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WER IN DER CHRONIK unserer Familie vom Vater liest, möchte sicherlich auch einiges über die Mutter erfahren.
Vorab jedoch: Was Großvater Julius recht ist, sollte Deiner Großmutter Hedwig billig sein. Auch ihre Familie hat den Namen eines Ortes übernommen: Bad Schönfließ. Eigentlich solltest Du mal, wie Dein Cousin Georg, zu diesem Kurort fahren und Dich von der Umgebung begeistern lassen. Bad Schönfließ, damals im Landkreis Brandenburg, es wurde nach dem verlorenen Weltkrieg wieder polnisch: Trzcinsko-Zdrój. Es liegt etwa 80 Kilometer südlich von Stettin, läßt sich mit der Eisenbahn erreichen, Umsteigen in Küstrin. Das Dorfstädtchen mit seinen 2000 Seelen, mit dem schönen alten Rathaus, den angenehmen Kuranlagen, es liegt gleichfalls an einem See: dem Stadtsee. Auch hier: ein Seegürtel von Schilf, Büschen, Bäumen. Ja, und viele, viele Seerosen.
Aus diesem Ort die Familie Schoenflies - von alters her Gelehrte und Kaufleute, sprich: bürgerlich situiert, wohlhabend. Georg Schoenflies, Dein Großvater, war Mitglied des Berliner Stadtrats, war Mitglied des Repräsentanten-Kollegiums der jüdischen Reform-Gemeinde, an seiner Beerdigung nahmen Deputierte der Stadt in »Amtstracht mit der Kette« teil. Was seinen Rang und seine Bedeutung hinreichend sichtbar gemacht haben dürfte.
Eure Großmutter Hedwig war höchst unternehmungslustig. Noch im Alter von rund sechzig, wo sich andere längst aufs Altenteil zurückgezogen haben, brach sie zu immer neuen Reisen auf. Dies in Grüppchen, die vom Reisebureau Carl Stangen, Berlin, geleitet wurden. Das Unternehmen bot sogar eine Weltreise an, die allerdings ein Vermögen kostete - für die elftausend Goldmark hätte man eine halbe Villa bauen können. Hedwig konnte sich eine Umrundung der Welt nun doch nicht leisten, immerhin aber reichte es zu Reisen nach Italien, nach Griechenland, in den Vorderen Orient. Es war ein Verwandter, der Archäologe Gustav Hirschfeld (er hatte im Auftrag der Reichsregierung die Ausgrabungen in Olympia geleitet), der ihr Interesse an Archäologie geweckt hatte.
Diese Frau, hochbetagt, doch hochaktiv, konnte erzählen, was unsereins, in der Grundeinstellung wahrhaftig nicht provinziell, nur lesen kann. Wenn Du magst, so führe in der Familienchronik aus, wie Deine Großmutter in Brindisi das Schiff besteigt, wie sie von der Akropolis herab auf die staubige Stadt und die kahlen Bergzüge blickt und: auf das gleißende Meer. (Wenn Du Dein altes Vorhaben einmal durchführen kannst, nach Griechenland zu reisen, so könntest Du dort reichlich Anschauungsmaterial finden.)
Weiter wäre zu berichten: Großmutter Hedwig auf dem Mittelmeer, Kurs südwärts, Großmutter Hedwig in Alexandria, in Kairo, Großmutter Hedwig mit dem Grüppchen auf einem der Nildampfer, erneut Kurs südwärts. Wenn sie auf Deck des Schiffes saß, die Ufer an sich vorbeigleiten ließ mit all den Tempeln, Pyramiden, so muß das für sie ein Gefühl gewesen sein, als führe sie den Strom der Jahrhunderte, der Jahrtausende aufwärts, um endlich an eine Quelle des Zeitstroms zu gelangen. Ja, sie reiste in Zeiträume, die mit den zunehmenden Erkenntnissen der Forschung immer weiter zurückreichen, Jahrtausend um Jahrtausend um Jahrtausend.
