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Von Köln nach Wolkenstein - längst schon liegt die Reiseroute fest: von Köln nach München, von München nach Herrsching, von dort über Partenkirchen, Innsbruck ins Grödnertal, Val Gardena; am Ende dieses Tals der Ort Wolkenstein, italienisch Selva, und hier die Burgruine Wolkenstein - die Urburg der Wolkensteiner. Einen ersten Eindruck vermittelte mir eine alte Fotografie: Eine senkrechte, mehrere hundert Meter hohe Felswand, und am oberen Ende einer Schräge von Steingeröll, in eine Einwölbung hineingebaut: die kleine Burg. Als ich das Foto zum ersten Mal sah: Assoziationen an eine Pueblofestung.
Von Köln nach Wolkenstein: Flugsteigkopf B, Ausgang 4. Ich lehne mich an eine Leichtmetallbarriere vor der Glasfront, schaue auf das Heck des City-Jet, den Servicewagen, die Männer in Overalls. LH 622 nach München, abgekürzt MUC. Das grüne Lichtsignal über dem Ausgang des Warteraums noch nicht eingeschaltet, die Bordkarte in der Lederjacke. Ich fliege zu einer Lesung nach München, und weil ich dort etwa drei Viertel der Strecke Köln-Wolkenstein hinter mir habe, will ich per Auto weiterfahren nach Südtirol, Norditalien: in Oswalds Region. Im Bewusstsein längst schon das neue Buchprojekt, es fordert mehr und mehr Raum: eine Biographie über Oswald von Wolkenstein. Da ist es selbstverständlich, dass ich mir die Orte, die Burgen anschaue, die in seinem Leben wichtig waren: Burg Wolkenstein, Burg Hauenstein, Burg Schöneck, Burg Neuhaus, die Trostburg und Greifenstein. Weiter gäbe es noch die Burg Forst bei Meran, Vellenberg bei Innsbruck, aber in diesen Burgen ist Oswald nicht freiwillig gewesen, dorthin hatte man ihn überführt.
Zwei grüne Lichtpunkte, wechselweise an- und abgeschaltet; zweiter Aufruf, second calling. Durch den Teleskopgang zum Flugzeug; ein Fensterplatz. Die Betonplatten wasserstumpf, grellhell, gleich wieder stumpf - rasch und tief ziehende Wolkenballen. Böen drücken das kurze Gras flach neben der Piste. Die Beschleunigung, das Abheben, spürbare Einwirkung der Böen, schon sind die ersten Kilometer der Strecke Köln-Wolkenstein hinter mir. Unter mir: Grün wassersatt, Straßen und Dächer nassdunkel. Schon Wolkenbänke, die wir durchfliegen, Turbulenzen. Das Durchstoßen der Wolkenschicht, rasches Auflichten des diffusen Grau, letzte Wolkenschleier, Wolkenfetzen; Quellweiß. Einige Wolkenlöcher: jeweils ein Ausschnitt Feldmuster, Straßenlinien, Siedlungsformen; bald schon bleibt die Wolkendecke geschlossen.
Ich lese von einem alten Gasthaus, und stolz erkläre der Wirt den Gästen, aus einer Dachrinne laufe das Regenwasser ab zur Sill, damit letztlich ins Schwarze Meer, auf der anderen Seite in den Eisack, damit zum Mittelmeer. Ich lese von einem Brauch: War der Bauer gestorben, durchschritt der Hauptknecht alle Räume des Bauernhauses, sagte: Der Bauer ist tot, sagte auch in den Ställen: Der Bauer ist tot, sagte an den Bienenstöcken: Der Bauer ist tot. Und ich lese von Kornfeldern, die so steil sind, dass im Frühjahr die vom Schmelzwasser abgeschwemmte Erde in Körben wieder hinaufgetragen werden muss. Lese Wörter wie: Schnalser Nudeln und Innicher Sterz, wie: Sauerkraut-Türteln und Topfennocken. Und Beinschinken wurden eingelegt in eine Beize von Trester mit Salz, Pfeffer, Salpeter, Lorbeerblättern, Knoblauch, Wacholderbeeren; danach wurde der Schinken wochenlang geräuchert.
