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Nur wer mit der Vergangenheit Frieden schließt, gibt der Zukunft eine Chance
Als Kommissar im Kroatien-Krimi begeistert er ein Millionenpublikum, er spielt mit im oscarprämierten Film "Die Fälscher", mit Kevin Costner macht er während der Drehpausen in seinem Wohnwagen Musik. Das Leben von Lenn Kudrjawizki ist aufregend und abwechslungsreich. Doch es ist so viel mehr als eine reine Schauspielerbiografie. Es ist die Geschichte eines Jungen, der mit seinem Vater durch die wilde Landschaft des Kaukasus streift und von den Schicksalen seiner jüdischen Vorfahren erfährt. Eines Teenagers, der in der DDR eine familiäre Achterbahn durchlebt und mit 19 von seinem geliebten Vater Abschied nehmen muss. Eines jungen Mannes, der sich um der Trauer zu entfliehen in die Arbeit stürzt und dabei fast selbst verliert. Lenn Kudrjawizki zeigt, wie schwer es ist, loszulassen und sich mit Menschen und Erlebnissen zu versöhnen. Doch es ist der einzige Weg, der zur Heilung führt.
Mein Opa, der Hauptmann Moses Jakob Kudrjawizki (rechts), und sein Adjudant (links) an der sowjetisch-polnischen Grenze um 1941. Foto: privat
Gehe ich in der Geschichte meiner Familie Generation um Generation zurück, fällt mir auf, dass fast immer jemand unterwegs ist - zur Liebe seines Lebens, auf der Flucht vor den Pogromen der Zarenzeit, vor der vorrückenden Frontlinie im Zweiten Weltkrieg, vor den Deutschen, aus der Sowjetunion in die DDR, die USA oder später nach Israel.
Auch die Familie meiner Mutter hat sich mindestens seit dem 19. Jahrhundert quer durch Europa bewegt. Mein Urgroßvater Bernhard hatte vermutlich griechische Wurzeln. Er kam irgendwann nach den 1880er Jahren über Deutschland ins Baltikum, um dort Medizin zu studieren. Das war zu dieser Zeit nicht einfach, weil es eine Art negativer Quote gab; der Anteil der jüdischen Studenten war dadurch auf drei Prozent begrenzt.
Nach erfolgreich absolviertem Studium beschlichen ihn plötzlich starke Zweifel, ob er wirklich Arzt werden sollte. Er ging zunächst nach Sankt Petersburg, und hier traten karrieretechnische Erwägungen erst einmal in den Hintergrund. Manchmal sind andere Dinge einfach wichtiger.
Es ist ein glänzender Abend in der Oper, eine Szenerie, wie ich sie mir nach Tolstois Roman Anna Karenina ausmale. Die Damen tragen Abendroben, die sich an der westeuropäischen Mode orientieren, in Teilen aber auch à la Russe gestaltet sind, mit aufwendigen typisch russischen Stickereien und edlen Stoffen. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind die Bälle des russischen Adels nämlich trendbestimmend auch für Couturiers in Paris.
Bernhard, ein Musik- und Opernfreund, ist noch kurzfristig an ein Billett gekommen und sitzt elegant im Frack als einzelner Herr in der Loge, die an diesem Abend von der Familie meiner Urgroßmutter dominiert wird. Interessiert beobachtet er die für seine Begriffe ausgesprochen mondän wirkende Gesellschaft und vor allem die Tochter. Vera. Er findet sofort Gefallen an ihr; es muss ein elementarer Augenblick gewesen sein, etwa so, wie man ihn später in Filmen als Magic Moment beschreibt.
Da es ohne Musik in unserer Familie nicht geht und Opern zu dieser Zeit nicht selten länger als drei Stunden dauern, haben beide genug Gelegenheit, diskret Blicke zu tauschen. In der Pause spricht er Vera an, am Ende der Vorstellung macht man sich miteinander bekannt.