So sehe ich Deine Großmutter schließlich in Karnak. Der dortige Tempel mit seinen kolossalen Dimensionen gilt nun mal als das staunenerregendste Bauwerk auf Erden. Ich sehe mit meinem geistigen Auge noch vor mir, was sie erzählt hat, in ihrer zuweilen lakonisch-wortkargen Art: Hedwig in der Mitte des halb eingestürzten Bauwerks, umgeben von Säulen mit einer Höhe und einem Umfang, daß, mit ihnen verglichen, die Säulen von Selinunt und Agrigent wie Zwergenwerk erscheinen müssen. Etliche der Säulen auch liegend, wie hingebreitete Felsmassen, und Großmutter Hedwig, von Herrn Stange oder dessen Stellvertreter wohl argwöhnisch beobachtet, auf Zurufe allerdings nicht weiter reagierend, kletterte auf einen der liegenden Riesen, sah all die Risse, Spalten, Klüfte im Fels, aus dem Gras, ja Buschwerk hervorwächst, schwankend im Windhauch der Wüste - so ungefähr könnte sie das zum Ausdruck gebracht haben. Sie hat sich den Luxus geleistet, der Kajüte zu entwischen, sich nachts in der Tempelruine aufzuhalten, in der Totenstille, in der sie gelegentlich Steinbrocken, Steinbröckchen hörte, die sich von den Riesensäulen lösten. Sie hatte fast das Gefühl, die Hieroglyphen ringsum würden sich aus den Kartuschen befreien und zu Klängen werden, die nur sie zu hören vermochte, in der Stille der Nacht. Doch das Mysterium teilte sich ihr nicht mit, sie kehrte zurück, wurde auf dem Schiff längst schon erwartet; es fuhr in jener Nacht noch weiter. Und dies - sie konnte es nicht hymnisch genug rühmen - unter einem Sternenhimmel, wie er sich in unseren Breiten nur erträumen läßt, selbst in klaren Winternächten: die Sterne nicht nur als Lichtpunkte, sondern wie Fackeln. Dazu noch das Kreuz des Südens, wenige Grade über dem Wüstenhorizont. Viele der Sterne verdoppelt auf dem Wasserspiegel - wenn sie den Blick senkte, hatte sie das Gefühl, sie sei nicht mehr auf dieser Erde, das Schiff gleite durch die Milchstraße dahin.
FREILICH, so weit ist deren Tochter Elise, Deine Mutter, nie gereist. Noch weniger wiederum deren Erstgeborene, unsere Gertrud. Einmal Frankreich, das ja, aber Gertrud in Karnak - so was kann ich mir nicht vorstellen und schon gar nicht: Gertrud vor der Sphinx, die noch älter sein soll als die Pyramiden gleich nebenan.
Immerhin aber: Eure Mutter ist nach Italien gereist. Womit schon das Stichwort Hochzeitsreise fällt. Elise Schoenflies war 21, als ich sie heiratete, mittlerweile 32 Jahre alt. Wie weithin Tradition, zumindest unter Begüterten, fuhren wir nach Rom. Begeistert schrieb sie meiner Schwester, was ich nur aus dem Gedächtnis andeuten kann - ich werde gelegentlich den Brief für Dich heraussuchen. Hier, gleichsam freihändig, einige Andeutungen: Das schöne Rom ... Die Kunst, die das Menschenauge entzückt ... Die großen Reize dort der Natur ... Die Erinnerungen an die alte Zeit ... Die Ausblicke über die gesamte Stadt ... Die südlichen Pflanzen und Gewächse ... Der Ausflug nach Tivoli im Sabinergebirge ... Der weite Blick von dort in die Campagna ...