Ich lege die Zeitschrift weg, schaue hinaus: eingeebnetes Quellweiß, auf der Tragfläche ein gleißender Lichtreflex. Von Düren über Köln nach Wolkenstein ist auch Oswald gereist, auf dem Rückweg seiner Reise von Wolkenstein über Köln nach Aachen; er wird als Reiter für eine Strecke jeweils mehrere Wochen gebraucht haben; für mich ist es nur ein Tag - Zugfahrt, Flug, Autofahrt zusammengerechnet. Ich versuche mir vorzustellen, was es damals hieß, bis nach Litauen, auf die Krim, ins Heilige Land zu reisen, nach England, Schottland, Irland, nach Italien, Frankreich, Spanien, Nordafrika. So hat er einen weiten Kreis gezogen um eine Region, die sich mit wenigen Namen markieren lässt: Kastelruth, Seis, Ratzes. Und dort ein Punkt, der für Oswald zentral war: die Burg Hauenstein. Er hatte diese Burg besetzt, als sie ihm nur zu einem Drittel gehörte, danach jahrelanger Streit mit dem Besitzer, Oswald wurde schließlich gekidnappt, eingesperrt, gefoltert, aber seinen Anspruch auf die Burg gab er nicht auf. Ihre topographische Umgebung hat er in verschiedenen Liedtexten benannt: die Zuordnung dieser Namen auf einer Karte genügt mir freilich nicht, ich möchte wissen, wie lange man von der Burg bis nach Ratzes geht und ob man von Hauenstein aus Kastelruth sehen kann, das Oswald in Liedtexten genannt hat, und wie weit es ist hinauf zur Seiser Alm, auf der seine Rinder weideten.
Eine Durchsage: Wir überfliegen Frankfurt. Voraussichtlich der Publikationsort des Buchs. Das Erscheinungsjahr ist im Bewusstsein fixiert: 1977, da ließe sich Oswalds 600. Geburtstag feiern. Sechshundert Jahre - die Zahl kann eigentlich nur entmutigen, zugleich ist sie eine Herausforderung: Möglichst viele Informationen sammeln, sie zusammensetzen zu einem biographischen Bericht, zugleich zu einem Bild, wenigstens zu einer Skizze seiner Zeit. Dazu würde ich mich kaum aufraffen, wäre mir Oswald nicht seit längerem nah, beinah gegenwärtig in einigen seiner Liedtexte, vor allem im Hauenstein-Lied: Nach vielen Reisen sitzt er fest in Ratzes am Schlern, auf seinem »Kofel«, von dichtem Wald umschlossen, und er sieht nur hohe Berge, tiefe Täler, sieht Felsbrocken, Gesträuch, Baumstubben, Schneestangen, wörtlich: Schneestangen, und statt des gewohnten Umgangs mit Personen von Rang und Adel: Kälber, Geißen, Böcke, Rinder und »knospot leut«, also grobe, plumpe Leute, und die beschreibt Oswald als schwarz, hässlich, als verrußt oder verrotzt, je nach Lesart, und die eigenen Kinder fallen ihm in der Enge auf die Nerven, er wird aggressiv, und Eselschreien, Pfauenkreischen, ein tosender Wildbach - vor fünfzehn Jahren etwa hatte ich diesen Liedtext zum ersten Mal gelesen: einer der Anstöße, mich genauer mit Oswald zu beschäftigen, und nun, September 75, ist es so weit; das Bewusstsein fixiert auf diesen Mann, eine erste Mappe ist mit Manuskriptblättern gefüllt.
