Kapitel 1
Als Marro in dem uralten, kleinen Triebwagen zur Sternwarte fährt, sieht er wieder die vielen kaum noch von der Umgebung zu unterscheidenden Schutzanzüge entlang der Trasse und bedauert auch heute mit traurigem Blick seinen Fehler von vor achtundvierzig Jahren. Gleichzeitig fragt er sich, wie jeden Monat wieder, ob die Gesichter hinter dem Schutzglas noch immer aufgedunsen sind und lächeln. Ob sie immer noch die kurze Hoffnung von damals stumm ins Nichts tragen und sagen wollen, das lange Warten hat sich gelohnt. Aber wirklich wissen will er es eigentlich nicht. Daher hat er nur wenige Wochen nach der schwersten Zeit seines langen Lebens die vielen Leichen in ihren Anzügen eigenhändig umgedreht, um nicht bei jeder Fahrt hier raus in die leblosen und doch so voller Hoffnung steckenden Augen blicken zu müssen. Das war einfach nicht auszuhalten.
Es geht stetig leicht bergauf. Und nach den traurigen Zeitzeugen gibt es keinerlei Abwechslung. Überall nur roter Staub. Selbst die Gleise, die Staub und Wind schon mächtig abgeschliffen haben, sind rot. Und darüber ruckelt Marro nicht gerade gemütlich in seinen ebenfalls nicht von der Umgebung zu unterscheidenden Triebwagen. Früher war dieser mal grün mit bunter Bemalung. Heute ist alles eintönig rot und wirkt ein bisschen wie verrostet. Obwohl Marro gar nicht weiß, was das eigentlich ist.
Nach rund eineinhalb Stunden Fahrt verlässt er den Wagen. Gedankenversunken und ruhigen Schrittes setzt Marro seine Route über den nur durch ihn benutzten und doch ausgelatschten Pfad zur fast schon antik anmutenden Sternwarte zu Fuß fort. Der Weg dahin, wie auch der Triebwagen, sind schon lange nicht mehr geschützt und klimatisiert. Daher musste er sich in den zwar sicheren und komfortablen, trotzdem aber klobigen Schutzanzug zwängen. Früher wurde man sogar auf einem Transportband bequem zur Sternwarte befördert. Dort wartete noch ein Fahrstuhl, um das ehemals moderne Teleskop mit dem Blick in die unendlichen Weiten zu erreichen. Früher, das ist schon zweitausendvierhundert Jahre her. Heute gibt es über diese Zeit nur noch Erzählungen und wenige alte Bilder und Filmchen auf noch nicht verwitterten Datenträgern.
Heute führt nur eine schmale Treppe den einst schicken, fünfundzwanzig Meter hohen Turm hinauf. Mit seinem sanften, lebensbejahenden Grün und der großen gläsernen Kuppel war die kleine Sternwarte einige Tausend Jahre lang das Symbol der Hoffnung. Die Kuppel existiert schon längst nicht mehr, und auch das Teleskop hat seine beste Zeit schon lange hinter sich.
Der siebenundfünfzigjährige Marro lässt sich beim Besteigen der über 180 Stufen viel Zeit. Seine müden Knochen und der schwere Anzug ließen größere Hektik sowieso nicht zu. Er hält inne und denkt an die vielen immer wieder enttäuschenden Blicke durch das Beobachtungsgerät. Er denkt an die großen Hoffnungen, die jener Blick vor allem in den Generationen vor ein paar Tausend Jahren in den Menschen weckte. Gespannt erwarteten sie jeden Monat, endlich die frohe Botschaft zu hören. Doch jeden Monat wurden sie enttäuscht.
Heute ist dieser Blick nur noch eine lästige Pflicht, die regelmäßig erfüllt werden muss. So steht es in der Verfassung. Und er, Marro, geht diesen Weg seit seinem fünften Geburtstag. Damals noch mit seinem Vater, wie auch der mit dem Vater und dieser mit dem seinigen. Seit Generationen ist dieser wohl wichtigste, inzwischen aber auch einsamste Job in der Hand seiner Familie. Auch Marro würde ihn gern weitergeben, doch er ist kinderlos geblieben.
Aber diese Trostlosigkeit, die sich schon seit ein paar Generationen in dieser Arbeit breitmacht, möchte er eigentlich auch niemandem vermitteln. Obwohl gerade heute einer dieser ganz besonderen Tage ist, der im Gesetz als "Tag der letzten Hoffnung" bezeichnet wird und der nur alle acht Jahre wiederkehrt. Noch vor vierundzwanzig Jahren war es wenigstens eine Info in den News wert. Aber vor sechzehn Jahren war damit Schluss. Und auch vor acht Jahren, wie auch heute. Wenn nicht der Kalender diese besondere Stellung der Planeten erwähnt hätte, würde auch Marro nicht mehr daran gedacht haben.
Doch mit jeder Stufe, die er schwer erklimmt, steigt die Nervosität. Als wäre es heute anders. Als führe der hundertmal gegangene Weg heute in eine bessere Zukunft. Das glaubte Marro zwar schon oft, gerade am "Tag der letzten Hoffnung". Aber das Licht, das über der obersten Stufe nach unten scheint, wirkt heute irgendwie heller als sonst. Er verdunkelt sogar das erste Mal in seinem Leben überhaupt das Schutzglas seines Schutzanzuges. Vielleicht sind es aber auch nur die alten Augen und der Gedanke, dass es wohl das letzte Mal für ihn ist, diesen besonderen Tag zu erleben. Und somit auch das letzte Mal, an jenem hoffnungsvollen Tag den fragenden Blick in die alte Heimat zu schicken. Denn nach ihm bleibt die Stelle unbesetzt. Und die Sternwarte wird wohl nach und nach in Vergessenheit geraten, was dann auch für das letzte Symbol der Hoffnung gelten wird. Warum nur durfte er keinen eigenen Nachwuchs haben?