Die Eltern meiner Urgroßmutter fanden den jungen Mediziner offenbar ganz amüsant. So gab es schon bald eine Einladung zum Tee, wenig später wurde er dann zu weiteren Geselligkeiten gebeten. Die Gesellschaftsschicht, in der meine spätere Urgroßmutter und ihre Eltern verkehrten, bot sonst wenig persönliche Abwechslung, da waren neue Gesichter willkommen. Man lebte aufwendig in Zarskoje Selo (Zaren-Dorf), einer der schönsten und prächtigsten russischen Zarenresidenzen, 25 Kilometer südlich von Sankt Petersburg gelegen. Hier führte man ein großes Haus und unterhielt gesellschaftliche Beziehungen bis an den Zarenhof Alexander III.
Nachdem Bernhard erfolgreich um die Hand der Tochter angehalten hatte, zahlten sich diese guten Kontakte ins russische Herrscherhaus auch für das junge Eheglück aus: Obwohl er Jude war, durfte er in St. Petersburg eine Apotheke eröffnen. Die dafür nötige ausdrückliche Genehmigung kam im wahrsten Sinne des Wortes aus erster Hand und quasi über den kurzen Dienstweg - vom Zaren Alexander persönlich unterzeichnet. Das Dokument findet sich in unseren Familienpapieren.
Die Apotheke erwies sich als wirtschaftlich äußerst erfolgreich. Bernhard und Vera bezogen bald ein eigenes Haus und bekamen fünf Kinder. Und sie lebten glücklich bis . bis die politischen Zustände wieder einmal allem eine andere Richtung gaben.
Anfang November 1894 starb Alexander III. im Liwadija-Palast auf der Krim, wohin er sich eigentlich zur Erholung begeben hatte. Natürlich standen Bernhard und seine Frau wirtschaftlich längst auf eigenen Füßen. Aber der Übergang der Regierungsgewalt von Alexander III. auf seinen Erstgeborenen Nikolaus II. war mehr als nur eine innerfamiliäre Stafettenübergabe. Veränderungen bahnten sich an, in deren Folge man eine Protektion durch den Zarenhof fortan besser verschwieg.
Das Ende jener Jahre, die in Europa später als Belle Époque (Schöne Epoche) in die Geschichte eingehen werden, führte direkt in den Ersten Weltkrieg. Nikolaus II. wurde durch die Februarrevolution 1917 entmachtet und mit Frau und Kindern in der Nacht zum 17. Juli 1918 in Jekaterinburg, etwa vierzig Kilometer östlich des Urals, von den Bolschewiki ermordet. Es dauerte einige Zeit, bis diese Nachricht in St. Petersburg eintraf. Doch die Stadt war das Epizentrum der Oktoberrevolution, und dadurch gab es vor Ort schon genug Veranlassung zu Angst und Unsicherheit.
Die Familie meiner Urgroßeltern und ihre Freunde, besonders die aus dem Dunstkreis der Zarenresidenz, erkannten schnell, dass diese neue Ordnung ihnen nicht gut gesonnen war. Aber wie so oft bei bedrohlichen gesellschaftlichen Veränderungen dämpfte die Hoffnung, allzu schlimm werde es schon nicht kommen, für eine Weile die Angst. Vielleicht konnte man das alles ja mehr oder weniger unbeschadet überstehen. Reichte es am Ende, sich eine Weile unauffällig zu verhalten, bis das drohende Unwetter vorübergezogen war?
Die Desillusionierung traf die Familie schnell und auf schmerzhafte Weise - als Erstes durch die Enteignung ihrer Apotheke. Was die Bolschewiki ihnen oder sich damit beweisen wollten, konnten sie sich beim besten Willen nicht erklären. Sollten denn nicht auch den einfachen Werktätigen Arzneimittel, Tabletten oder Tinkturen zur Verfügung stehen? Das war schon vor der Revolution so gewesen und ja der eigentliche Sinn, eine Apotheke zu eröffnen.
Doch dabei sollte es nicht bleiben.