Auslösend auch das Porträtgemälde, das ich in kleiner Reproduktion seit langem schon kenne: Der massige Schädel, die gedrungene Nase, das rechte Auge geschlossen, die Narbe auf der Unterlippe, die pelzverbrämte Kappe, das prunkvolle Gewand mit Orden auf diagonalem Brustband - müsste man über jemand, den man so genau vor sich sieht, nicht Zutreffendes sagen und schreiben können, wenn man nur genügend Informationen sammelt? Dazu, als weitere Schreibmotivation: Beschäftigung mit einem Mann, der verschiedene, zuweilen gegensätzliche Möglichkeiten verwirklicht hat, in seinem Leben, in seinen Arbeiten. Und zugleich wieder: Bewusstsein der Distanz, die sich kaum überspringen lässt. Und wiederum: Herausforderung durch das Andersartige, das Fremde.
Die Reise nach Wolkenstein wird die Distanz zu Oswald von Wolkenstein kaum verkürzen. Zu sehen, was Oswald gesehen hat, als Kind, als Erwachsener: Landschaften, die ihn jahrelang umgaben und die mich für einige Tage umgeben werden - kann ich dort Rückschlüsse ziehen? Was hat er von diesen Landschaften gesehen? Wie weit war sein Sehen vorgeprägt von Wahrnehmungsweisen seiner Zeit? Beispielsweise Abgeschiedenheit, die uns heute aufatmen lässt in einer Welt, die enger und enger wird - hat ein Oswald sie gesucht, war sie ihm gleichgültig, hat er sie gemieden? Ich mache mir deutlich: ich reise nicht nach Südtirol, Norditalien, um aus Sichtbarem Rückschlüsse zu ziehen, ich will mir nur mal seine Umgebung anschauen.
Das Hinabschrägen zur Wolkenschicht, bald wischt es hellgrau am Fenster vorbei: Wolkenkuppen; die Lichtmulden schrumpfen. Diffuses Grau, Licht absorbierend. Das Flugzeug gerüttelt; ein paar Dutzend Köpfe an den Rücklehnen hin und her pendelnd. Druck in den Ohren, schlucken. Auf einem Baggersee Wellen, sogar Schaumkronen. Einzeln stehende Bäume von Böen gezaust; ausgleichende Klappenbewegungen an der Tragfläche. Ins Weidegrün werden Windmuster gepresst. Erste Leitlichter. Grasfläche, gesehen durch mein Fenster, durch das gegenüberliegende Fenster, durch mein Fenster. Hartes Aufsetzen. Ausrollen. Losschnallen.
Durch den langen Korridor gehend, auf die Rolltreppe zu, vorbei an Plakaten, die für bayerische Fremdenverkehrsorte werben, wünsche ich mir, die Plakatflächen wären mit Reproduktionen von Oswalds Porträtgemälde bedeckt, im Vierfarbendruck: Der massige, runde Schädel, das geschlossene rechte Auge, die kurze, gedrungene Nase, das Doppelkinn und wieder: Der massige, runde Schädel, das geschlossene rechte Auge, die kurze, gedrungene Nase, das Doppelkinn und wieder .
Am frühen Nachmittag ein Gespräch im Bayerischen Rundfunk. Zwischendurch frage ich mich, ob ich zur Musikabteilung gehen soll, ich kenne einen der Redakteure, wenn auch nur flüchtig: anfragen, ob man für das nächste oder übernächste Jahr an einer Sendung über Oswald von Wolkenstein interessiert wäre, mit ausgewählten Liedbeispielen - einige seiner Lieder mittlerweile als Ohrwürmer: »Wach auff mein hort . Es fügt sich do ich was von zehen jaren alt .« Auch seine Musik als Auslöser der Biographie.
Kein Besuch in der Musikredaktion. Die Lesung. Bier, Doppelkorn. Mit der S-Bahn nach Herrsching. Am Wochenende arbeite ich weiter an der Übertragung eines Liedtextes.
Und dann, am Montagmorgen, der Aufbruch. Der Tag wie mit mächtigem Gongschlag eröffnet: WOLKENSTEIN! Aus dem Fenster blickend, weil das Wetter nun Reisewetter ist, registriere...
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