Insgesamt möchte ich dieses Lebenskapitel knapp halten. Ich müßte mich sonst auseinandersetzen mit Elises gelegentlich erhobenen Vorwürfen, ich würde allzu strenge Maßstäbe anlegen, sie könnte sich an meiner Seite nicht recht entfalten. Sie hat sich freilich ebenso darüber beklagt, daß sie in jüngeren Jahren nur selten zum Tanzen gekommen sei, weil sie immer wieder für andere zum Tanz aufspielen mußte. Was uns als Ehepaar betraf - nun gut, wir gingen und gehen prinzipiell nie ins Kino, gingen und gehen nur selten ins Theater oder in die Oper. Dafür aber spielte Elise um so mehr auf ihrem Blüthner-Flügel. Ihr Geschwister werdet noch ihre Wiener Walzer, ihre Melodien aus der »Fledermaus« oder der »Csárdásfürstin« in den Ohren haben. So was konnte sich über Stunden hinziehen, und ihr habt ebenso ausdauernd zugehört.
Nun könntest Du, könnten Margot oder Georg fragen: Wenn Mama so begeistert war von diesen Operetten, warum seid ihr beiden nicht des öfteren in Aufführungen gegangen? Nun, für mein Teil muß ich gestehen, daß ich ein Mandat zur Verteidigung dieser Operetten nicht übernehmen könnte. Was uns dort an Geschichten aufgetischt wird, ist ja hanebüchen! Nicht eben amüsiert, aber auch nicht bekümmert, eher belustigt als erstaunt, frage ich mich, was für merkwürdige Figuren durch den Kopf eurer Mutter gingen, was für Geschichten und Geschichterln sie euch erzählt hat, in den Überleitungen der, wie man eingestehen muß, zuweilen recht zündenden Melodien. In welche Welten hat sie euch in euren jungen Jahren entführt, wie von Blüthner-Flügeln getragen! Ein Varieté in Budapest, Herren im Frack, mit Hut und elegantem Spazierstock, die weiße Kamelie im Knopfloch, und halbseidene Damen tanzen den Csárdás, da würden die Herren gern auch die Unterwäsche sehen, nicht nur sehen, denn »ganz ohne Weiber geht die Chose nicht«. Das habe ich noch im Ohr, denn zuweilen ergab es sich von selbst, daß ich, im Nebenzimmer beschäftigt, teilnahm an den Darbietungen, mit denen sie sich selbst zu beschwingen schien. Was für kuriose Namen fielen da allein schon: Gabriel von Eisenstein ... Prinzessin Stasi ... Chevalier Chagrin ... Sylva Varescu ... Ach ja, und der Sohn des Fürsten von und zu Lippert-Weylersheim. Ich hatte auch Mandanten aus Adelskreisen, aber jenes Operettenpersonal repräsentierte eher den unteren Adel: schmucke Uniformen ... ein bezechter Sowieso ... von Champagner angeheitert ... ein Stubenmädel ... ein Fledermauskostüm ... Ach, ich fürchte, ich werfe alles durcheinander, die Rache der Fledermaus und das Spiel von Schwalberich und Schwälbin, Lehár und Kálmán, Kálmán und Lehár. Was hat das alles mit unserer Welt zu tun, die genügend zwielichtige Figuren zu bieten hat, und weiß Gott, genügend Verwirrungen, die sich keineswegs immer glücklich auflösen, zu guter Letzt. Wie Ihr wißt, habe ich mit kritischen Anmerkungen nicht immer gespart, die Elise zuweilen ein wenig verstimmten, aber ausreden konnte und wollte ich ihr dieses Phantasieren auf dem Blüthner nun doch nicht und ihre Ausflüge in das Reich von Fledermäusen und Schwalben. Vielleicht kannst Du wenigstens nachträglich mehr als nur den Spielverderber in mir sehen, vielmehr erkennen, dies auch gebührend zum Ausdruck bringen, daß ich mich nicht ganz zu Unrecht zurückgezogen hatte, eher den Umgang pflegend mit Autoren des klassischen Roms, in der Überzeugung, ein Cicero oder Caesar habe...
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