Schweitzer Fachinformationen
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Die übliche Ausgrenzung von Rauchern rettete uns das Leben, als das Krankenhaus in die Luft flog.
Es begann mit einem ohrenbetäubenden Krachen und Flammen, die aus den Fenstern leckten. Große Rauchwolken stiegen Wattebäuschen gleich zum Himmel. Meine Zigarette fiel mir aus den plötzlich gefühllosen Fingern, und ich sah zu, wie nacheinander und begleitet von Explosionen die Scheiben in der Neurologie, der Unfallchirurgie und der Gynäkologie aus den Fensterrahmen flogen.
Der Raucherpavillon war fast dreißig Meter vom Haus entfernt und lag in einer Senke. Wir spürten die Druckwelle zwar, sie riss uns von den Beinen und zerlegte das Häuschen um uns herum in seine Einzelteile, aber sie brachte uns nicht um. Ich landete hart auf dem Kies, meine Knie schrabbten schmerzhaft über die Steine. Irgendwas traf mich in den Rücken. Ich riss die Arme über den Kopf, versuchte, mein Gesicht vor den Holzsplittern zu schützen und rollte mich zu einer Kugel zusammen.
Dann war da eine Hand an meinem Oberarm. Jemand zerrte mich grob hoch. Ich kam auf die Beine, zum Teil aus eigener Kraft, zum Teil, weil mir ansonsten der Arm ausgekugelt worden wäre. Einmal aufrecht, blickte ich in Felix' leichenblasses Gesicht. Er sah so entsetzt aus, wie ich mich fühlte, die grauen Augen weit aufgerissen. Seine Lippen formten Worte, die ich erst nach einer Sekunde verstand. »Weg hier!« Er lief los, seine Finger noch immer um meinen Arm geschlossen. Zerrte mich mit sich.
Ich folgte ihm. Es war leichter, ihn entscheiden zu lassen. In meinem Kopf herrschte absolute, panische Leere. Alleine wäre ich erstarrt wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
Hinter uns brach das Krankenhaus auseinander wie in einem schlechten Film.
Felix hatte längere Beine, und er trug seine Arbeitsstiefel, während ich nur Gummilatschen anhatte. Zweimal stolperte ich über meine eigenen Füße und unzählige andere Male über Unebenheiten im Boden, und immer zerrte Felix mich unsanft wieder hoch.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis wie den Wald erreichten, der an das Krankenhausgelände grenzte. Erst dort hielt Felix an, und ich lehnte mich keuchend an einen Baumstamm. Meine ganze Lunge brannte mit jedem Atemzug. Dämliche Raucherei.
Mich umzudrehen und zurückzublicken, fiel mir sehr schwer.
Das Krankenhaus fiel in sich zusammen. Eine erfolgreiche Uniklinik, in wenigen Minuten in eine rauchende Ruine verwandelt. Immer wieder knallte es irgendwo in dem Inferno, loderten die Flammen plötzlich meterhoch auf. Die Sauerstoffanschlüsse. Chemikalien. Matratzen und Bettwäsche. Es gab so viel brennbares Material da drin.
Menschen. Ein paar waren garantiert noch da drin.
Gewesen. Niemand konnte so etwas überleben, oder?
Ein unsanfter Stoß gegen meine Schulter bewahrte mich davor, den grässlichen Gedanken weiterzudenken. Felix hielt mir seine Zigarettenpackung hin. Wie konnte er in so einem Moment ans Rauchen denken? Ich starrte auf die Glimmstängel und dann an seinem Arm empor in sein Gesicht. Er war blasser, als ich ihn je gesehen hatte, und zitterte.
Mechanisch zog ich eine Zigarette aus der Packung. Sprechen war zu viel verlangt. Ich zündete die Kippe an und sah aus dem Augenwinkel, wie Felix es mir gleichtat. So betrachteten wir rauchend und schweigend den Untergang. Ein- oder zweimal war ich sicher, Schreie zu hören. Tränen brannten in meinen Augen. Ich blinzelte sie weg.
Wir hatten fast alle Patienten evakuiert. Im Haus waren nur noch die letzten Unglücklichen, die bisher keinen Platz in einem der Krankenwagen bekommen hatten, und unsere Kolleginnen und Kollegen.
Ich wollte es nicht tun, trotzdem überschlug ich die Zahl im Kopf. Mindestens zwanzig Leute waren noch da drin und starben einen elenden Tod. Und ich lehnte hier an einem Baum, rauchte und tat nichts. »Wir müssen«, fing ich an und brachte den Satz doch nicht zu Ende. Wir mussten was? In das Inferno hineinrennen und unter glühenden Trümmern nach Überlebenden suchen? Wir wären nur zwei Tote mehr.
Felix wusste, was ich hatte sagen wollen. Ich sah es ihm an. Vermutlich hatte er es selbst schon gedacht. Kurz wechselten wir einen Blick, dann drehte er sich weg, starrte wieder runter zur Klinik.
Warum schaffte es niemand nach draußen? Müssten nicht wenigstens ein paar Leute überlebt haben? Nur ein paar!, flehte ich in Gedanken. Bitte!
SUVs fuhren vor. Wo kamen die her? Die ganze Stadt war evakuiert, und wer zurückgeblieben war, verbrannte gerade. Ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus. Ich schluckte hart.
