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1Psychomotorik
Unter dem Begriff Psychomotorik werden in Deutschland Ansätze einer ganzheitlichen Persönlichkeitsförderung und Entwicklungsbegleitung über die Lebensspanne gefasst, die die Wechselwirkung von Bewegen, Wahrnehmen, Denken und Erleben in sozialen Bezügen in den Mittelpunkt der Arbeit stellen (Kuhlenkamp 2022, 21ff).
Die deutsche Psychomotorik hat sich seit den 1950er Jahren kontinuierlich entwickelt und ausdifferenziert. Dies hat zur Folge, dass unter dem Begriff Psychomotorik verschiedene Ansätze und Vorgehensweisen/Praktiken gefasst werden, die unterschiedliche Schwerpunkte in Theorie und Praxis setzen.
Als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Ansätze können das humanistische Menschenbild sowie die Grundannahme der Einheit von körperlichen und seelischen Prozessen angenommen werden. Psychomotorische Ansätze betrachten "den Menschen ganzheitlich als Wesen, dessen Emotionen, Kognitionen, sinnliche Wahrnehmung, Bewegungen und soziale Kommunikation in enger Wechselbeziehung geschehen" (Haas 2014, 11).
In der Psychomotorik wird Bewegung als Ausgangs- und Ansatzpunkt für soziales, emotionales und kognitives Handeln betrachtet. Das Bewegungsverständnis geht über die reine körperliche Aktivität und ein Beüben motorischer Funktionen hinaus. Bewegung dient vielmehr dem Ausdruck, der Mitteilung und dem Erfahrungsgewinn und erhält damit eine kontextbezogene, individuelle, sinngebende Bedeutung (Kuhlenkamp 2022, 121).
Die grundlegenden Handlungsprinzipien der Psychomotorik werden unter anderem von Ernst J. Kiphard (1989, 50) mit folgenden Begriffen umrissen und kontrastiert:
■Erlebnis- und Persönlichkeitsorientierung anstelle von Leistungsorientierung
■Individuumsorientierung anstelle einer Normorientierung
■Prozessorientierung anstelle von Produktorientierung
■freie Handlungsmöglichkeiten in offenen Bewegungssituationen anstelle des ausschließlichen Nachvollziehens genormter Bewegungsabläufe
■Selbstbestimmung und Freiwilligkeit anstelle von Fremdbestimmung
Ergänzt werden diese Handlungsprinzipien um folgende Aspekte (Kuhlenkamp 2022, 124 - 149):
■Beziehungs- und Dialogorientierung
■Spielorientierung
■Gruppenorientierung
■Ressourcenorientierung und Resilienzförderung
■Entwicklungsorientierung
In diesem Buch werden diese Handlungsprinzipien um die Sozialraumorientierung erweitert (ausführlich dazu Kap. 2).
Entlang der Handlungsprinzipien kann die konkrete psychomotorische Praxis je nach eingenommener psychomotorischer Perspektive unterschiedlich begründet und gestaltet werden. Die einzelnen psychomotorischen Perspektiven unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundannahmen über Entwicklungsprozesse, ihres Störungsverständnisses und des davon abzuleitenden Vorgehens in der Förderung. Sie dienen als Basis der Planung und Reflexion psychomotorischer Praxis. In der Praxis ergänzen und überschneiden sich in der Regel einzelne Perspektiven. Die einzelnen Perspektiven können jeweils zwei grundlegenden Kategorien zugeordnet werden (ausführlich dazu Kuhlenkamp 2022, 24-34):
1.Erklärende Ansätze, unter die die funktional-physiologische und die erkenntnisstrukturierende Perspektive gefasst werden
2.Verstehende Ansätze, unter die die identitätsbildende / sinnverstehende und ökologisch-systemische Perspektive fallen
Da es in der sozialraumorientierten Psychomotorik weniger um eine konkrete psychomotorische Praxis im Sinne der Gestaltung einzelner Angebote im Detail geht, sondern vielmehr um eine sozialräumliche Verortung und Fokussierung auf benachteiligte Bevölkerungsgruppen, wird an dieser Stelle auf eine differenzierte Darstellung psychomotorischer Perspektiven verzichtet. Stattdessen wird im folgenden Kapitel das für eine sozialraumorientierte Psychomotorik relevante psychomotorische Grundverständnis vorgestellt.
