Schweitzer Fachinformationen
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Mein fliegender Teppich des Geistes
oder Die verwickelten Fäden des Lebens
Das Leben lag vor ihr ausgebreitet wie ein verheißungsvoller, bunter Teppich,
dessen Muster entworfen,
aber noch längst nicht festgelegt war.
Lucy Maud Montgomery (1874-1942), kanadische Schriftstellerin
Als ich anfing, über die spirituellen Erfahrungen nachzudenken, die mein Kinder-Ich mit meinem erwachsenen Bewusstsein und Glauben verbinden, kamen mir drei unterschiedliche Teppicherfahrungen in den Sinn. Sie inspirierten mich zur dreiteiligen Struktur, der Sie in den folgenden Kapiteln begegnen werden. Bevor Sie sich also mit mir und meinem fliegenden Teppich des Geistes lesend auf die Reise machen, möchte ich mit Ihnen kurz auf allen drei Teppichen Platz nehmen.
Der bunte Teppich der Kindheit
Der erste Teppich war der große Perser im Wohnzimmer meiner Eltern. Als ich klein war, habe ich auf ihm erst Krabbeln und dann Laufen gelernt. Er war ein großartiger Spielplatz. An seinen Farben, Mustern und Ornamenten konnte ich mich orientieren. Sie ergaben abgegrenzte Felder für das Bauen mit Holzklötzchen. Sie waren Sortier- und Sammelplätze für bunte Knöpfe aus Mamas Knopfschachtel. Sie lieferten bunte Weideflächen, um meine Zootiere einzuhegen. Aus den geraden Linien wurden nachgiebig-weiche Straßen, auf denen Spielzeugautos entlangglitten, oder Bäche und Flüsse, über die man Brücken bauen musste. Der Perserteppich war mal Land, mal Meer, ein immer präsenter Verbündeter meiner kindlichen Fantasie. Er war mein erstes Symbol für die »ganze Welt«, die kindlicher Entdeckerlust zu Füßen liegt.
Dieser erste Teppich steht für besondere Momente oder kleine Szenen, die mir aus der Kinderzeit in Erinnerung geblieben sind. Mit ihnen beginnt jedes Kapitel. Dabei habe ich bewusst darauf verzichtet, auf Fotos oder Erzählungen aus der Familie über mich zurückzugreifen. Stattdessen habe ich nach der subjektiven Innenperspektive meines Kinder-Ichs gesucht. Also Erinnerungen, von denen kein anderer wissen kann. Dazu kam: Ich wollte auch, um ein Wort des Theologen Karl Rahner zu bemühen, »die Mystik des gewöhnlichen Lebens« von seinen frühen Anfängen her besser verstehen. Warum bin ich eigentlich eine spirituelle Sucherin mit einem so hohen Interesse an Mystik geworden? Wo lagen die Anfänge? Vor Jahren habe ich einmal einer Theologieprofessorin nach einem hochgescheiten Mystikvortrag die schlichte Frage gestellt: »Wie wird man eigentlich ein Mystiker?« Ihre verblüffte Antwort lautete: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Das wiederum hat mich verblüfft und bewogen, mich mit Entwicklungspsychologie zu beschäftigen. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es bei uns allen kostbare Kindheitsmomente gibt, die an den Beginn der eigenen spirituellen Entwicklung gehören. Sie sind keineswegs immer direkt auf religiöse Erziehung oder kirchliche Prägung zurückzuführen.1 Ich hoffe, dass Sie beim Lesen meiner Kindheitsszenen Lust bekommen, selbst in das Schatzhaus Ihrer persönlichen Erinnerungen hinabzusteigen, um dort die »versunkenen Sensationen« Ihrer Kindheit auszugraben.2 Sie mögen klein sein und Ihnen beim ersten Wiedererinnern fast blass und unbedeutend erscheinen. Aber sie haben sich als frühe Fäden in den Teppich Ihres Lebens eingewebt, um die sich später erkennbare Muster bilden konnten.
Wir, die wir wie Teppiche sind
An dieser Stelle könnten Sie gleich einmal innehalten und sich selbst fragen: Gibt es Erinnerungen aus Ihrer Kinderzeit, die allein aus Ihrem »Kopf« kommen, also nirgends als Foto dokumentiert wurden? Die kein anderer über Sie erzählt oder aufgeschrieben hat? Von denen keiner wissen kann als Sie selbst? Suchen Sie nicht gleich nach einem besonderen spirituellen Erlebnis. Konzentrieren Sie sich erst einmal darauf, einige dieser subjektiven Momentaufnahmen von früher in Ihrem Bewusstsein aufsteigen zu lassen. Für die beiden ersten Lebensjahre werden Sie nichts finden, da herrscht komplette Amnesie. Erst ab dem dritten Lebensjahr haben wir bruchstückhafte Erinnerungen, weil der präfrontale Kortex und der Hippocampus erst eine Weile heranreifen müssen, bis erste Gedächtnisspuren angelegt werden können. Für die erzählbare »Überlebensrate« unserer frühen Erlebnisse im Gedächtnis ist die Verarbeitungstiefe entscheidend. Neben den sinnlichen Eindrücken und Emotionen sind es vor allem die Worte, die uns damals schon zur Verfügung standen.3 Achten Sie auf alle möglichen frühen Erinnerungsschnipsel, die ihr Gedächtnis preisgibt. Nutzen Sie dafür alle Sinne: War es vielleicht etwas, das sich besonders angefühlt hat? Kommt Ihnen ein bestimmtes Geräusch, ein besonderer Geruch oder Geschmack in den Sinn? Taucht ein Ort, ein Mensch, ein Tier auf? Welches Gefühl verbindet sich damit? Bei welchen Erinnerungen fühlen Sie sich am wohlsten? Stoßen Sie sich nicht an den Lücken oder losen Enden solcher Erinnerungsfetzchen. Erforschen Sie einfach, was dieser Moment, die kleine Szene für sich selbst ausstrahlt. Schauen Sie durch Ihre Kinderaugen und nehmen Sie wahr, was sie sahen. Blicken Sie dann freundlich als Erwachsener auf das, was Ihr Gedächtnis freigegeben hat, und schreiben Sie auf, woran Sie sich alles erinnern. Das ist der erste Blick auf Ihren fliegenden Teppich des Geistes.
