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Auge um Auge
Aus naheliegenden Gründen mag ich keine Bobby-Cars. Auf Spielplätzen und Hinterhöfen siehst du sie heute gelegentlich noch, und im Laufe vieler Jahrzehnte haben sie die Herzen unzähliger Kinder höherschlagen lassen. Nicht selten wurde mit diesem Spielzeug so mancher Berufswunsch angelegt. Mein bester Freund Marc aus Kindheitstagen etwa, der mir später als LKW-Fahrer einmal sagte, dass es eben einer jener Spielzeugwagen war, an den er sich gerne zurückerinnere. Bis zu seinem frühzeitigen Ableben arbeitete er mit Leib und Seele als Fernfahrer.
Meiner Tochter habe ich seinerzeit ein Spielzeug dieser Art verwehrt. Und sollten sich irgendwann einmal Enkelkinder ein Bobby-Car zu Weihnachten oder zum Geburtstag von mir wünschen, so hoffen sie vergebens. Nein, mir hatten diese Plastikfahrzeuge gründlich die Lust am Spielen vergällt, erinnern sie mich doch an jenen Tag im Jahre 1968, der mit einem Unfall einen bedeutenden Einschnitt in meinem Leben kennzeichnen sollte. Dafür kann freilich das Bobby-Car nichts, auch nicht jener quietschgelbe Plastik-LKW, um den es hier eigentlich geht, einem Vorläufer des einst im Jahre 1972 in Fürth entwickelten Spielzeugmodells.
Meine angeborene, stark ausgeprägte Lebhaftigkeit in Verbindung mit mangelnder Ausdauer konnte nur durch immer neu begonnene Aktivitäten gezügelt werden; die Diagnose ADHS war damals noch weitgehend unbekannt. Die für diese Verhaltensauffälligkeit so typische notorische Unruhe entwickelte nach meinem ersten Unfall eine gefährliche Eigendynamik, die weitere Unglücke nach sich ziehen sollte.
Die Tür zum Wohnzimmer war halb geöffnet, so dass Mutter stets einen wachsamen Blick in das Kinderzimmer gegenüber werfen konnte, in dem ich mit dem gleichaltrigen Thomas spielte. Wir waren etwa zweieinhalb Jahre alt und entsprechend lebhaft ging es zu. Unsere Mütter waren miteinander befreundet und die Wohnungen befanden sich beide im selben Stockwerk eines Mehrfamilienhauses im Bremer Stadtbezirk Ost.
Wir schubsten einander den Spielzeugwagen, der uns damals als geradezu riesig erschien, gegenseitig zu, sehr zum Missfallen von Thomas zwei Jahre älteren Schwester Norma, die unweit in einer Ecke mit ihren Puppen und einem schönen, nostalgischen Kaufmannsladen spielte. Immer wieder raste der Wagen in die Puppen und Stofftiere, die sie dann, schimpfend wie ein Rohrspatz, ein ums andere Mal ordentlich in Reih und Glied erneut drapierte.
"Bitte nicht so laut Kinder, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!" Die mahnende Stimme von Mutter verhallte natürlich ungehört. Wir waren viel zu sehr in unser Spiel vertieft, befanden uns in einer jener Welten aus Fantasie und Abenteuer, in die wohl nur Kinder einzutauchen imstande sind.
Irgendwann reichte es Norma und sie versuchte, den Wagen an sich zu reißen. Bei dem Gerangel löste sich die vordere Achse mit den beiden Reifen daran und der Wagen flog scheppernd in eine Ecke.
Plötzlich hatte Thomas nur noch die Achse mit den beiden lose befestigten Reifen an den Enden in der Hand und rollte sie mir zu. So ging es geraume Zeit hin und her, doch irgendwann löste sich einer der Reifen von dem Draht und verschwand unter einer Kommode. Da wir uns die Achse nun nicht mehr gegenseitig zurollen konnten, versuchte Thomas kurzerhand, mir den verbliebenen Reifen mit dem Draht voran zuzuwerfen.
Durch ohrenbetäubendes Gebrüll aufgeschreckt, stürmte Mutter ins Kinderzimmer. Entsetzt schaute sie in mein linkes Auge, aus dem Blut und eine andere, undefinierbare Flüssigkeit herausliefen.
"Thomas sagt, er will mir die Augen ausstechen" schrie ich, rasend vor Schmerz und Wut.
Norma stand still und blass in der Ecke und hielt eine Puppe fest umklammert. Während Mutter mit mir wild um mich schlagend auf dem Arm zum Telefon eilte, um einen Rettungswagen zu rufen, betrachtete die Mutter der beiden Geschwister nachdenklich den Achsendraht mit dem Reifen daran.
Der Stich in meinen linken Augapfel, von den Ärzten als Perforation des Bulbus Oculi bezeichnet, ist mir bis heute präsent, und auch der besorgte Blick des Notfallsanitäters der Bremer Feuerwehr, der mir jetzt mit einer kleinen, aber starken Lampe ins Gesicht leuchtete, hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.
Und in Mutters sowieso.
"Jetzt nehmen Sie doch endlich Vernunft an, Sie können da nicht rein, so sind nun mal die Regeln!"
Die Krankenschwester der Augenstation im Krankenhaus baute sich provokativ vor Mutter auf.
Durch eine Glasscheibe beobachteten meine Eltern mich besorgt, wie ich in einem schneeweißen Krankenbett aus hellgrau lackiertem Eisen lag, beide Augen mit einem dicken Verband abgedeckt.
"Wenn Sie jetzt zu Ihrem Kind gehen, wird der Abschied nur umso schwerer sein, wollen Sie das wirklich?" Es war der resoluten Frau nicht begreiflich zu machen, dass eine Mutter niemals freiwillig ihr Kind in einer derartigen Situation allein lassen würde.
