Schweitzer Fachinformationen
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In der Küche steht der Dreck. Was der erste Abend zu Beginn lang erwarteter Sommerferien so anrichten kann.
Die Decken in dieser Wohnung hängen so tief, als wären sie stetig ein paar Zentimeter abgesunken, seit ich vor zwanzig Jahren ausgezogen bin. Auf dem Weg vom Gästebett durch den Flur bis hierher an den Kühlschrank bin ich immer wieder gestolpert, über abgestrampelte Hosen oder aus den Regalen gezogene Bücher. Wir haben das Ausräumen bis jetzt vor uns hergeschoben. Nur in einer Ecke im Arbeitszimmer habe ich schon Platz geschaffen, als ich vor Wochen hier eingezogen bin, mit meinem Handgepäckkoffer aus Aluminium, der nur ein paar Kleidungsstücke enthielt. Das meiste waren Unterlagen, farbechte Materialproben, Technik für die Videotelefonate.
In dem kleinen, leuchtenden Fenster sehen meine Kolleginnen nur mich, und nur das obere Drittel, in der Regel in eine Bluse gehüllt, die ich nach dem Ende der Meetings sofort abstreife, um in weichem Jersey den Rest des Tages zu bestreiten. Doch für diese halbe Stunde setze ich mich zusammen, knote die Haare nach oben, und ansonsten sieht man nur die in Marineblau gestrichene Wand hinter mir. Weichgezeichnet durch die niedrige Datenübertragungsrate der Provinz, sind auch die nackten Nägel in der Wand nicht zu erkennen, und es scheint, als würde ich inmitten eines monochromen Yves-Klein-Gemäldes sitzen, einem Void der Kreativität, besonnen und eins mit dem Universum. Als Gesamtkonzept wirkt das so harmonisch, dass die ganze Agentur ihre Kondolenz schnell vergessen hatte und zum Tagesgeschäft übergegangen war. Auch, weil ich weiter meine Deadlines einhielt, erreichbar blieb und in gewohnt freundlich-gewaltfreiem Sermon auf E-Mails antwortete, wusste wahrscheinlich bald schon niemand mehr, dass ich bis zu Beginn der Sommerferien bei meiner minderjährigen Schwester eingezogen war, in die Wohnung unserer verstorbenen Mutter, und so ein Leben fernab all meiner Gewohnheiten und im Angesicht meiner verdrängten Kindheit führte. Ich hingegen kann noch genau abrufen, wie ebendieses monochrome Arbeitszimmer durch die Jahrzehnte gegangen war und dass ich dort noch unter Paisleymuster und Eichenfurnier pubertiert hatte; in einer anderen Zeit und in einem untergegangenen Land.
Ich ziehe die Kanne aus der Kaffeemaschine und gieße mir den kalten Rest von gestern Nachmittag ein; er ist hellbraun und eigenartig süßlich. Ich hatte vergessen, wie weich das Wasser in unserer Heimatstadt ist. Die tiefen Pastateller staple ich in den Topf. Vor ein paar Jahren hatte Mone das Geschirr mit Zwiebelmuster final verbannt und sich mit glatt-glänzend weißem Porzellan von Arcor eingedeckt.
Ich schiebe allen Abwasch an die Wand zwischen den alten Toaster und den neuen Blender - dass es so etwas in diesem Haushalt gibt, überrascht mich, er muss recht neu sein -, damit ungefähr genug Platz für meinen Hintern auf der Arbeitsplatte ist. Trotzdem werfe ich, bevor ich mich setze, schon auf die Hände gestützt, noch einmal einen schnellen Blick um mich, ob ich mich auch auf nichts draufsetze. Im Geiste bin ich noch immer der leicht übergewichtige Teenager, der ich einmal war.
In der Essecke hat sich eine Müllhalde angesammelt, leere Flaschen und Plastikverpackungen, von den Krümeln ganz zu schweigen. Es hat mich überrascht, wie viel Spezi in Mateas zierlichen Körper hineinpasst. Aber sie trinkt die Brausen wie Wasser, und wird von dem bisschen Extra-Koffein sicherlich nicht früher aufwachen als sonst. Ich bin froh um die Sommerferien und dankbar dafür, dass ich das Mädchen für die nächsten Wochen nicht mehr um halb sechs aus dem Bett scheuchen muss.
Die Uhr, die über der Tür zu ihrem Zimmer hängt und im Takt des roten Zeigers tickt, zeigt halb zehn. Da Mira ihre Ankunft für die Mittagszeit angekündigt hat, wird es vermutlich nicht vor fünfzehn Uhr werden. Ich atme schwer aus, zähle die Stunden, die mir bis zu ihrem Aufschlagen bleiben, und nehme mir vor, bis mindestens neun Uhr fünfundvierzig an dieser süßen kalten Tasse Kaffee zu trinken, den Wolken beim Sichverziehen zuzusehen, dem Zerren in meinem oberen Rücken nachzuspüren. Und sonst nichts.
Dabei flimmern, wie meist, wenn ich die Augen in dieser Wohnung halb schließe, die Erinnerungen an mir vorbei. Wie Trampelpfade von Geisterschuhen sehe ich die Wege, die ich als Kind hin und her gelaufen bin. Vom ersten Moment an, als wir nach Mones Tod die Wohnung betreten hatten, war alles wieder da gewesen. Anfang der achtziger Jahre hatten wir in diesen vier Wänden schon einmal Atemschutzmasken tragen müssen - immer wenn wir durch den Hausflur bis unters Dach stiegen, denn dort gab es angeblich massive Probleme mit Asbest. Bis heute weiß ich nicht genau, was Asbest sein soll. Es war wie ein Fluch, eine schummrige Wolke der Verunsicherung, und schon in der Grundschule fragte ich mich, ob es wirklich sein konnte, dass der Asbest eben genau vor unser Wohnungstür anhielt und höflich draußen wartete und wir deshalb den Mundschutz nur im Treppenhaus tragen mussten. Jetzt hängen unsere Stoffmasken für Einkäufe, hygienisch womöglich bedenklich, nebeneinander am Schlüsselbrett, und wenn ich die Wohnung verlasse, klopfe ich mich ab, kontrolliere: Telefon, Schlüssel, Portemonnaie, Maske.