Der bunt gewebte Teppich unserer Welt
Der zweite Teppich, auf den ich Sie einlade, hat mit gemeinsamem Gestalten zu tun. Als Teenager habe ich einmal selbst zusammen mit meiner Mutter und meiner Schwester einen Shirazteppich aus Smyrnawolle geknüpft. Er war viel simpler und kleiner als der feine Perserteppich, aber doch groß und kompliziert genug, dass wir zu dritt monatelang daran saßen. Es war eine Arbeit, die Ausdauer, Konzentration und Übung verlangte. Mit dem Knüpfhaken mussten wir die vorgeschnittenen Wollfäden in immer gleicher Länge in die feste weiße Stramingrundlage ziehen. Für den ständigen Farbwechsel orientierte man sich an einem Extrablatt mit aufgedrucktem Zählmuster. Es entstanden Knoten für Knoten nested structures, komplexe Muster, die ineinander verschachtelt waren. Reihe um Reihe verwandelte sich so der steife Stramin in einen weichen Teppich.
Die Philosophin Hannah Arendt sprach einmal von unserem vorgegebenen »Lebensgeflecht«. Jeder neue Erdenbürger knüpft seine Fäden »in ein bereits vorgewebtes Muster«. Damit verändert sich das gesamte Gewebe. Gleichzeitig beeinflussen unsere Fäden auch alle anderen »Lebensfäden, mit denen sie innerhalb des Gewebes in Berührung kommen, auf einmalige Weise.«4 Wir sind anknüpfende Wesen, die gemeinsam am Teppich unserer Welt weben. Wir wollen dabei begreifen, was ihn und uns ausmacht: familiäre Herkunft, persönliche Vorlieben, Beziehungen, geteilte Werte, Regeln und Traditionen. Unser individuelles Gedächtnis korrespondiert immer mit unserem kulturellen Gruppengedächtnis. Es taucht in unseren Kindheitserinnerungen auf in Gestalt von Geschichten, Liedern, Bräuchen, Sprichwörtern, heiligen Texten, Orten, Landschaften, Festen, Essen, Tänzen, Filmen, Alltagsgegenständen, Technik, Konsum, Kunst usw. In den Worten des Sufimystikers Dschelaleddin Rumi (1207-1273): »Jeder Augenblick und jeder Ort sagt: webe dieses Muster in deinen Teppich ein.«5 Je dichter und bunter unser intersubjektiver Lebensteppich wird, desto höher und weiter fliegt er. Desto größer wird auch die Welt, die wir überschauen, in die wir uns hineinwagen und mit der wir uns verbunden fühlen können. Dieser zweite Teppich brachte mich dazu, nach allgemeinen Bezügen zu suchen, an die meine Kindheitsmomente anknüpfen. Damit Sie für sich selbst mitsuchen können, finden sich in jedem Kapitel auch Fragen oder Vorschläge für Sie als Leserinnen und Leser.
Der Faden für den Weg des Geistes
Es gibt eine Tradition unter den Frauen der Navajo Indianer. Sie weben in jeden ihrer Teppiche einen speziellen Faden hinein, den sie »den Faden für den Weg des Geistes« nennen. Mein dritter Teppich ist darum immateriell. Er setzt sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen, theologischem Wissen und mystischen Einsichten zusammen, in denen mir »Geist in Aktion« begegnet ist. Typisch für ihn ist, dass er uns hilft, uns immer wieder selbst zu überschreiten und neue Deutungen zu bilden. So blicke ich heute durch andere Augen auf meinen fliegenden Teppich des Geistes als das kleine Mädchen, das vor über 60 Jahren anfing, ihn zu erkunden. Mein Empfinden, meine Sprachmöglichkeiten, mein Wissen, meine Wertmaßstäbe und Glaubensvorstellungen haben sich im Lauf der Zeit gewandelt und mit ihnen mein Ich. Trotzdem gibt es dahinter eine personale Kontinuität im Selbst, das meinen fliegenden Teppich steuert und auf geheimnisvolle Weise den roten Erzählfaden in der Hand hält. Es ist größer als mein Ichbewusstsein, in dessen Gedächtnisraum eben bestimmte Erinnerungen erhalten blieben. Hunderttausend andere dagegen nicht. Wieder andere Erinnerungen, die ich ausgrub, blieben als lose Fäden hängen und bildeten keine für mich erkennbaren sinnhaften Verknüpfungen.
Wer hat für das eine und das andere gesorgt? Ich denke, dass diese Auswahl der universale Geist getroffen hat, auf dessen fliegendem Teppich unser Bewusstsein seine Lebensreise erleben darf. Dieser alles umfassende Geist ist ein unendlicher, lebendiger Prozess. Er trägt meinen fliegenden Teppich, so wie er den Ihren trägt. Und während er uns immer mehr an Höhe, Weite und Breite...
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