Schweitzer Fachinformationen
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»Frau Müller bitte!« Blechern ertönte die Stimme durch den Lautsprecher. Es schien, als würde sie von einem anderen Planeten und nicht aus dem Sprechzimmer nebenan kommen. Die aufgeforderte Dame erhob sich und schlich in Zeitlupe zur Tür. Mehrere Augenpaare folgten ihr und es schien, als wollten die Anderen sie mit ihren Blicken zu mehr Eile antreiben.
Lene saß genervt im Wartezimmer ihres Neurologen. Komisch - immer, wenn sie hier war, hatte sie das Gefühl, die Uhr tickte langsamer, die Zeit wollte einfach nicht vergehen. In Gedanken zählte sie die Personen durch, die noch vor ihr drankamen. Da war der dickliche Herr am Fenster, dessen Kopf direkt auf dem Oberkörper saß und der die ganze Zeit deprimiert zu Boden starrte. Seine Tränensäcke waren so riesig, dass sie fast bis auf seine Wangen zu hängen schienen. Dann die beiden Frauen neben der Tür. Eine von ihnen murmelte unablässig irgendwelche unverständlichen Dinge vor sich her, sie trug eine ziemlich seltsame Frisur - als hätte sie in eine Steckdose gegriffen. Alle Haare standen wild vom Kopf ab - wirr und genauso war auch ihr Blick. Die andere Patientin sah eigentlich ebenso normal aus wie Lene selbst. Wobei sie unsicher war, ob sie selbst normal aussah oder die Besuche hier schon auf sie abgefärbt hatten.
Drei Leute waren also noch vor ihr dran, ein Ende absehbar. Sie ließ ihre Blicke schweifen. Das gesamte Wartezimmer trug mit seiner tristen Ausgestaltung nicht im Geringsten dazu bei, dass man sich wohlfühlte. Na ja, vermutlich wollte das eh keiner. Die Wände waren in einem undefinierbaren Farbton gestrichen, der am ehesten in Richtung schlammgrau ging. Überall waren weiße Flecke, an denen die Farbe schon abgeplatzt war. Ihr gegenüber hing die langsam tickende Uhr, mit einer Aufschrift für irgendein Arzneimittel in ihrer Mitte. Die Möbel waren alt, abgenutzt und die Stühle derart unbequem, dass man einfach keine angenehme Sitzhaltung darauf fand. Jede Veränderung der Sitzposition wurde den anderen Wartenden mit einem lauten Knarren mitgeteilt. Der Blick aus dem Fenster ging auf einen Strauch unmittelbar davor. Er wucherte wild vor sich hin. Eigentlich war sie unsicher, ob es überhaupt ein Ziergewächs oder nur irgendwelches Unkraut war, welches sich ungehindert ausbreiten konnte. Draußen hatte es in der Zwischenzeit zu schneien begonnen, Schneeflocken schwebten langsam zu Boden. Eine landete an der Scheibe, rutschte langsam nach unten und wurde dabei immer kleiner. Dieser Tag war düster, dunkel - einfach zum im Bett bleiben.
Der dickliche Herr schlug seine Beine übereinander und das dadurch hervorgerufene Stuhlknarren holte Lene aus ihren Gedanken. Hierher, in diese Praxis, kamen Menschen, die mit sich oder ihrem Umfeld nicht zurechtkamen. Und nun gehörte sie auch zu dieser Gruppe. Wie hasste sie diese Besuche. Wenn ihr früher jemand gesagt hätte, dass sie eines Tages zu einem Nervenarzt gehen würde, so hätte sie denjenigen für verrückt erklärt. Sie - die sich immer alleine aus jedem Schlamassel holte und die Sorgen einfach weglachte.
Doch vor nunmehr zwei Jahren war ihre kleine heile Welt zusammengebrochen. Dieser Zusammenbruch kam ganz plötzlich und hatte sogar einen Namen, er hieß Kanita. Kanita war sozusagen ein Reisemitbringsel ihres Mannes Thomas, aus Thailand. Er war als Mitarbeiter für einen Motorenhersteller tätig und bereiste in seiner Funktion den halben Globus. Man konnte es auch so sagen: Über die Hälfte des Jahres gondelte ihr Mann irgendwo in der Weltgeschichte rum. Thomas war 45, also drei Jahre älter als sie, groß, schlank, mit einem leichten Bauchansatz, die meisten Menschen überragte er. Dennoch war er nichtssagend, das dachte sie immer wieder. Dunkle Haare, kurz geschnitten, wässrige Augen, Gesichtszüge, die sich niemandem einprägten, nur wenige Falten, nicht mal Lachfalten. Für einen Phantombildzeichner war er sicher der absolute Horror, ohne irgendeine Eigenheit an sich. Er war ein äußerst ehrgeiziger Mensch und hielt sich selbst für absolut unersetzbar. Wenn ein neues Projekt anstand, hob er seinen Arm ganz weit nach oben. Früher in der Schule hätten die anderen Mitschüler »Streber« gerufen. Seine Kollegen indes lehnten sich entspannt zurück und blieben zu Hause bei Frau und Kindern. Es war auch nicht so, dass Lene mit dieser Situation todunglücklich war. Im Gegenteil, im Laufe der Jahre hatte sie für sich selbst Strategien gefunden, mit dem Alleinsein umzugehen. Sie arbeitete stundenweise in einem großen Bekleidungsgeschäft und kümmerte sich ansonsten um Haus und Garten. Thomas, ihr Mann, liebte es aufgeräumt und so hielt sie ihren Haushalt penibel ordentlich, so sehr, dass man in allen Räumen am offenen Herzen operieren konnte. Der Garten war immer picobello in Schuss, Unkraut hatte keine Chance und der Rasen hätte jeden Wimbledonspieler neidisch gemacht. Die Rosen blühten, die Büsche waren akkurat geschnitten - ihre kleine heile Welt war perfekt.