In der übergroßen Gnade der neuen Machthaber ist es meinem Urgroßvater gestattet, weiterhin als einfacher Angestellter in der Apotheke zu arbeiten, die ihm bislang gehört hat. Zur Mittagspause kommt er wie eh und je nach Hause. Das Bemühen, möglichst viele Rituale aus dem bisherigen Familienleben in die »neue Zeit« hinüberzuretten, soll Halt geben und das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Auch dass in der Woche mittags nur eine einfache Suppe gereicht wird, gehört dazu. Einerseits, weil es im Kreise der Familie von jeher eher bescheiden und unprätentiös zugeht, zum anderen, weil die Lebensmittelversorgung in Sankt Petersburg seit Monaten zu Minimalismus und Improvisationstalent zwingt.
Die Familie ist an diesem Tag gerade beim Essen, als heftig an die Haustür gehämmert wird. Alle halten inne. Vera ist geneigt, einfach bei Tisch sitzen zu bleiben, bis der Störer des Wartens überdrüssig wird und wieder abzieht. Bernhard aber spürt an der Art, wie geklopft wird, dass der ungebetene Besucher sich keinesfalls abwimmeln lassen und sich ansonsten eben auf andere Weise Zutritt verschaffen wird.
Er geht zur Haustür.
Gedankenverloren hält er seine weiße Damastserviette in der linken Hand. Sie wird das Erste sein, worauf der Blick des »Gastes« fällt, wenn die Wohnungstür sich öffnet. Allerdings wird der darin nicht die weiße Fahne der Kapitulation erkennen, sondern ein Relikt überkommener bourgeoiser, ewiggestriger Lebens- und Umgangsformen, für die in der neuen Ordnung kein Platz ist.
Ein schlechter Anfang? Bernhard wird bald merken, dass es darauf schon längst nicht mehr ankommt. Er versteht erst einmal gar nicht richtig, als Abgesandter welchen Komitees oder welchen Volkskommissariats der Mann sich und seine zwei bewaffneten Begleiter vorstellt. Aber die Botschaft ist klar.
»Bürger, wir haben Hinweise, dass Sie und Ihre Angehörigen Wohnraum im Übermaß beanspruchen«, geht er kühl ins Gespräch.
Da glaubt Bernhard noch allen Ernstes, das relativieren zu können: »Wir sind sieben Personen. Wir haben fünf Kinder«, wendet er ein.
Wie amüsiert dreht sich der Mann zu seinen Begleitern um, und sein Blick sagt: Hört ihn euch an, Genossen, den Bourgeois! So waren sie immer, und so glauben sie heute noch, uns hinters Licht führen zu können!
»Wie Sie vielleicht aus den Bekanntmachungen wissen, wird der gesamte Wohnraum im Moment erfasst und neu verteilt, gerechter und nach gesellschaftlichen Erfordernissen. Ist Ihnen das bekannt?«
Der Apotheker zuckt die Schultern. Da in jenen Tagen an jeder Ecke und überall neue, auch einander widersprechende Bekanntmachungen kursieren, ist Bernhard von der vermeintlich neuen Verordnung erst mal nicht sonderlich überzeugt. Aber auch das spielt keine Rolle. Mit einer Geste des Kopfes bedeutet der Revolutionär ihm, die Tür freizugeben. Weil Bernhard zögert, rafft einer der Bewaffneten kurz den Trageriemen seines Karabiners.
Bernhard hat verstanden und geht einen Schritt zur Seite. Die drei treten ein. Einer der Bewaffneten ist noch kurz versucht, sich die Stiefel auf der Matte abzustreichen. Ein scharfer Blick des anderen ruft ihn zur revolutionären Ordnung.
Ihr Vorgesetzter hat inzwischen die offen stehende Flügeltür zum Esszimmer entdeckt und durchschreitet sie. Der Herr des Hauses bleibt dicht bei ihm. Er will hinter ihm im Zimmer auftauchen, um seine Familie ein wenig zu beruhigen. Und so sieht er - über die Schulter des...
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