Schweitzer Fachinformationen
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Walahfrid taucht die Feder ins Tintenhorn und beginnt vorsichtig zu schreiben. Sein linkes Auge folgt der braunen Schriftspur, das rechte schaut irgendwo und nirgendwo hin. Er lauscht dem leisen Kratzen der Feder auf dem Pergament. Walahfrid liebt dieses Geräusch, liebt es zu hören, wie geschriebene Worte entstehen, das heisere Scharren lässt ihn den Rhythmus der lateinischen Sätze und Verse fühlen, die wie fadenfeine Schlangen aus der Federspitze hervorkriechen, und aus den Worten entstehen Bilder in seinem Kopf, Bilder von Heiligen, von Jesus und Maria, von den Aposteln und dem, was Jesus ihnen aufgetragen hat, oder Bilder von Menschen, über deren heiligmäßiges Leben er berichtet.
Doch heute schreibt er kein Evangelium ab, auch komponiert er keine Verse und verfasst keine Lebensbeschreibung. Er beschriftet einen Architekturplan. Der Vorsteher des Reichenauer Skriptoriums, Reginbert, hat ihn damit beauftragt. Walahfrid ist trotz seiner Jugend und seines ungestümen Wesens der beste Schreiber des Klosters, und auch ein solch profaner Text muss sorgfältig geschrieben sein, denn dieser Plan ist etwas Besonderes: Abt Erlebald will ihn dem Abt des Klosters Sankt Gallen zum Geschenk machen. Gozbert plant einen neuen Kirchenbau, und das Kloster Reichenau hat darin Erfahrung.
Allerdings ist aus dem Bauplan für die Kirche mit der Zeit ein kompletter Klosterplan geworden, Pergamentstück um Pergamentstück wurde hinzugefügt, festgenäht und mit Zeichnungen gefüllt, Grundrisse von Kirchen, Kreuzgängen, Häusern mit Treppen, Betten, Öfen und Abtritten, von Ställen, Brauereien, Werkstätten und Gärten - eine ganze Klosterstadt ist nach und nach entstanden, mit Zirkel und Lineal auf das helle Pergament skizziert und mit roter Tinte nachgezogen. Walahfrids Aufgabe ist es, dem Betrachter des Plans zu erklären, welches Gebäude wofür gedacht ist. Es ist nicht gerade eine geistig anspruchsvolle Aufgabe, aufzuschreiben, dass hier die Mönche essen, dort Bier für die Gäste gebraut und an jenem Ort die Notdurft verrichtet wird. Diffizil ist sie dennoch, denn Pergament ist teuer, und zu oft sollte das Geschriebene nicht abgeschabt werden. Schon bei den Zeichnungen wurde mehrfach korrigiert, Reginbert hat sich immer wieder mit Abt Erlebald und anderen gelehrten Mönchen besprochen und neue Ideen entwickelt, es hat lange gedauert, bis er zufrieden war.
Nun also die Beschriftungen. Walahfrid fängt bei der großen Kirche an, Skriptorium und Bibliothek folgen, Abtspfalz, Gästehaus, Pilgerherberge . Die Feder liegt gut in seiner Hand, es ist eine Feder aus dem linken Flügel der Gans, denn Walahfrid schreibt mit rechts. Dennoch führt er die Spitze nur kurz über das Pergament, dann hält er inne. Sein linkes Auge schweift immer wieder ab und folgt dem rechten in die Ferne, ins Freie, fort durch das Fenster, wo man ein Stück Himmel und den Kamin der Fußbodenheizung sieht, dank derer er auch im Winter warme Füße hat beim Schreiben. Schließlich lässt er die Feder sinken, denn auch seine Gedanken verlassen den Klosterplan und das Skriptorium, sie fliegen zurück zu jenem verhängnisvollen Abend im Frühling des Jahres 823.
*
Die Kirche war dunkel, nur vor dem Hauptaltar brannten wie immer ein paar Kerzen. Sie warfen unruhige Schatten an die Wände, die Heiligen auf den Bildern schienen sich zu bewegen. Da öffnete sich die seitliche Tür und wurde rasch wieder geschlossen. Der heftige Luftzug blies eine der Kerzen aus, die Schatten wurden noch wilder und düsterer. Ein junger Mönch lief die Stufen hoch zum Marienaltar und warf sich auf den Boden. Er fing an zu schluchzen.
Es war ein stürmischer Tag gewesen. Weißer Schaum bekrönte die graugrünen Wellen des Bodensees, die Weiden am Strand bogen sich unter dem Wind. Die Ufer des Festlandes waren hinter dem Regenschleier kaum zu erkennen. Als es schon dämmerte, ging der junge Mönch, der den ganzen Tag geschrieben hatte, zur Infirmerie, der Krankenstation, außerhalb der Klausur. Sein Auge schmerzte, und er wollte um eine lindernde Salbe bitten. Als er vor der Wohnung des Medicus stand und die Hand schon zum Klopfen erhoben hatte, hörte er Stimmen.
Was er hörte, sollte sein Leben für immer verändern.