1.1Psychomotorisches Grundverständnis
Psychomotorik als "eine entwicklungstheoriegeleitete Handlungswissenschaft mit Ausrichtung auf die Erforschung der dynamischen Personen-Umwelt-Interaktion" (Fischer 2019, 113) muss die Lebenslage ihrer AdressatInnen berücksichtigen. Eine sozialraumorientierte Psychomotorik geht daher über die individuumszentrierten Ansätze der psychomotorischen Arbeit hinaus, da in ihr sowohl das Individuum als auch dessen lebensweltlicher Kontext adressiert werden.
Damit orientiert sie sich an einer sozial-ökologischen Entwicklungsperspektive nach Urie Bronfenbrenner (1993), in der die Entwicklungskontexte (= soziale Wirklichkeit) in ihrer Bedeutung für menschliche Entwicklung betont werden. Bronfenbrenner verweist in seiner Studie "Wie wirksam ist kompensatorische Erziehung?" darauf, dass Fördermaßnahmen nur dann deutlich nachhaltig wirken, wenn sie möglichst in der frühen Kindheit und mit einer möglichst dauerhaften Veränderung des unmittelbaren kindlichen Umfelds einhergehen (Bronfenbrenner 1974). Da gerade Eltern in der frühen Kindheit den unmittelbaren Entwicklungskontext bilden, sollte die familiäre Lebenswelt stärker in den Blick genommen werden, wie dies zum Beispiel im Kontext der Frühen Hilfen geschieht (Kap. 8). Eine Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit führt insgesamt zu einer notwendigen Rahmenerweiterung des psychomotorischen Wirkens sowie zu einem Verständnis für Entwicklungsspielräume. Dabei sind
"Menschen [.] weder ferngesteuerte Roboter einer sie gängelnden und steuernden Umwelt, noch sind sie völlig frei von dieser Umwelt. Ihre Möglichkeiten, aber auch ihre Begrenzungen hinsichtlich ihrer Lebensführung hängen eng mit den Möglichkeiten und Begrenzungen der Umwelt zusammen" (Röh 2013, 61).
Eine sozialraumorientierte Psychomotorik zielt daher, neben den individuellen Förderzielen für einzelne TeilnehmerInnen, sowohl auf die Erweiterung von Ressourcen im Sozialraum als auch auf eine Kompensierung und ggf. auch Minimierung der dort vorhandenen Probleme/Einschränkungen. Sie fragt deshalb unter anderem danach: Welche Bewegungs- und Spielmöglichleiten bietet der Sozialraum, welche (noch) nicht, welche Strukturen, Einrichtungen, Settings (Kap. 4.2) bietet der Sozialraum, wie und von wem werden sie genutzt?
Hierfür werden die psychomotorischen Bezugsdisziplinen (zum Beispiel Entwicklungspsychologie, Erziehungswissenschaften, Heilpädagogik, Sportwissenschaft) um die Perspektiven der Sozialen Arbeit und der Gesundheitswissenschaften erweitert.
Unter Berücksichtigung des Paradigmas der Gesundheitsförderung (Kap. 1.2), der Definition des Begriffs Sozialraumorientierung nach Becker (2020b, 19) (Kap. 2.1) sowie unter Einbezug der Psychomotorik-Definition von Krus (2015, 53) wird sozialraumorientierte Psychomotorik daher wie folgt definiert:
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - DEFINITION -
Sozialraumorientierte Psychomotorik ist ein Konzept der ganzheitlichen Gesundheitsförderung über die Lebensspanne durch Bewegung und Körperlichkeit. Ihr liegt ein Verständnis der Einheit von Bewegen, Wahrnehmen, Erleben und Handeln in bedeutungsvollen sozialen Kontexten zu Grunde. Neben individuellen Zielsetzungen wird die Entwicklung sozialer und räumlich strukturierter Kontexte angestrebt.
Sozialraumorientierte Psychomotorik betrachtet auf der individuellen Ebene Bewegungs- und Körpererfahrungen als fundamentale Bausteine für Lernprozesse, Identitätsbildung, Beziehungsgestaltung sowie für das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden.
Sie geht jedoch in ihrer Zielsetzung über die psychomotorische Arbeit mit Individuen/Gruppen hinaus, indem sie größere soziale Einheiten miteinbezieht und darauf zielt, aus der Bewegungs- und Körperperspektive gesundheitsförderliche gesellschaftliche Strukturen zu schaffen bzw. bestehende (sozialräumliche) Strukturen zu beeinflussen.
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Damit soll ein Beitrag zur Weiterentwicklung einer lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung in sozialräumlichen Settings wie Stadtteilen oder Quartieren geleistet werden. Kapitel 2 und 4.2 beschäftigen sich daher ausführlich mit den Begriffen Sozialraum und Settingansatz der...
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