Schweitzer Fachinformationen
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Draußen regnet es in Strömen, und es ist sehr kalt geworden, mitten im Juli.
»Sauwetter!«, schimpft Marianne und strubbelt sich durch ihr nasses Haar. Wenn ich Dienst in der Apotheke habe, nimmt sie mir Mucki ab und bringt sie manchmal auch wieder heim, so wie jetzt.
»Willst du ein Handtuch?«
Marianne winkt ab. »Bin ja nicht aus Zucker.«
Mucki steht noch immer nahe der Tür und sieht mich fragend an. Ich kenne diesen Blick bereits, wie auch sie meine Reaktion zu deuten weiß, ohne dass ein einziges Wort gesprochen werden muss: nichts Neues vom Papa.
»Dürfen wir noch spielen?«, fragt Lene, Mariannes älteste Tochter, die mitgekommen ist.
»Verschwindet schon!« Ich tue so, als würde ich sie wegscheuchen. Die Mädchen streifen ihre Sandalen ab, ohne sich die Zeit zu nehmen, die Fersenriemchen zu öffnen, und huschen ins Kinderzimmer. Lene liebt Muckis Zimmer, daheim muss sie sich einen winzigen Raum mit ihren drei kleinen Geschwistern teilen.
»Neuigkeiten?«, erkundigt sich Marianne. Ich schüttele den Kopf, und sie stößt einen leisen Seufzer aus. Wir gehen in die Küche, doch kaum haben wir uns hingesetzt, klopft es schon wieder.
»Das wird Ralf sein«, vermutet Marianne. »Und er bringt noch jemanden mit.« Sie lächelt jetzt. Ich gehe, um zu öffnen. Tatsächlich ist es Ralf - und neben ihm steht Manfred Siefen.
»Manfred!« Das ist nun wirklich eine Überraschung. »Wie schön, dass du wieder bei uns bist!« Ich bin ehrlich gerührt, strecke die Hand aus, streiche über seinen Arm.
»Nur keine falsche Zurückhaltung, junge Dame!« Manfred packt mich, zieht mich an sich und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Sein Gesicht ist nass vom Regen, und es pikst ein bisschen. Peters Bartwuchs kratzt nie, fährt mir durch den Sinn. Er rasiert sich zweimal am Tag, wenn's sein muss. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Manfred ist wieder da, allein das zählt im Moment.
Er ist einer von Peters ältesten Freunden, Mitglied des offiziell längst verbotenen Roten Frontkämpferbundes wie er, ein liebenswerter, verlässlicher Kerl. Gleich am 30. Januar, dem Tag von Hitlers Machtergreifung, haben sie ihn verhaftet. Er soll Mülltonnen von einem Dach herunter auf einen SA-Trupp geworfen haben, der im Triumphmarsch durch Ehrenfeld zog. Zuzutrauen wär's ihm. Ich hoffe sogar, dass er's getan hat, wenn er schon dafür einsitzen musste.
Einen knappen Monat später, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, wurde auch Peter auf offener Straße verhaftet. Doch sie konnten ihm nichts nachweisen und mussten ihn gleich wieder laufen lassen. Damals hat er mehr Glück gehabt.
»Wie geht es dir?«, frage ich Manfred. Müde und blass sieht er aus, mit blauschwarzen Schatten unter den Augen, als hätte er wochenlang nicht geschlafen.
»Hervorragend!«, dröhnt er und reibt sich demonstrativ die Hände. »Bin seit gestern wieder draußen. Ein tolles Gefühl, sag ich dir! Nur ein bisschen viel Platz überall um mich rum. Muss mich erst wieder dran gewöhnen.« Er lächelt schief. Ich lächle zurück, irgendwie.
Dann hocken wir gemeinsam am Küchentisch wie in alten Zeiten. Ich koche Muckefuck und schneide einen Rosinenblaatz auf. Ralf packt ein paar mitgebrachte Bierflaschen aus, reicht Manfred eine. Schnappverschlüsse ploppen. Alles fast wie immer. Nur Peter fehlt.
»Was ist das für ein Heft?« Ralf deutet auf mein frisch begonnenes Tagebuch, das noch auf der Tischplatte liegt. Ich starre darauf, und als hätte ich seinen Zweck momentan selbst vergessen und müsste mich erst besinnen, schütze ich Gleichgültigkeit vor.
»Eine Kladde, nichts weiter. Darin notiere ich meine Gedanken.«
»Hoffentlich nur harmlose.«
»Völlig harmlos!«, bekräftige ich. »Kochrezepte, Gedichte über Blumen, über die Liebe, solche Dinge eben.«
Ralf runzelt die Stirn. »Darf ich sehen?«
»Nein.«
Er seufzt resigniert. »Die SA kann jederzeit wiederkommen, Gertrud. Du solltest nichts aufschreiben.«
». sagte er und machte sich auf den Weg, um bei Nacht und Nebel die Rote Fahne unters Volk zu bringen.« Ich grinse freudlos. Ralf überhört meine Bemerkung und wiederholt seine Mahnung. Wo ich meine Wut denn sonst loswerden soll, außer auf dem Papier, frage ich ihn, und darauf schweigt er. Ich greife nach der Kladde und lasse sie in einer Schublade des Küchenbüfetts verschwinden. Einen Moment herrscht Stille. Draußen klatscht der Regen gegen die Scheiben. Die Küchenuhr tickt die Zeit weg.
