ihn vor Monaten gehängt hatte. Jetzt nahm ich ihn und stellte ihn vor den Jungen hin.
Der Gendarm beugte sich in seinem Sessel vor, nestelte an der Schnur, die den Sack verschloss.
Herr Casanova, erklärte ich, sei beruflich im Dorf gewesen.
»Und dann?«, fragte der Gendarm.
»Ist er wieder abgereist. Ist schon eine Weile her.«
Endlich hatte er den Knoten geöffnet, tauchte mit der Hand hinein, schnaufte hörbar und zog die Pistole heraus. »Signora«, sagte er.
»Die gehört Herrn Casanova.«
»Und er hat nie nach seinem Rucksack gefragt?«, erkundigte sich der junge Gendarm ratlos.
»Nein.«
Ungläubig sah er mich an und hielt die Waffe hoch.
Irgendetwas, dachte ich, muss ich jetzt sagen. Fragte ich mich doch selbst, woher Frieder sie hatte.
»Vielleicht«, begann ich, »hat er sich bedroht gefühlt.«
»Was hat Herr Casanova hier gemacht?«, fragte der Gendarm.
»Er hat über die unbewilligte Mülldeponie recherchiert.«
Oh ja, das ist sehr gut, dachte ich. Das passt. Und listig setzte ich hinzu: »Bitte behandeln Sie das vertraulich. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen dürfte. Solche Dinge sind meist heikel. Da geht es um Politik.«
Der junge Mann war so naiv, wie er aussah. Er fühlte sich sofort unbehaglich, blickte mich unsicher an. Er schwitzte. Eifrig kramte er im Rucksack. Ich wusste, er würde weiter nichts finden als Frieders glänzend rote Turnhose.
»Sie können die Sachen mitnehmen«, bot ich ihm an, »wenn Sie mir eine Quittung dafür ausstellen.«
Der Gendarm hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Warum interessieren Sie sich überhaupt für Herrn Casanova?«, fragte ich.
Ja, wenn man das wüsste. Aus Bellinzona sei der Auftrag eingegangen.
»Und da kommen Sie ausgerechnet zu mir?«
Er hob die Schultern, lachte, sah mich zweifelnd an, kramte sein Notizbuch aus dem Hosensack, kritzelte eine Empfangsbestätigung auf Italienisch, die ich nur zum Teil lesen konnte. Dann schraubte er sich aus dem Sessel hoch, drückte mir die Hand, dankte für den Kaffee und verschwand um die Hausecke. Den Rucksack nahm er mit.
Als Cellini dann das erste Mal nach Berzona kam, war der Pollenflug vorbei und an den Stauden zeigten sich bereits winzige grüne Haselnüsse.
Ich stand in der Halle unseres Hauses. Vor mir auf dem Tisch lagen einige von Brochs Büchern. Ich nahm das oberste zur Hand. Eine Seite war leicht verschnitten. Behutsam riss ich die vorstehende Ecke ab, rieb sie zwischen den Fingern und sah, wie das winzige Stück Papier im Sonnenlicht zu Boden flatterte. Für den Bruchteil einer Sekunde durchströmte mich ein unbeschreibliches Gefühl - Euphorie, Gleichgültigkeit, Staunen.
Ein Schatten fiel in die offene Terrassentür.
»Ercole Cellini von der Kriminalpolizei Bellinzona«, stellte er sich vor.
Der Bus hält in Auressio. Hier steigen ein paar ältere Leute aus, vermutlich Einheimische. Die Jungen haben heutzutage ein Auto. Wie in allen Dörfern hier im Tal sind die Häuser den Hang hinauf gebaut. Ganz oben thront die Kirche. Darüber sieht man den dunklen Nadelwald, und über ihm stechen kahle Felsenberge in den Himmel.
Die Touristen verlassen den Bus erst in Loco, um die alte Mühle zu besichtigen. Sie stammt aus dem 18. Jahrhundert, wurde inzwischen restauriert und als Touristenattraktion wieder in Betrieb genommen.
Bei der Weiterfahrt bin ich beinahe allein im Bus. Der nächste Halt ist schon Berzona.
Anders als der Gendarm, welcher Uniform getragen hatte, war Cellini in Zivil. Ich schätzte sein Alter zwischen 40 und 50. Er war klein, stämmig, trug das Haar sehr kurz und hatte einen runden Kopf. Sein Gesicht war gebräunt, der Mund wie ein Strich zwischen die Wangen geschnitten.
Er hatte eine dünne dunkelblaue Windjacke über die Schulter geworfen. Das Hemd stand am Hals offen. Die Manschetten hingen ihm aufgeknöpft fast bis an die Fingerspitzen, was sich seltsam ausnahm. Und seine Hosen waren zu lang.
Auch ihn lud ich zum Kaffee ein.
Anders als der Junge, der seine Mütze auf den Knien behalten hatte, legte Cellini seinen Hut auf den Tisch. Dann krempelte er bedächtig die Ärmel hoch.
Wir sprachen deutsch. Er nahm drei Löffel Zucker und trank, gierig, wie mir schien. Trotzdem war er kein ungehobelter Mensch.
»Kennen Sie Friedrich Casanova?«, fragte er.
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Das habe ich bereits Ihrem jungen Mann erzählt, der mich vor einiger Zeit besucht hat. Daher weiß ich es noch, es war Ende Oktober vorigen Jahres.«
»Wie stehen Sie zu ihm?«
Ich hob die Augenbrauen. Dann sagte ich langsam: »Gar nicht.«
Cellinis Gesicht blieb unbewegt. »Er hat bei Ihnen gewohnt?«
»Kurz.«
»Wieso?«
»Es gab im Dorf keine andere Unterkunft. Er hat über die wilde Deponie im Wald recherchiert. Friedrich Casanova war Journalist.«
»Wieso war«, hakte Cellini nach, bevor ich meinen Fehler bemerkte. Doch ich besserte ihn aus, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. »Keine Ahnung, was er jetzt macht. Frieder wechselt häufig seine Jobs. Und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.«
»Ah ja.« Der Polizist lehnte sich zurück, ließ den Blick über das Panorama schweifen, trank einen Schluck. Dann sagte er zu meiner Überraschung, er sei ein großer Bewunderer meines...
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