Auch damals hatte sich nur die halbe Hausgemeinschaft daran gehalten, und viele von denen, die ich als Kind fürchtete, wohnen immer noch hier. Einige haben sich mittlerweile halbiert, sind schwindsüchtig oder verwitwet. Omi hatte Mone diese Wohnung vermitteln können, über Kontakte, und für mich ergab das Sinn: dass eben Omis Kontakte so alt sein mussten wie sie und wir deswegen die einzigen Leute im Haus waren, deren Haarfarbe nicht mindestens Salz und Pfeffer war.
Neun Uhr sechsundvierzig. Ich stelle die geleerte Kaffeetasse auf den Geschirrstapel und gehe ins Badezimmer. Die Lichter sind andere als früher - grelle LEDs - und meine Haare auch, denn mittlerweile reihe ich mich ein in die Mode der Hausbewohnerinnen. Ein störrischer weißer Vorhang springt über meine dunkelbraunen Haare. Ich stehe nur sehr kurz einfach da, dann beginne ich, die Liste abzuarbeiten: dreimal bürsten, vom Ansatz bis auf die Schlüsselbeine hinab, zwei Minuten Zähne putzen, Reinigungswasser, Brauenkorrektur, Lippenkorrektur. Als ich den Spiegelschrank auf der zweiten Seite öffne, bemerke ich, dass wir auch Mones Parfüms noch nicht aussortiert haben. Ich sprühe einmal mit der Schwertlilie in die Luft. Lieblich und schwer legt sich der Geruch um die Schultern - so wie früher alles hier gerochen hat, die Wäsche und die Pfannkuchen und die Lehne an der Couch, auf der sie allabendlich eingeschlafen war. Wie schon in den letzten Wochen stehe ich da und wünsche mir kurz, es wäre nicht Samstag und ich hätte wenigstens ein oder zwei Meetings. Dieser Moment dauert an, bis das Reißnagelgeräusch der Türklingel mich zurückholt.
Mira sieht wie immer sehr schön aus, auf diese zerwühlte Mira-Art. Ihre wachen, klaren Augen leuchten auch, wenn rundherum der Mascara verwischt ist.
»Was machst du denn schon hier?«
»Da staunste, wa?« Mira imitiert sehr gern sehr schlecht den Berliner Dialekt. »Schon gut«, fügt sie an, bevor ich reagieren kann, und lässt ihre modisch-abgegriffene Reisetasche beherzt fallen, verfehlt dabei um ein Haar die soeben vorbeischleichende Muriel.
»Oh Schwesterherz!«, und statt mich zu umarmen, bückt sie sich und streichelt der steinalten Russisch Blau über den Kopf, die Mira mit milchigen Augen mustert. Ich vergesse oft noch immer, dass es Muriel gibt. Sie ist hier eingezogen, lange nachdem ich fort war. Mone hat sie aufgenommen, weil sie nur drei Beine hat. Ein Mängelexemplar. Wenn schon so eine polierte Rassekatze, dann eine mit Behinderung. Wegen der Barmherzigkeit; obwohl wir noch nie religiös gewesen sind. Muriel bewegt sich lautlos und klaglos durch die Wohnung. Sie ist so groß wie ein Bügeleisen, und als Mira sie aufhebt und kost, sieht es ein bisschen aus, als würde die Katze sich ekeln. Die kleinen Schulterblätter unter dem Pelz drehen sich gegeneinander, ihr Schwanz kringelt sich ein. Weil sie aber von mir noch kein Frühstück bekommen hat, lässt sie die Umklammerung über sich ergehen. Schleimerin. Als könnte sie meine Gedanken hören, mustert sie mich, während Mira sie summend über die Schulter legt und in die Küche trägt.
»Huch, was war hier denn los? Bin ich zu spät zu ner Party?«
Mira kramt routinierter, als ich das von ihr erwarten würde, schließlich wohnt auch sie schon eine Dekade nicht mehr hier, eine Packung Kekse aus dem Schrank und setzt sich neben Muriel auf den Boden, die das Futter aus der kleinen Aluschale schlabbert und dabei unappetitliche Genussgeräusche von sich gibt - ein zerrendes Brummen ist das, verschlafen-befriedigt.
»Die Mercedes, die ist eben mehr ein Hundemensch«, hatte Mone damals gelacht, als ich das Kätzchen einfach hatte fallen lassen vor lauter Schreck, weil es seine kleinen Rasierblattkrallen aus- und in meinen neuen Kaschmirpullover hineingefahren hatte. Aber darin irrte meine Mutter. Grundsätzlich ist mir das Konzept Haustier von jeher suspekt, ich bin, wenn überhaupt, ein Menschenmensch. Fische sind ok.
Ich setze eine frische Kanne Kaffee auf, was Mira mit einem wohligen Seufzen von ihrem Platz zwischen Heizung und Katze aus quittiert und sich weiter mit Kekskrümeln bestreut. Mira ist deutlich die Hübscheste von uns, aber sie hat wirklich sehr große Vorderzähne, mit denen sie Gebäck schon immer ein bisschen genagt hat wie ein Backenhörnchen. Ich erinnere mich dunkel daran, ihr das einmal gezeigt zu haben, als...
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