Schweitzer Fachinformationen
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Ernesto Valenti legte das Buch aufgeschlagen auf seinen Bauch, lehnte sich in der Hängematte zurück und betrachtete durch die Zweige des Apfelbaums den Himmel. Dort oben striegelte der Wind die Federwolken. In den Blättern der Bäume flüsterte er, und die Amsel im Fliederbusch flötete ein Regenlied.
Ernesto versuchte sich zu konzentrieren. Nach einer schlaflosen Nacht dümpelten seine Gedanken vor sich hin. Seit er vor zwei Wochen aus Kroatien geflüchtet war, hatte er kaum ein Auge zugetan. Hier in Kärnten bist du sicher, dachte er sich. Keine Polizisten, die dich verfolgen, keine Leute, die an Straßenecken mit Maschinenpistolen warten, keine Minen.
Zwei Wochen waren vergangen, und es wurde immer schlimmer. Seine Gedanken hafteten weder an den Wolken noch an dem Buch, sie drängten zurück nach Kroatien. Er war dem Bösen entkommen. Wenn es das Böse überhaupt gibt. Selbst als er ihm gegenüberstand, dem, was man als das Böse bezeichnet, zweifelte Ernesto noch.
Das Böse ist ein Konstrukt der Menschen, sagte sich Ernesto jetzt, da er in seiner Hängematte lag. Ein Mantra, dazu bestimmt, die Gedanken zu beruhigen. Doch das gelang Ernesto nicht. Die Bilder drängten sich vor. Sogar die Erinnerung an den Geruch kam zurück. Der Geschmack von Verwesung legte sich auf seine Zunge.
Ernesto Valenti war dem Schrecken entkommen, den Massengräbern von Vukovar, den zerschossenen Häusern und den Toten in den unterirdischen Gängen. Ernesto war zurück in Kärnten, in Sicherheit. Seit zwei Wochen hatte er das Grundstück nur verlassen, um einzukaufen. Er sprach mit niemandem.
Jetzt nahm er das Buch wieder auf. Er sah auf die Seiten, ohne zu lesen. Die Sätze verschwammen vor seinen Augen, die Buchstaben konnte er nicht entziffern. Zeichen, die einmal etwas bedeutet hatten, einmal wieder etwas bedeuten würden.
Gleich nach seiner Ankunft in Wolfsberg hatte Ernesto Primarius Thorwald Baumgartner angerufen. Der Psychiater riet Ernesto zur Abklärung seiner Beschwerden, wie er es nannte. Er wollte keine Ferndiagnose stellen und lud Ernesto zu sich nach Klagenfurt ein. Sie führten ein langes Gespräch über alte und neue Erinnerungen.
Baumgartner diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung. »Ich werde Ihnen etwas verschreiben«, sagte er. »Vor allem aber sollten Sie umgehend mit einer Therapie beginnen. Die Bilder werden nicht von selbst verschwinden.«
Nein, die Bilder würden nicht verschwinden. Um das zu erkennen, brauchte Ernesto keinen Psychiater. Diese Schrecknisse häuften sich auf andere. Seine Erinnerungen erschienen Ernesto wie eine Ruinenlandschaft, in der das Unheil auf ihn lauerte. Er konnte sich nicht entspannen. Selbst hier in der Hängematte spürte er die verkrampften Muskeln. Seine Hände zitterten, wenn er sie nicht fest um das Buch schloss. Es wird vorbeigehen. Das Schlimmste habe ich schon überstanden. Ich bin aus Kroatien entkommen. In meiner Hängematte ...
Ernesto klappte das Buch zu, schlug es wieder auf und sah auf die Titelseite. Das Buch sollte ihn ablenken. Aber er sah das zerbombte Kloster von Vukovar immer noch vor sich. Die Kirche, bis auf die Ziegelwände ausgeschlachtet, und an der Stirnseite ein grob gefügtes Kreuz aus den Dachbalken eines zerschossenen Hauses.
Das Gefühl, dem Unheil ausgeliefert zu sein, spürte Ernesto in Kärnten nicht so deutlich. Trotzdem musste er sich erst daran gewöhnen, dass die Wälder hier nicht vermint waren.
Noch hatte er nur eine vage Vorstellung, wie er weitermachen sollte. In der Kulturredaktion der Kärntner Tagespost würde sich ein Schreibtisch für ihn finden, da war er sich sicher. Certov, der Kulturchef, vermutete Ernesto, würde ihm zumindest den Posten eines freien Mitarbeiters anbieten. Das musste zum Überleben vorerst reichen. Die Lokalredaktion mit den Unfällen und Verbrechen, den Berichten über Landtagssitzungen und dem täglichen Strom an Wortsondermüll wollte er meiden. Keine Morde mehr. Auch wenn das Böse nicht existiert, das Schlechte greift um sich, wuchert wie ein Pilzrhizom durch die Gesellschaft und gebiert als Fruchtstände Mord, Vergewaltigung und Krieg. Damit wollte Ernesto nichts mehr zu schaffen haben. Eine Theateraufführung, eine Vernissage, ja, das war harmlos genug.
Angesichts des Himmels, der Federwolken und des Windes, angesichts des Grüns des beginnenden Sommers sollten die Umtriebe der Menschen an Bedeutung verlieren. Doch Ernesto empfand die Natur wie etwas Fernes. Als wäre eine Glasscheibe zwischen ihm und der Schönheit der Welt aufgerichtet.