Marro erreicht die oberste Plattform und schaut zuerst nach dem ollen Schraubenzieher, den er vor einem Monat vor der Druckkammer liegen gelassen hat. Keiner da gewesen, denkt er sich und musste leicht grinsen. Der Schraubendreher liegt unberührt da, so wie er seit zweiundfünfzig Jahren unberührt liegen blieb. Wer soll das Werkzeug außer ihm auch nehmen. Nachdem er das Teleskop geöffnet und mit dem großen Wedel den Sechs-Meter-Spiegel entstaubt hat, schiebt er den Schraubendreher zur Seite und klettert in die Druckkammer.
Diese ist der einzige Luxus, den er sich auf den beschwerlichen Weg hier hinauf leisten kann. Hier kann er seinen Schutzanzug ausziehen, eine Kleinigkeit essen und einen Schluck Wasser trinken. Beim Blick über die karge Oberfläche des Mars mit der im Norden unter der Sonne glänzenden riesigen Glaskuppel würde er gern ein Bier trinken. Ein kühles Blondes, goldig gelb, der Sonne gleich, feinherb auf der Zunge, prickelnd im Abgang, purer Genuss. So stand es in den längst zerfallenen Schriften, die nur die Altvorderen noch lesen konnten.
Der rote Staub glänzt in der Sonne, und in seiner gemütlichen Kapsel scheint es nicht nur heller, sondern auch wärmer als sonst. Hier kann er, während die Gerätschaften warmlaufen, sich breitmachen und seinen Gedanken nachhängen. Ja, sich breitmachen. Unter der großen Glaskuppel, die im Norden ansatzweise zu sehen ist und mit seinen Wohnkammern von Weitem wie ein riesiger Bienenstock wirkt, hat jeder Bewohner seinen ihm zugewiesenen Platz. Und dieser ist kleiner als hier in der kargen Druckkammer.
Das Teleskop ist startbereit. Marro richtet den Spiegel genau zur Erde, die in der Zeit um den "Tag der letzten Hoffnung" nur circa 55,6 Millionen Kilometer vom Mars entfernt ist. Hierbei ist der Zustand der Erde so gut wie möglich zu erkunden. Der Blick gleitet, wie immer sorgsam suchend, alle sichtbaren Regionen des ehemals blauen Planeten ab. Doch auch heute scheint es ein einheitliches Grau in Grau. Aber stopp: Ist hier nicht ein sanftes Grün zu erkennen?
Korom weiß sehr wohl, dass Marro auch heute nichts als das Erden-Einheitsgrau finden wird. Und er ist heilfroh, diese unsägliche altmodische Tradition endlich beenden zu können. Seit Jahrzehnten kämpft er gegen den einsamen Marro und das Gesetz zur monatlichen Erdbeschau. Er hat es endlich geschafft, dieses Diktat ab morgen außer Kraft zu setzen. Man solle doch endlich das ewige Warten auf die Gesundung der Erde beenden und den Mars nach so vielen Tausend Jahren als die neue Heimat akzeptieren. Man müsse doch irgendwann einmal damit beginnen, den Mars zu urbanisieren, ihm eine lebenswerte Atmosphäre und bepflanzbare Böden zu geben. Klar dauert das mehrere Generationen, und klar müsse man viele Dinge wieder neu erlernen. Aber man kann doch nicht ewig so resignierend weitermachen.
Mit solchen und ähnlichen Worten spricht Korom seit vielen Jahren zum monatlichen "Zustandsbericht von Erde, Mars und den letzten Menschen" vorm Marskongress.
"Schaut uns doch an!", ruft er immer wieder. "Vor zweitausend Jahren war der durchschnittliche Mann noch 1,80 Meter groß. Und jetzt? Wir schaffen es nicht einmal, die knapp zwei Kilometer Durchmesser unserer blöden Glaskuppel ohne Verschnaufpause zu durchqueren. Werft endlich diese Lethargie beiseite und werdet wieder zu Menschen."
Anfangs erhielt er für solche Worte nur ungläubige Blicke. In den letzten Jahren aber gelang es ihm, mehr und mehr Bewohner auf seine Seite zu ziehen und gerade die jüngeren mit seinen Argumenten zu überzeugen. Und heute, mit dem wohl letzten "Tag der letzten Hoffnung", wird nun hoffentlich auch offiziell diese tatenlose Warterei auf die Genesung des einst schönsten Planeten im Universum ein Ende haben.
Korom möchte heute nicht wie so häufig mit seinen zynischen Kommentaren über Marro herfallen und sich über ihn lustig machen. Er möchte den alten Mann, dessen Familie über Generationen die Hoffnungen der letzten Menschheitsbastion immer wieder enttäuschen musste, nicht noch mehr zerbrechen. Schließlich hat er sein Ziel ja erreicht. Schließlich wird Marro zwar noch, solange er...