Mit der Diagnose einer lebenslangen Einäugigkeit wurde ich schließlich nach gerade einmal sieben Tagen aus der Klinik entlassen. Es sollte nicht der letzte Aufenthalt gewesen sein. Ich lief meinen Eltern entgegen, und Vater schenkte mir an diesem Tag meinen ersten Teddybär.
Den damaligen, geradezu obrigkeitshörigen Kadavergehorsam der Oberschwester nimmt Mutter ihr heute noch übel.
Andere Zeiten, andere Sitten.
*
Schon vor dem Unfall mit wenig Ausdauer ausgestattet, musste nun ständig etwas Neues das soeben begonnene ablösen; nur mit Abwechslung war ich auszugleichen. Diese bereits von Geburt an angelegte Zappeligkeit und Ungeduld entwickelte sich mit dem Verlust des Auges zu einem Horrortheater für meine Mitmenschen.
Getrieben von einer kaum zu bändigen Unruhe und Nervosität, Alpträumen, Aggressivität und der Unfähigkeit, angefangenes zu beenden, brachte ich mein Umfeld immer wieder an den Rand der Verzweiflung.
Wie von Sinnen raste und zappelte ich unermüdlich durch die Wohnung, und Mutter hatte Schwierigkeiten, mich zu fassen zu bekommen, bevor ich wieder irgend etwas umschmiss, auskippte oder gar noch Schlimmeres passierte. Ständig stieß ich mit dem Kopf gegen einen Türrahmen oder ein Regal, da ich die Kurven immer nur haarscharf nahm und mich noch nicht an das aufgrund der Einäugigkeit nun fehlende räumliche Sehvermögen gewöhnt hatte.
Die permanenten Kopfstöße machten mich schließlich rasend vor Wut, und noch heute kommt es nicht selten vor, dass ich zuhause ein ganzes Wandregal, geradezu toll vor Zorn, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen herunterreiße, wenn ich mich mal wieder daran stoße.
Trotz dieser bis zum heutigen Tag bestehenden cholerischen Impulsdurchbrüche ist es nie zu Übergriffen auf andere Personen gekommen. Glücklicherweise hielt mich die Angst vor einem erneuten, dann endgültigen Sehverlust davon ab, ein gefährlicher Gewalttäter zu werden; die Veranlagung dazu ist, begünstigt durch das ADHS, eindeutig vorhanden.
An dieser Stelle scheiden sich die Geister, ob sich meine auffällig gewordene Persönlichkeit auch ohne den Augenunfall so stark herausgebildet hätte oder ob die zunächst noch einigermaßen erträglichen ADHS-Eigenschaften erst durch dieses Ereignis noch zusätzlich verstärkt wurden. Auch nach der Wundheilung, und selbst in sehr viel späteren Jahren noch blieben meine notorische Unruhe, Ungeduld und Aggressivität, wenn auch nicht mehr so häufig, bestehen und dauern bis zum heutigen Tag an. In meinen späteren Beziehungen sollte mir das mehr als einmal vor Augen geführt werden. Erfreulicherweise sind die Symptome mittlerweile nicht mehr so stark ausgeprägt wie einst.
Zwei Wochen nach dem Unfall wachte ich nachts schreiend aus einem Alptraum auf und versuchte Mutter entgegenzurennen, die erschrocken in mein Zimmer geeilt kam. Sie hielt die Arme für mich auf und ich wollte ihr entgegenspringen. Durch die nun fehlende, normalerweise natürlich bestehende Veranlagung, Entfernungen richtig einschätzen zu können, rannte ich sehenden Auges in ihre offene Hand und bohrte mir einen ihrer Finger durch den Augenverband gegen den verletzten und noch nicht geheilten, aufgrund des Unfalles ausgelaufenen Augapfel. Brüllend und blutend fuhren mich meine besorgten Eltern umgehend wieder ins Krankenhaus, wo ich weitere Tage zur Beobachtung verbringen musste. Auf Mutters Drängen wurde der Augenverband schließlich um eine Metallplatte erweitert, die mich fortan vor solchen Folgeunfällen schützen sollte, bis ich schließlich eine Augenprothese bekam, ein sogenanntes Glasauge.
Mein Ruf für Unfälle sollte in den kommenden Jahren geradezu sprichwörtlich werden.
"Na, Sie waren ja bestimmt schon einen Monat nicht mehr hier, was ist nun wieder passiert?"
In dieser Art sprach mancher Unfall- und Kinderarzt, wenn wir mal wieder im Wartezimmer saßen, um einen meiner zahlreichen Unfälle behandeln zu lassen, die meine ADHS-typische Unruhe mit sich brachten. Mal fiel ich die Treppe hinunter und stürzte kopfüber durch eine Glasscheibe in ein Rosenbeet, ein anderes Mal rammte ich mir eine Harke, auf die ich gefallen war, in den Vorderkopf, dann wiederum fischte Mutter mich mit Unterkühlung aus einem Flussbett. Es schien, als hätte ich Blaulicht und Martinshorn für mich gepachtet.
Im Spielzimmer war es verdächtig ruhig, und das verheißt bekanntlich selten Gutes. Noch bevor Mutter nach mir sehen konnte, kam ich ihr auch schon schreiend entgegengelaufen, im rechten, gesunden Auge hing ein Kleiderbügel aus dünnem Draht. Beim sofort konsultierten Augenarzt wurde dann ein leichter Kratzer auf der Augapfeloberfläche festgestellt, der zum Glück glimpflich verlief und rasch wieder...