Schweitzer Fachinformationen
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Nach zwanzig Minuten hatte ich es geschafft, den Bahnsteig des U-Bahnhofes Dimitroffstraße zu betreten. Oder besser gesagt, ich wurde von nach vorn drängenden Massen dorthin getragen. Ich hatte keine Chance, auszuscheren und vielleicht doch noch ein paar Tage zu warten.
Überzuckerte Tussis mit Erdbeerohrringen, nach Karo stinkende Betonwerker und verhuschte Geschichtsprofessoren - alles drängte, die Ellenbogen in den Rippen der anderen, Richtung goldener Westen. Zum Glück half mir meine Körpergröße, den Überblick zu behalten.
Ein Männchen der Berliner Verkehrsbetriebe in speckiger Uniform versuchte vergeblich, die Leute zurückzuhalten. »Gleischmäßig uff dem Bahnsteig verteilen«, schrie es und erntete ein gellendes Pfeifkonzert. Kurz darauf begann erneut großes Geschrei, als eine Oma von hinten einen Schubs bekam und ins Gleisbett fiel.
Starke Hände zogen sie zurück, kurz bevor die Bahn aus Richtung Vinetastraße einfuhr. Die Oma war verhältnismäßig weich gefallen, denn auf dem Schotter türmte sich fast bis in Schienenhöhe eine Masse aus leeren Bier- und Cola-Dosen. Die ersten Westrückkehrer hatten das Gleis damit gepflastert.
Dazwischen lagen ein paar Plastetüten, die mein Interesse weckten. Ich brauchte dringend eine neue und hoffte, drüben auf ein reichhaltiges Angebot zu stoßen.
Die Bahn war schon gut gefüllt, als sie hielt. Das Männchen in Uniform brüllte wieder irgendwas Erzieherisches. Die wartende Menge aber kannte keine Gnade und drängte beim Öffnen der Türen sofort in die Bahn. Und ich mit.
Meine Nase nahm altes Mittagessen wahr, das sich offenbar in der Hutkrempe eines Funktionärstypen neben mir versteckte. Und irgendjemand hatte nicht so sehr auf die Achselwäsche geachtet wie ich.
Der explosive Geruchscocktail zwang mich, meine Nase nach oben zu recken, während ich gegen zwei Teenager-Mädchen in übergroßen Jeansjacken gedrückt wurde. Die beiden dufteten zum Glück nach einem süßlichen Parfum, und eine flüsterte der anderen zu: »Wir gehen Stralauer Allee rüber, da soll nich so ville los sein.«
Ich nahm mir vor, ihnen unauffällig zu folgen, denn sie machten den Eindruck, als würden sie sich auskennen. Doch als wir am Alex in die S-Bahn umstiegen und dann an der Warschauer Straße ankamen, war klar, dass sich die Girls getäuscht hatten. Unfassbar viele Menschen aus allen Himmelsrichtungen strömten zum Ausgang. Ich ließ mich mittragen und verlor die Mädchen aus den Augen. Um mich herum aufgeregte Gespräche. Direkt vor mir unterhielten sich zwei Männer. »Ich will endlich ma wissen, wie .« Ich dachte, jetzt sagt er ». das ist, in Freiheit leben« oder vielleicht ». die Stones zu sehen«. Doch es kam anders. ». groß die wirklich sind, die holländischen Fleischtomaten.«
»Ick hab jehört, so groß wie Kinderköppe«, erwiderte der Typ neben ihm, dessen Dauerwelle sich über dem schmuddeligen Cordkragen seiner Jeansjacke kräuselte.
Ich stellte mir vor, wie der bullige Typ in einen Kinderkopf biss, und fremdelte zwischen all diesen Leuten mit den Schnauzern und Bitterfeld-Gesichtern. Waren das wirklich meine Landsleute? Sie waren mir extrem fremd. Ich war froh, dass ich mich die letzten sieben Jahre größtenteils im Minikosmos der Helden des Fortschritts hatte aufhalten können. Eine Welt, die ich mir selbst erschaffen hatte. Vierundzwanzig Stunden normale DDR am Stück hätte ich nicht ausgehalten. Das war mir plötzlich sonnenklar. Ein gewisser Zorn auf Kirsten und die anderen in der Plenumsrunde der Lychener Straße regte sich. Für unser Land - es war ein Segen, dass dieses Land jetzt unterging.
Je näher ich der Grenze kam, umso mehr verflogen die trüben Gedanken. Nach zwei Stunden konnte ich endlich meinen Ausweis vorzeigen und bekam von einem überforderten Grenzoffizier einen Stempel.
Dann lief ich durch einen gespenstischen Gang, der über eine Brücke führte. Links eine von Bretterwänden und Stacheldrahtresten halb verdeckte Zuckerbäckerfassade. Rechts von mir die Spree, schwarz aufgewühlt mit schmutzigen Schaumkronen, nur durch Maschendraht zu sehen.
Keine Gedanken, nur noch Herzklopfen und das Ziel vor Augen. Schritt für Schritt ging es vorwärts. Als ich den Westberliner Boden endlich betrat, teilte sich die Menge. Die große Masse der Fleischtomaten strömte einfach in dieselbe Richtung weiter, und zwar immer schneller. Irgendjemand rief das magische Wort »Sparkasse«.
