Schweitzer Fachinformationen
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FREITAG, 13.13 UHR
»Zelten? Niemals!«
Hier stehe ich auf dem so aufdringlich hauptstädtisch eleganten Bahnhof diesem nicht weniger aufdringlich eleganten Berliner Hauptkommissar gegenüber und glaube, mich verhört zu haben. Warum trägt dieser Typ einen Nadelstreifenanzug mit Krawatte? Kann der nicht in normaler Zivilkleidung mit Jeans, T-Shirt und eventuell einer Lederjacke daherkommen - so wie ich zum Beispiel?
Meinen entsetzten Ausruf ignorierend, packt er meine Reisetasche und drängt sich durch die Menge; mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Direkt vor dem Hauptausgang parkt sein Wagen, im absoluten Halteverbot, wo sonst? Auf dem Weg ins Berliner Polizeipräsidium denke ich verbissen darüber nach, dass ich schon vor wenigen Stunden beschlossen habe, dieser Tag könnte nicht mehr schlimmer werden. Ich habe mich getäuscht.
Als ich heute Morgen um fünf Uhr zu Hause in Köln von meinem Diensthandy aus dem Schlaf gerissen wurde, wunderte ich mich nur ein kleines bisschen. Nicht, weil der Mord mal wieder in der Nacht geschehen ist. Schließlich bietet sich die Dunkelheit für Verbrechen durchaus an. Aber darüber, dass immer schon am frühesten Morgen ein Spaziergänger, Zeitungsausträger oder Hundebesitzer das Verbrechen beziehungsweise die Leiche entdeckt.
Die Anweisung, ins Kölner Präsidium zu kommen, nicht zum Tatort selbst, war schon eher verwunderlich. Kurz hoffte ich, dass es den fiesen Müller aus der Staatsanwaltschaft erwischt hat, der immer wieder versucht, Frauen unauffällig an den Po zu grapschen. Aber schnell schob ich diesen unchristlichen Gedanken von mir und beschloss, einfach abzuwarten.
Natürlich war meine Kollegin vor mir im Büro des Kommissariatsleiters. Obwohl Ursula aus einem Dorf irgendwo außerhalb der Stadt kommt. Ich dagegen hätte zu Fuß laufen können, was ich natürlich nicht gemacht habe, so früh am Morgen.
»Wo brennt's denn?«, murmelte ich missgelaunt, während ich mich in einen Sessel plumpsen ließ.
»Guten Morgen erst einmal, Frau Heller«, entgegnete mein Chef unbeeindruckt von meiner schlechten Laune - vielleicht weil er sie nur zu genau kennt. »Wir haben eine Leiche« - darauf wäre ich jetzt nicht gekommen - »in einem Freibad in Berlin.«
»Und wofür holen Sie dann uns aus dem Bett, Herr Bernbacher?« Die Frage von Ursula fand ich gut, sie stellt immer die richtigen Fragen, was allerdings auch seine negativen Seiten haben kann.
»Gute Frage, Frau Hohmann«, das Lob kam nur sehr gepresst über die Lippen des Kommissariatsleiters, »Irmgard Schiller, die Tote, kommt aus Köln, darum wurden wir um Amtshilfe ersucht.«
Amtshilfe! Und diese Amtshilfe soll nun darin bestehen, dass ich meinen eigentlich freien und obendrein noch herbstlich kühlen Tag der Einheit und wohl auch das anschließende Wochenende unter einer mühsam abgespannten Plane aus Stoff verbringe?
»Warum schleichen Sie sich eigentlich nicht selbst undercover auf dem Zeltplatz ein, Herr Nesta?«, will ich nun von meinem Berliner Kollegen nach längerem Schweigen wissen.
»Mich haben die dort alle schon gesehen. Ich habe die Leiche in Augenschein genommen und die Spurensuche geleitet.«
Gut, das ist ein Argument. »Aber warum können wir nicht ganz normal vorgehen, uns als Polizisten vorstellen und die üblichen Fragen stellen?«, lasse ich nicht locker.
»Sie kennen sich wohl nicht aus mit Campern!« - Nein, und ich will mich auch gar nicht auskennen mit Leuten, die es schön finden, ihren halben Urlaub gebückt oder geduckt zu verbringen. - »Die sagen nichts. Niemand hat etwas gesehen oder gehört, obwohl die Frau von einem Zehnmeterturm gefallen ist. Da hat man noch Zeit, zu schreien.«
Das weiß ich jetzt allerdings aus eigener Erfahrung. Meinen ersten und letzten Sprung aus zehn Metern Höhe habe ich nicht besonders gut im Gedächtnis, die tagelangen Schmerzen in der Brust, weil ich schräg aufgekommen war, dafür umso besser. Dabei hatte ich noch Wasser unter mir. Die tote Frau leider nur Beton. »Warum steht eigentlich ein Zehnmeterturm auf einem Zeltplatz?« Hat nicht auch mein Chef von einem Schwimmbad gesprochen?
»Das war einmal ein Freibad. Es wurde geschlossen und das Gelände für ein paar Jahre an die Betreiber des jetzigen Zeltplatzes vermietet.«
Aha, das verstehe ich.