Mehrere seiner Reisen führten Thomas nun in letzter Zeit nach Thailand und eines Tages kam er nicht allein zurück. Als Lene von der Arbeit kam, sah sie Thomas' Auto in der Einfahrt stehen - schön, dachte sie noch, er ist also schon zurück. Gedanklich ging sie ihren Hausstand durch und überlegte panisch, ob sie heute früh vor der Arbeit auch alles aufgeräumt hatte. Ihr Mann hasste nichts so sehr, als dass irgendwo etwas herumlag. Ewig würde er ihr dann wieder Vorträge halten. Es hätten ja plötzlich und unerwartet Gäste vor der Tür stehen können. Obwohl schon seit längerer Zeit keinerlei Besuch mehr zu ihnen kam. Seine komische Art, immer im Mittelpunkt stehen zu wollen, hatte alle in die Flucht geschlagen. Die Menschen, die sie selbst mochten, trafen sich mit ihr lieber allein auf neutralem Gelände.
Beim Betreten ihres Wohnzimmers fiel ihr Blick zuerst auf eine junge Frau - eine sehr junge Frau, die auf der Couch saß. Sie war etwa Anfang zwanzig, trug ein buntes Kleid und ziemlich hohe Schuhe. Ihre langen Haare waren schwarz und im Nacken zu einem kunstvoll lockeren Knoten aufgesteckt. Ihre mandelförmigen Augen waren noch schwärzer und schielten verstohlen in ihre Richtung. Sie hatte klassische Gesichtszüge mit sorgfältig modellierten Augenbrauen und einem sinnlichen Mund - Kusslippen, die irgendwie ein wenig unecht wirkten. Mit ihrem asiatischen Aussehen wirkte sie auf der hellen Ledercouch irgendwie deplatziert. Man erwartete, dass sie jeden Moment aufspringen und ihnen mit einer devoten Verbeugung Tee in Porzellanschalen servieren würde. Bei ihrem Näherkommen senkte sie sittsam den Blick und fixierte ihre knallrot lackierten Fußnägel.
Lenes zweiter Blick fiel auf ihren Mann, der sichtlich nervös aufsprang und mit ausgebreiteten Armen geradezu euphorisch auf sie zukam. »Lene, na, wie war dein Arbeitstag?«
Diese Frage war ein weiteres Indiz dafür, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Denn im Allgemeinen hatte sich Thomas in all den Jahren noch nie für ihr Berufsleben interessiert. Er hielt es für vollkommen überflüssig, dass sie überhaupt arbeiten ging, immerhin verdiente er ja genug. Jedes Jahr rechnete er ihr aufs Neue vor, dass ihre Tätigkeit ihnen so gar keinen steuerlichen Vorteil brachte. Trotzdem war ihre Arbeit der einzige Punkt, an dem sie nicht nachgegeben hatte. Eisern hielt sie daran fest - egal, was er sagte.
Lene antwortete nicht auf seine Frage, sondern sah nur unsicher an ihm vorbei zu der kleinen Asiatin auf ihrer Couch. Hinter dem Rücken ihres Mannes hob diese ihren Blick vom Boden und schaute ihr unergründlich ins Gesicht. Zunächst konnte Lene den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten, dann erkannte sie, dass es Triumph war. Jawohl, dieses kleine Luder sah sie triumphierend an.
Lene schaute ihren Mann entgeistert an und deutete nur stumm mit einem Kopfnicken in die Richtung seiner Begleitung. Thomas, der stets überaus sprachgewandt war, rang sichtlich um Worte und Schweiß trat auf seine Stirn. »Ach so, das meinst du«, sagte er, als ob sie irgendeine Topfpflanze ansah. »Also, das ist Kanita, ich hatte dir, glaube ich, von ihr erzählt.«
Lene nickte, er hatte ihr tatsächlich von Kanita erzählt - er hatte eigentlich nach seiner letzten Reise eine Zeitlang ununterbrochen nur von ihr gesprochen, Kanita hier und Kanita da. Sie arbeitete wohl in dem Hotel, in welchem er abgestiegen war. Auch, dass er mit ihr Essen gegangen war, hatte er berichtet und dass sie sehr gebildet war. Lene wusste, dass solche Einladungen durchaus üblich waren. Jeder Gast erhielt vom Gastgeber sozusagen eine Tischdame für die Zeit seines Aufenthaltes. Was er darüber hinaus mit ihr tat, hatte sie eigentlich nie wissen wollen. Warum auch - er war weit weg und sie hier. Warum sich schlaflose Nächte bereiten? Irgendwann ging das vorüber und er reiste wieder in andere Gegenden.
Thomas lachte nervös. »Ja, lange Rede, kurzer Sinn. Der Familie von Kanita geht es schlecht, sogar sehr schlecht, ihre Mutter ist krank .und ihr Vater auch. Du glaubst ja gar nicht, was eine medizinische Behandlung in Thailand kostet. Und da, wo sie arbeitet, verdient sie ja kaum etwas. Die Tourismusbranche zahlt so wenig .« Kummervoll schaute er sie an.
Lene kannte die Höhe der Behandlungspreise oder Löhne nicht und es war ihr ehrlich gesagt auch völlig schnurz. Bis jetzt erschloss sich ihr noch in keinster Weise, was diese Frau nun eigentlich bei ihnen zu Hause suchte und was Thomas und sie mit deren kranken Eltern zu schaffen hatten.
»Jedenfalls habe ich während der letzten Tage viel mit Kanita über dieses Thema gesprochen und wie es hier bei uns in Deutschland so aussieht. Hier verdient man ja viel mehr und hat als Frau auch...
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