Alle hatten nur noch das Begrüßungsgeld vor Augen. Es begann ein riesiges Gerenne und Geschubse. Aber ich wollte erst mal gucken, wo ich überhaupt war, und scherte aus. Mit mir ein paar andere. Ich war völlig aufgewühlt. Das war also Westberlin. Die Stadt meiner Sehnsüchte. Ich trampelte auf der Stelle, um zu sehen, ob der Boden hielt, und schaute mich um. Verrostete U-Bahn-Träger und meterhohe Brandmauern, entlaubtes Buschwerk und auf der anderen Straßenseite kleine Buden. Über einer davon der Schriftzug Bagdad. Sofort musste ich grinsen. Alles ziemlich abgeschabt, aber irgendwas leuchtete, irgendwas, das ich nicht klar definieren konnte.
Da sah ich eine kleine verdreckte Grünfläche. Darauf ein Tisch und eine Parkbank, alles aus Metall, wie ich staunend feststellte, und voller Taubenscheiße. Das war also gar kein notorischer DDR-Vogel, wie ich immer gedacht hatte.
Allein schon dieses kleine Arrangement sah so viel anders und spannender aus als die Bänke im Osten. Ich setzte mich und schaute über die Spree, die sich vor mir ausbreitete. Auf einmal fing ich an zu heulen. Alles kam zusammen, die Einsamkeit der letzten Monate, mein schiefes Gesicht, meine erste große Liebe Conny und meine Tochter, die ich verloren hatte, Sprenzels Tod und der geplatzte Traum von Düsterbusch als Kulturmetropole.
Ein selbstmitleidiger Cocktail, der allmählich einer Art Glücksgefühl Platz machte. Langsam wurde mir klar: Jetzt konnte mir keiner mehr.
Kein beschissener Bulle oder Kohleplatzleiter oder eine andere Arschgeige hatte mir jemals wieder was zu sagen.
Jetzt begann eine neue Zeit ohne Ordnungsstrafverfahren und Verstöße gegen die sozialistische Moral. Vielleicht hatte sich das ja alles gelohnt.
»Da muss ich ja gleich mitweinen. Fehlt bloß noch >Looking for Freedom<«, ertönte plötzlich eine spöttische weibliche Stimme. Aus meinen Gedanken gerissen, sah ich einer jungen Frau hinterher, die sich lachend halb zu mir umdrehte. Eine markante Nase und hochgesteckte rote Haare ließen darauf schließen, dass sie etwas Besonderes war. Aber was sollte der blöde Spruch? Dann sah ich nur noch einen Poncho und ein paar Wildlederstiefel in der Menge verschwinden. Doch nicht so heiß, kam es mir jetzt in den Sinn.
Es nutzte nichts. Ich musste mich anstellen. Ich war dringend auf das Begrüßungsgeld angewiesen. Die eine Hälfte wollte ich für Platten ausgeben, die andere im Osten eins zu zehn tauschen. Genau wie ich es früher mit Tante Klaras Geld ab und an gemacht hatte, um über die Runden zu kommen. Nach ein paar Metern erreichte ich bereits das Ende der Schlange. Ich stellte mich auf ein paar Stunden Wartezeit ein. Das dumme Gequatsche vorne und hinten ging mir ziemlich auf die Nerven.
»Guck dir doch mal dieses satte Rot an, ich habe noch niemals so 'n Rot gesehen, so 'n Westrot«, rief eine Frau schräg vor mir mit aufgerissenen Augen und deutete auf den Schriftzug Sparkasse, der in einiger Entfernung leuchtete. Die Alte starrte, als ob ihr der Dschinn aus Aladins Wunderlampe gerade erschienen wäre.
»Wahnsinn«, lag es mir schon auf der Zunge, aber ich hielt meine Klappe. Mussten die immer gleich alles aussprechen, was sie gerade dachten?
Aber ich konnte mich ja auch überlegen fühlen. Schließlich hatte ich durch Tante Klara aus Charlottenburg immer das Westrot zur Verfügung gehabt, und sei es durch die BASF-C60-Kassetten, die ich mir im Intershop geholt hatte. Und die so durchdringend rot leuchteten.
Da bekam ich einen Schubs von der Seite. Schöne braune Augen schauten mich an. Dazu ein spöttisches Lächeln, das die hohen Wangenknochen noch deutlicher hervortreten ließ. Und dann diese Nase. Eine wahre Schönheit stand vor mir: das Poncho-Mädchen. »Na Anton, ausgeweint?«
»Woher . kennst du meinen Namen?«, hauchte ich fassungslos.
Sie streckte mir ihre langen schönen Finger zum Händedruck entgegen. »Irina Freiberg, ich komme aus Kirchhausen.«
Ich gab ihr die Hand, wir drückten beide fest zu, und ich war schon verliebt. »Irina Freiberg aus Kirchhausen? Da, äh . hab ich wohl was verpasst«, sagte ich völlig im Bann ihrer Erscheinung.
Sie lachte geschmeichelt. »Ich war im Erzgebirge verheiratet. Aber jetzt bin ich wieder zurück.«
Wir redeten über die Helden des Fortschritts, und Irina erzählte, dass sie einmal im Club gewesen war. Bei den Rodeo Starters, der Band, die ich als letzte subversive Aktion aus Westberlin über die Grenze geschleust hatte.
»Ich habe mich nicht getraut, dich anzusprechen.«
Hättest du mal, dann würde Sprenzel vielleicht noch leben und die Delle im Kopf wäre mir erspart geblieben, lag es mir auf der Zunge, doch ich wollte mich noch nicht so weit vorwagen.
»Warum hast du denn nun geweint?« Irina forschte sensationsgierig in meinem Gesicht.
»Wir sind jetzt nicht mehr getrennt, wir, äh, Deutschen, das hat mich überwältigt«, sagte ich nicht ganz wahrheitsgetreu. »Außerdem reimt sich getrennt und geflennt.«
Irina lachte. »Ich bin halbe Russin, ich kann mit dem...
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