»Möglicherweise liegt der Fall ganz einfach.«
Die Bemerkung meines Berliner Kollegen trifft mich etwas unvorbereitet: Ich bin extra aus Köln angereist und bereite mich gerade seelisch darauf vor, in einem Zelt zu schlafen, und dann diese lapidare Bemerkung? »Wie meinen Sie das?«
»Nun, seit vorgestern wird in der Justizvollzugsanstalt Moabit ein Häftling vermisst, er ist vom Freigang nicht zurückgekommen. Er sitzt wegen Raubüberfalls mit Totschlag. Vielleicht hat er unser Opfer überfallen, und im allgemeinen Gerangel ist sie den Zehnmeterturm heruntergefallen.«
»Stellt sich nur die Frage, ob er sie extra zum Ausrauben auf den Sprungturm eingeladen hat oder ihr rein zufällig da oben begegnet ist.« Leider versteht mein Kollege nicht genug Spaß, er reagiert nur mit dem leichten Anheben einer Augenbraue auf meine Bemerkung. Ich dachte immer, Berliner hätten mehr Humor.
Dann räuspert er sich. »Die Raubmord-Theorie überzeugt mich auch nicht, aber es gibt noch eine Möglichkeit - es könnte einfach Selbstmord gewesen sein.«
Das ist natürlich bei einem Fall aus großer Höhe immer eine erwägenswerte Möglichkeit, wenn ich mich auch - schon wieder - frage, warum ich dann überhaupt angereist bin. »Was spricht dafür und was dagegen?«, frage ich etwas kurz angebunden.
Nesta zuckt mit den Schultern: »Nun ja, das Opfer ist . war eine Frau mittleren Alters, da kommt das schon mal vor.«
Irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, der Herr Kollege macht es sich etwas einfach. Außerdem, was meint der eigentlich mit »mittleren Alters«? So wie ich den einschätze, ist er auch um die vierzig und damit genauso alt wie das Opfer. Ich empfinde plötzlich eine gewisse Solidarität zu der toten Irmgard Schiller und beschließe spontan: »Ich mache es doch.«
»Was?«
»Das Undercover-Zelten, aber nur unter zwei Bedingungen.«
»Und die wären?«
»Erstens: Ich möchte kein Zelt, sondern ein Wohnmobil, oder meinetwegen einen VW-Bus, oder was es noch so gibt. Denn sonst kann ich noch nicht mal ein Telefonat führen, ohne dass der halbe Campingplatz mithört. Zweitens: Auf jeden Fall brauche ich eine eigene Toilette, sonst geht gar nichts.«
Hauptkommissar Nesta schaut mich kurz von der Seite an - irritiert, amüsiert? - und meint, das könne man einrichten.
Die nachfolgende Abwicklung im Polizeipräsidium gestaltet sich etwas langwierig - ein Wohnmobil gehört schließlich nicht zur Grundausstattung der Polizei. Leider kann mein Berliner Kollege auch noch nicht mit vielen Informationen aufwarten. Die Befragung der Campingplatzbesucher ist noch im Gange. Sie soll auch bis zu meinem Eintreffen hinausgezögert werden, denn danach wird die An- und Abfahrt verboten, das heißt, die Bewohner des umgestalteten Freibads dürfen sich zwar weiter frei in Berlin bewegen, aber nicht abreisen, und neue Besucher werden nicht eingelassen.
»Im Prinzip haben wir es also mit einem überschaubaren Kreis von Verdächtigen zu tun, was die Sache sehr vereinfacht«, lässt mich mein Kollege etwas von oben herab wissen. Der kennt wohl Agatha Christie und die von ihr geschaffenen zahllosen Varianten auch bei einer kleinen Auswahl potenzieller Täter nicht.
»Aber«, diesen Hinweis kann ich mir nicht verkneifen, »der Mörder könnte doch auch von außerhalb gekommen sein.«
Nesta brummt nur »Wird alles überprüft« und greift zum Telefon, um nachzufragen, wann es die ersten Ergebnisse der Obduktion geben würde. Dafür ist es natürlich noch zu früh. Auch die Spurensicherung, die den Zehnmeterturm, das Sprungbecken und die Umgebung untersucht hat, kann noch nicht mit Informationen aufwarten. Ob sie das überhaupt irgendwann können wird, ist außerdem mehr als fraglich; in der Tatnacht hat es stark geregnet.
»Was ist das?« Ich greife mir eines der vielen Fotos, die in einem Haufen auf Nestas Schreibtisch liegen - seine Unordnung ist bisher das einzig Sympathische an diesem Mann.
»Könnten Sie bitte aufhören, auf meinem Schreibtisch herumzukramen!«
Meine Güte, ist der Typ empfindlich. »Ich gehöre jetzt doch auch zum Ermittlerteam, oder nicht?«, gebe ich zurück. »Also, was soll dieses Foto der Handtasche?«
»Es ist die Tasche des Opfers.«
Jetzt werde ich langsam ungeduldig. »Stellen Sie sich vor, das habe ich mir schon fast gedacht. Warum wurde diese extra fotografiert, und das noch so oft?« Ich deute auf den Fotohaufen auf dem Schreibtisch.
»Um ihre genaue Position auf dem Sprungbrett auch im Nachhinein rekonstruieren zu können.«
»Die Frau hat ihre Handtasche mit auf den Zehnmeterturm genommen?« Erstaunt blicke ich auf die sicherlich teure, durch den nächtlichen Regen aber stark ramponierte Ledertasche - das passt irgendwie nicht zusammen.
Doch bevor ich meine Zweifel äußern kann, erreichen meinen Kollegen kurz hintereinander zwei Anrufe. Im ersten wird ihm mitgeteilt, dass mein Campingmobil zur Abfahrt fertig ist. Der zweite kommt aus der Pathologie. Die Einladung Nestas, ihn dorthin zu begleiten, lehne ich mit dem Hinweis ab, ich wolle meine Ankunft auf dem Campingplatz nicht noch weiter aufschieben. Irgendetwas Gutes muss dieses Undercover-Zelten schließlich auch haben, und die Begutachtung der Leichen sowie die meist recht...
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