Eigentlich dürfte niemand hier sein. Und doch bremsten vier pechschwarze Wagen vor dem Inferno. Die Türen flogen auf, und Menschen stiegen aus. Selbst auf die Entfernung sah ich, dass es Prediger waren. Ihre Schärpen hatten die Farbe von Blut und Feuer.
»Scheiße«, murmelte Felix neben mir. Das traf es ziemlich gut.
Im Radio hatten sie gesagt, die Prediger seien noch einen Tag von Egelsberg entfernt. Vielleicht zwei Tage, wenn sie langsam vorankamen. Das hätte uns genug Zeit gegeben, die Evakuierung des Krankenhauses zu beenden und uns selber in Sicherheit zu bringen. Und jetzt waren sie hier, viel früher als erwartet, und ich war noch nicht weg.
Mehr SUVs kamen an. Drei Feuerwehrwagen begleiteten sie. Fürchteten sie, der Brand könnte sich auf die Stadt ausbreiten? Sogar über den dunklen, feuerfesten Jacken trugen sie ihre Schärpen. Nicht, dass man sie noch für gewöhnliche Menschen hielt.
Wie zur Hölle hatten sie ihre Sprengsätze ins Krankenhaus bekommen? Sie mussten von der Evakuierung gewusst haben. Verdammt.
Felix und ich blieben stehen und sahen zu. Was sonst sollten wir tun? Meine Beine hätten sich ohnehin keinen Zentimeter bewegt. Ich zitterte am ganzen Körper. Die halb gerauchte Zigarette musste ich loslassen. Ich bekam sie eh nicht zum Mund geführt.
Gestalten liefen aus dem brennenden Gebäude. Es waren nur zwei, und sie stützten sich gegenseitig. Mein Herz machte einen freudigen Sprung. Überlebende! Wenn die beiden es geschafft hatten, dann vielleicht noch andere. Sie trugen rote Arbeitsjacken und -hosen, und Felix schnappte bei ihrem Anblick nach Luft und machte einen halben Schritt vorwärts. Kein Wunder. Ich an seiner Stelle hätte auch das Bedürfnis gehabt, meinen Kolleginnen um den Hals zu fallen.
Doch die Sanitäter kamen nicht weit. Drei Prediger fingen sie ab. Sie packten die Sanis und zwangen sie auf die Knie. Keiner von beiden wehrte sich. Einer der Prediger zog etwas aus dem Gürtel, das ich auf die Entfernung nicht genau erkannte. Aber es musste eine Waffe sein.
Mir war klar, was passieren würde. Ich hatte in den letzten Wochen und Monaten genug Nachrichten gesehen. Alles in mir schrie danach, die Augen zu schließen, doch meine Muskeln versagten mir den Dienst.
Felix packte meinen Ärmel und zog mich zu sich, so grob, dass ich gegen ihn stolperte. Unsanft schlang er die Arme um meine Schultern, drückte mein Gesicht in seine Jacke. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr, hektisch, ruckartig. Seine Hände gruben sich schmerzhaft in meinen Rücken. Ich krallte mich an ihm fest, presste mich gegen seine Brust und kniff die Augen zu.
Wir konnten wegsehen, aber nicht weghören. Der erste Schuss ließ uns beide zusammenzucken, und Felix flüsterte etwas, das ich nicht verstand. Dann ein zweiter Knall. Und dann Stille, die nur vom Prasseln des Feuers durchbrochen wurde.
Eine ganze Weile lang war ich unfähig, mich zu rühren. Ich spürte nichts außer Felix' verzweifelter Umarmung, hörte nur meinen eigenen Herzschlag und seine abgehackten Atemzüge. Da waren gerade zwei Menschen erschossen worden. Kollegen. Leute, mit denen er jeden Tag zusammengearbeitet hatte, die Freunde und Familien hatten. Sie waren hiergeblieben, um Leben zu retten, und jetzt waren sie tot, weil Wahnsinnige ihnen von hinten in den Kopf geschossen hatten. Die Bilder entstanden von ganz alleine in meinem Kopf, und ich konnte sie nicht verdrängen. Es war zu viel. So was passierte nicht. Nicht in echt, nur in Filmen und in den Nachrichten und in irgendwelchen weit entfernten Ländern. Nicht hier.
Schließlich lösten wir uns voneinander, langsam, zittrig. Felix war aschfahl und sah aus, als könnte er jeden Moment umkippen. Wahrscheinlich gab ich ein ähnliches Bild ab.
»Wir müssen hier weg«, brachte er heraus, Worte, die krächzend über farblose Lippen krochen. »Vielleicht schafften wir es zur Autobahn.«
Ich nickte mechanisch. Zur Autobahn, und dann nach Norden oder Osten. Große Teile von Niedersachsen waren noch frei von der Sekte, ganz Schleswig-Holstein und Brandenburg. Wir mussten nur aus Egelsberg rauskommen. Nichts weiter.
Zu Fuß und unter Schock.
Vier Prediger durchsuchten die Überreste des Raucherpavillons. Vor einer Viertelstunde hatte ich da ganz entspannt gestanden und davon geträumt, endlich alle Leute einzupacken und nach Berlin zu fahren. Ein kühler Drink und endlich, endlich mal Feierabend. Jetzt wurden die Trümmer grob beiseitegeschoben. Wenn Felix mich nicht da rausgeholt hätte ... Mir wurde eiskalt bei dem Gedanken. Ein Schuss in den...
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