Obwohl er seit Tagen nichts getan hatte, außer in der Hängematte zu liegen und ein paar Seiten zu lesen, überrollte ihn die Erschöpfung. Ernesto nickte ein, schreckte bei jedem Geräusch wieder auf, dämmerte durch den Nachmittag und fühlte sich ausgelaugt.
Er ignorierte das Läuten des Mobiltelefons und las zum dritten Mal die erste Seite des Buches. Wenn das so weitergeht, dachte er, brauche ich Jahrhunderte für dieses Buch. Die Tabletten, die ihm der Psychiater verschrieben hatte, nahm er nicht. Zwar hatte er das Rezept eingelöst, die Packungen aber im obersten Fach des Badezimmerschranks verstaut.
Die Nummer auf dem Display kam ihm bekannt vor. Er nahm den Anruf nicht an. Wenn es wichtig war, sollte der Anrufer auf die Mobilbox sprechen. Diese Nachricht konnte Ernesto dann löschen, ohne sie abzuhören.
Das Telefon gab Piepstöne von sich. Der Anrufer hatte aufgelegt. Ein paar Sekunden später läutete es wieder. Jemand hat hier den Sinn von Anrufbeantwortern nicht verstanden. Ernesto sah sich die Nummer genauer an. Ein Journalist von der Kärntner Tagespost, ganz klar. Wenig erstaunlich. Ein Hinweis genügte, und sie wussten, Ernesto war wieder im Land. Ihn dann wegen irgendeiner Geschichte anzurufen, war nur konsequent. Nicht anders hatte es Ernesto früher gemacht.
Ernesto hatte sich vorgenommen, solche Versuche, ihn zu ködern, zu ignorieren. Wenn er so weit war, würde er sich melden. Es war sicher kein Auftrag für ein Vokalkonzert oder eine Ausstellung. Wegen einer solchen Nebensächlichkeit hätte niemand dreimal hintereinander angerufen. Auch den nächsten Anruf ignorierte Ernesto und wurde dafür mit einer SMS belohnt.
Als Ernesto die Nachricht löschen wollte, erschien sie auf dem kleinen Bildschirm: »Toter Mönch in Hüttenberg. Ruf mich zurück! Auer.«
Das Mobiltelefon schrillte. Diesmal nahm Ernesto den Anruf an. Ein toter Mönch in Hüttenberg. Das konnte nur ein tibetischer Mönch sein, und das machte Ernesto dann doch neugierig.
»Wo zum Teufel steckst du?«, kam es statt einer Begrüßung.
»Dir auch einen wunderschönen guten Tag.«
»Du musst unbedingt sofort nach Hüttenberg. Der Fotograf ist schon unterwegs«, sagte Auer.
Ernesto zögerte. Er musste gar nichts.
»Ich lege jetzt auf«, sagte er langsam.
»Nein, bitte nicht. Ich ...« Den Rest hörte Ernesto nicht mehr.
Typisch Auer, die Welt geht unter, wenn nicht alle nach seiner Pfeife tanzen. Du musst jetzt dahin, und danach fährst du noch dorthin, und bitte, ich hätte den Artikel gerne gestern. Ernesto hatte keine Nerven für die ständige Panik in der Lokalredaktion. Ob man die Geschichte morgen schon hatte oder erst übermorgen oder überhaupt nicht, was machte das für einen Unterschied?
Winfried Auer, der Chef der Lokalredaktion, ließ nicht locker. Ernesto hatte gerade aufgelegt, als das Mobiltelefon schon wieder läutete.
»Was?«, schnauzte Ernesto.
»Fährst du jetzt oder nicht?«
»Ich fahre nicht.«
»Das war eine rhetorische Frage.«
»Ich weiß.«
»Also, du rufst mich an, sobald du etwas hast.«
»Wird schwierig hier aus der Hängematte. Schick doch irgendeinen von diesen Idioten aus deiner Redaktion. Daran mangelt es nicht, wenn ich mich recht erinnere.«
»Die Edlinger ist auf Urlaub, und sonst habe ich niemanden.«
»Ob der Mönch tot ist oder nicht, kann sogar der Fotograf feststellen.« Ernesto fischte sich eine Zigarette aus der Packung.
»Ein toter tibetischer Mönch in Hüttenberg, weißt du, was das ist?«
»Eine Alliteration«, antwortete Ernesto.
»Eine was?«
»Eine Alliteration, ein Stabreim. Wie Mann und Maus oder Hure und Haus. Anfangsreim, um es laienhaft zu sagen.«
»Es ist eine Katastrophe, wenn du die Geschichte nicht machst.«
»Sei nicht so dramatisch. Du witterst nur eine Geschichte, die dich über die Sauregurkenzeit bringt.«
»Jetzt hör mir zu.«
»Das mach ich schon drei Minuten lang.« Ernesto blies Rauch aus.
»Diese Geschichte wird zu internationalen Verwicklungen führen.«
»Ach, ich bitte dich.«
»Du weißt noch nicht, wer dieser Mönch war.«
»Du wirst es mir gleich mitteilen.« Ernesto legte das Buch weg und stand auf. Seit es Mobiltelefone gab, ging er beim Telefonieren auf und ab.
»Dieser Mönch, ein gewisser Dadul Gyal... irgendwas, war der offizielle Vertreter des Dalai Lama in Österreich. So etwas wie sein Botschafter.«
»Dann schreib einen Nachruf.«
War er eben gestorben, dieser Mönch. Der Dalai Lama würde den...
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