»Ich wollte nicht lauschen, ehrwürdige Muttergottes! Es ist eine Sünde, ich weiß! Ich wollte nur eine Salbe holen, doch als ich an der Wohnungstür des Medicus stand, hörte ich diese Stimmen. Sie wurden immer lauter, und ich habe hören müssen, wie sie sich zu einem furchtbaren Verbrechen verabredeten! Ich wollte nicht lauschen, ehrwürdige Jungfrau, aber ich weiß, von wem sie sprachen: von dem Mädchen, das gestern mit dem Grafen aus dem Scherragau auf die Insel gekommen und im Pilgerhaus untergebracht ist. Sie ist eine Geisel und wunderschön, sie gleicht dem Engel an Eurer Seite. Heute saß sie in der Kirche, hier vor Eurem Bild, weinend. Sie hat mir erzählt, dass sie ein Kind erwartet und man sie in ein Kloster in den Bergen bringen will. Doch diese Männer haben ihr ein anderes Schicksal zugedacht. Ehrwürdige Mutter, ich glaube, in der Kammer des Medicus war ein Dämon zugegen. Ihr seid doch auch eine Frau und habt ein Kind unter dem Herzen getragen. Helft mir, diese Männer vor einer großen Sünde zu bewahren!«
Verzweifelt hob der junge Mönch den Blick. An der Wand zu seiner Linken sah er den Engel Michael, der mit windgebauschtem weißgoldenem Gewand und blau-roten Flügeln der Jungfrau die frohe Botschaft verkündete, daneben lag die Muttergottes auf einem weißen Kissen, und eine Dienerin badete das neugeborene Kind, weiter vorn ging Joseph hinter dem Esel, der mit angelegten Ohren Maria und das Kind nach Ägypten trug. Um ihr Kind zu retten, hatten sie fliehen müssen. Flucht! Das war die Lösung. Das Mädchen musste fliehen, aber wie? Er stand langsam auf und ging zurück in das Hauptschiff der Kirche. Dort waren die Wunder Christi auf die Mauern gemalt. Jesus schien mit seinem Kreuzesnimbus die Wand entlangzugehen, begleitet von seinen Jüngern, immer wieder blieb er stehen und half den Notleidenden, die ihn um Beistand anflehten. Die Augen des jungen Mannes fielen schließlich auf ein Schiff, das mitten im See vom Sturm bedrängt wurde. Links vom Mast schlief Jesus inmitten seiner Jünger, doch auf der rechten Seite stand er aufrecht im Schiff und beruhigte den Sturm, der von zwei kleinen Dämonen über den See geblasen wurde. Mit den tanzenden Schatten schien das Wasser in der Kirche gegenwärtig zu sein, und plötzlich fügten sich dem jungen Mönch die Gedanken.
Um die Frau zu retten, musste er ihr zur Flucht über den See verhelfen! Nach der Frühmesse am nächsten Morgen verließ ein Schiff die Insel, schwer beladen mit Waren, darauf konnte sie sich verstecken. Aber würde man sie nicht überall suchen lassen? Es gab nur eine Möglichkeit, dies zu verhindern: Sie durfte nicht verschwinden. Jedenfalls nicht, bis sie in Sicherheit war. Eine andere musste solang ihren Platz einnehmen, in den Mantel der Geisel gehüllt, die Kapuze über den Kopf gezogen, damit man sie nicht gleich erkennen würde. Es musste ein Mädchen sein, das der Schönen ähnlich war. Er wusste auch schon, wen er für diesen Dienst fragen konnte: eine Küchenmagd, eine Waise, die wie er als Kind auf die Reichenau gekommen war und sich freuen würde, wenn sie die teuren Kleider der Geisel als Lohn behalten durfte.
Doch manchmal weiß man nicht, ob hinter den Gedankenkonstrukten der Menschen Gott oder der Dämon steckt.
Am anderen Morgen schien alles so zu laufen, wie der junge Mönch es geplant hatte. Die Frauen tauschten die Kleider, die Küchenmagd begab sich ins Pilgerhaus, und ein Schiff verließ den Reichenauer Hafen Richtung Lindau mit einer blinden Passagierin an Bord. Doch noch vor Mittag meldete ein Fischer, dass in seiner Aalreuse eine Tote läge. Zwei Knechte halfen ihm, den Leichnam zu bergen, und legten ihn am Ufer ab. Die Frau trug wertvolle Kleider, ihre langen dunklen Haare bedeckten den Rücken. Der Graf aus dem Scherragau, der Klosterprior, der Medicus und einige andere Männer liefen hinzu. Auch der junge Mönch schloss sich ihnen an. Als man den Leichnam umdrehte, wurde ihm schlecht. In der Reuse waren Aale gewesen.
Der Graf war weiß wie die Klostermauer. »Sie ist ins Wasser gegangen vor Verzweiflung.«
»Sie hat sich selbst gerichtet«, erwiderte der Prior kühl.
Da konnte der junge Mönch nicht mehr an sich halten.
»Sie hat sich nicht selbst gerichtet!«, schrie er die Männer an. »Ihr seid schuld an ihrem Tod!«
»Bist du völlig von Sinnen?«, fiel ihm der Prior ins Wort. »Was fällt dir ein, so zu reden? Bringt ihn weg!«
Zwei Knechte packten den jungen Mönch, der sich nicht beruhigen ließ, und schleppten ihn fort. Erst vor der Kirche ließen sie ihn wieder laufen. Traurig ging er hinein, um zu beten.
Hätten die Männer den Leichnam genauer angeschaut, wäre ihnen aufgefallen, dass die Tote neben den Bisswunden der Aale eine tiefe Verletzung am Hinterkopf hatte.
Walahfrid ertappt sich dabei, dass er in Gedanken die weiche Federfahne am Kinn hin und her streifen lässt, eine Angewohnheit, die sein geliebter Lehrer Wetti in der Schule immer getadelt hatte. Einmal war er dafür sogar mit Ruten geschlagen worden.
Er spürt, dass ihn die Erinnerung an jene Ereignisse niemals loslassen wird.
Er hatte helfen wollen, das Leben der Geisel zu retten, und musste erleben, dass das Küchenmädchen als Selbstmörderin auf dem Festland...
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