»Gibt es Neuigkeiten von deinem Mann?«, durchbricht Manfred schließlich das Schweigen.
»Nein. Leider.«
»Was genau wirft man ihm vor?«
»Wenn ich das wüsste! Jeden Tag renne ich zum Braunen Haus, aber sie wollen mir nichts sagen.«
Manfred nickt nur, und es ist dieses wissende Verständnis, das mich aus der Fassung bringt.
»Habt ihr gehört, was sie fordern?«, platze ich heraus und greife nach dem Westdeutschen Beobachter, der auf dem Herd liegt, bereit, ihn zu verfeuern. »Gerechte Sühne für die feige und ungemein bestialische Mordtat«, lese ich vor. »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Ich schaue zu Manfred hinüber. »Von schändlichem Treiben jüdisch-marxistischer Mordhetzer reden sie, von angeblichen Meuchelmorden der >roten Untermenschen<. Rote Untermenschen nennen sie uns! So weit ist es gekommen!«
»Klingt wie die Morlocks aus der Zeitmaschine«, brummt Manfred, der seinen trockenen Humor offenbar nicht verloren hat. Aber mir ist das Lachen vergangen.
»Der Selbsterhaltungswille des deutschen Volkes kann keine Nachsicht üben«, zitiere ich weiter. »Wer sich -«
»Es wäre gut, wenn du mich aufklärst«, unterbricht er mich ruhig. »Ich war sozusagen auf entferntem Außenposten in letzter Zeit, da kamen nicht alle Informationen an.« Er lächelt schwach. »Es geht um den Prozess wegen der toten SA-Männer, nehme ich an. Aber Erna hat die Geschichte nicht so richtig zusammengekriegt, und diese Schmierblätter lese ich nicht.« Sein Kinn ruckt verächtlich in Richtung Zeitung. Ich hole tief Luft, versuche, wieder ruhig zu werden. Weiß nicht, wo ich anfangen soll.
»Am 24. Februar gab's hier einen Haufen Wahlveranstaltungen, wegen der Reichstagswahl am 5. März«, springt Ralf mir bei. »>Sturm auf Köln< nannten die Braunen das. An dem Abend haben sich einige Männer vom Rotkämpferbund, Gruppe Nord, getroffen. Im Ohm Paul am Gereonswall, du kennst die Kneipe.« Manfred nickt. »Josef Engels, der Organisationsleiter der RFB-Gruppe, hat die Order vom politischen Leiter rausgegeben: Die Genossen sollten auf den Straßen patrouillieren, alle uniformierten Nazis anhalten und auf Waffen kontrollieren - das Übliche also. Angeblich gab's dazu aber noch den Befehl, SA-Männer >umzulegen<, falls sie Widerstand leisten sollten. Ob's stimmt .« Ralf zieht die Schultern hoch und dreht die Handflächen nach oben.
»Wer war alles dabei?«, erkundigt sich Manfred.
»Hermann Hamacher, Otto Waeser und Bernhard Willms«, zählt Ralf auf. »Dazu Heinrich Horsch, Mathias Moritz und noch ein paar andere. Sagen dir die Namen was?«
»Den Hermann kenne ich. Und Otto Waeser ist der Bruder vom Andreas, oder?«
»Andreas ist auch angeklagt«, schiebt Marianne ein.
»Jesses!« Heftiger als nötig setzt Manfred seine Flasche ab.
»Die Männer sind also raus auf Streife«, fährt Ralf fort. »Gegen halb elf sollen sie dann auf zwei Mann von der Sturmabteilung gestoßen sein, Walter Spangenberg und Winand Winterberg. Beide SA-Leute kamen jeweils von irgendwelchen Wahlveranstaltungen zurück, wo sie sich als Saalschützer betätigt hatten. Zuerst kam Spangenberg, und Hermann Hamacher hat angeblich sofort das Feuer auf ihn eröffnet. Heimtückisch und mit Vorsatz. Also Mord. Ähnliches geschah dann angeblich kurz darauf beim Zusammentreffen mit Winterberg. Wieder soll Hermann geschossen haben, aber auch andere seiner Gruppe. Das ist zumindest das, was die Anklage behauptet. Nur haben wir starke Zweifel, ob es tatsächlich so war. Diese Geschichte kommt doch wie gerufen, um ein Exempel an uns zu statuieren.«
Manfred schweigt nachdenklich. »Aber es sind Schüsse gefallen«, wendet er ein. »Sie müssen also Waffen gehabt haben.«
»Tja.« Ralf reibt sich das Kinn. »Unsere Männer wurden noch in der Nacht verhaftet beziehungsweise gleich am nächsten Morgen. Wir wissen also nur, was im Westdeutschen Beobachter steht. Und der dreht sich die Wahrheit bekanntlich, wie's ihm passt.«
Manfred schüttelt den Kopf. »Das mit den Waffen ist nicht gut, gar nicht gut.«
»Aber die Umstände müssen doch berücksichtigt werden«, mische ich mich ein. »Denkt daran, welche Stimmung in diesen Tagen herrschte: Hitler gerade zum Reichskanzler ausgerufen, und unser frischgebackener preußischer Innenminister Göring ernennt die SA zur Hilfspolizei....
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