Schweitzer Fachinformationen
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Anfang Oktober, wenige Tage nach Beginn der Herbstferien, rief mich Franzi an, um mir mitzuteilen, daß mein Urlaubsantrag genehmigt sei. Veronika konnte gleich nach den Herbstferien meine Stelle übernehmen. Wenn ich wollte, brauchte ich gar nicht mehr an die Schule zurückzukehren - allenfalls um meine Sachen abzuholen. Ein Jahr ohne Schule! Vielleicht auch länger. Ich legte den Hörer auf und starrte abwechselnd kopfschüttelnd und dann wieder mit unbewegter Miene in den Spiegel an der Flurgarderobe. Dann fing ich plötzlich an zu lachen.
Schon am nächsten Tag begann ich, in Annas Buchhandlung zu arbeiten. Katharina war mit den Kindern für drei Tage nach Kassel gefahren, um ihre Eltern zu besuchen, so daß ich mir meine Zeit frei einteilen konnte. Plötzlich war ich wieder Schülerin, mußte zuhören, nachfragen, mir alles mögliche erklären lassen, doch Anna war eine gute Lehrerin, und es machte Spaß, auch wenn mir manchmal der Kopf rauchte. Die romantische Vorstellung, wie im Literarischen Quartett mit Reich-Ranickí lediglich eifrig zu lesen und dann gemütlich über die neuesten Trends zu plaudern, konnte ich mir sofort abschminken: Es gab weitaus mehr zu tun, als mit Kundinnen und Kunden angeregt zu diskutieren. Anna war ein wandelndes Lexikon, und zwar nicht nur bezüglich ihrer Steckenpferde Theodor Fontane, Doris Lessing und lateinamerikanische Gegenwartsliteratur. Sie hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant und schien kaum etwas von dem, was sie einmal gelesen hatte, wieder zu vergessen. Darüber hinaus ging sie mit ihrem Computer um, als wäre sie damit aufgewachsen, während ich schon stolz war, wenn ich auf Anhieb in das Verzeichnis lieferbarer Bücher gelangte.
Was mir von Anfang an erstaunlich leicht von der Hand ging und sogar Spaß machte, war die Schreibtischarbeit - Buchhaltung, Ablage und sonstiger Bürokram -, und niemand freute sich darüber mehr als Anna. Denn genau damit tat sie sich schwer. Sie konnte stundenlang überaus geduldig eine unentschlossene Kundin beraten, ohne daß es ihr auch nur einen Moment zuviel wurde, aber wenn sie Lieferscheine prüfen und abheften mußte, sah man ihr sofort an, wie lästig ihr diese Arbeit war.
»Sowie du vernünftig eingearbeitet bist, möchte ich, daß du dich mit der Frauenliteratur beschäftigst«, sagte Anna bereits am zweiten Tag. »Ich möchte diesen Bereich ausbauen, ich habe da nicht ganz soviel zu bieten, fürchte ich.«
Das stimmte. Allerdings hatte Anna bisher andere Schwerpunkte gehabt.
»Es sollten Bücher sein, die dich interessieren oder die Damen vom Frauencafé, die aber auch Claudia und Bettina ansprechen. Eine bunte Mischung also«, fuhr sie fort. »Belletristik, Ratgeber und auch Sachbücher.«
Wir waren vorn im Laden, und ich ließ meinen Blick über die Geschichtsbücher schweifen, bevor ich meine Tante wieder anschaute.
»Und wie genau funktioniert das?« fragte ich. »Einen Bereich ausbauen?«
»Zunächst mal schaust du in die Verlagsprogramme, die ich dir gestern gezeigt habe und verschaffst dir einen Überblick. Dann könntest du mit Vertreterinnen und Vertretern sprechen und dich beraten lassen. Der Frauenbuchladen in Braunschweig ist sicherlich auch bereit, dir den einen oder anderen Tip zu geben. Und«, Anna lächelte, »lesen solltest du und dir deine eigene Meinung bilden. Aber ein bißchen Zeit hat die ganze Sache ja noch. Von heute auf morgen wird niemand zur Buchhändlerin.« Anna tippte sich plötzlich an die Stirn. »Apropos Karriere - ich habe gestern bei meinem abendlichen Spaziergang um den Schillerteich Nicole getroffen.«
Nicole war eine Arbeitskollegin und Freundin meiner Schwester.
»Wußtest du, daß Claudia befördert worden ist?«
Ich blickte verblüfft hoch. »Nein, das wußte ich nicht. Allerdings haben wir uns in letzter Zeit nicht so häufig gesehen.« Das war schlichtweg eine Untertreibung, wie mir auf einmal klar wurde. Der Kontakt zu meiner Schwester hatte in den letzten Monaten ziemlich gelitten, und ich konnte nicht sagen, woran es lag und warum es mir vor allen Dingen erst jetzt auffiel.
»Nun«, Anna nickte anerkennend, »sie übernimmt eine leitende Funktion in ihrer Abteilung.«
Meine Schwester war seit vielen Jahren Übersetzerin für Englisch und Spanisch im VW-Werk. Ich freute mich für sie. Allerdings fand ich es schon merkwürdig, daß sie mich noch nicht angerufen hatte, um mir von dieser Neuigkeit zu berichten. Am Abend telefonierte ich erst mit Katharina und den Kindern, die am nächsten Tag aus Kassel zurückkehren wollten. Anschließend wählte ich Claudias Nummer, doch bevor die Verbindung zustande kommen konnte, legte ich wieder auf und griff nach meiner Jacke. Wir haben uns ewig nicht gesehen, dachte ich, und wenn das kein Anlaß ist, einen Blumenstrauß vorbeizubringen!
Wenig später stand ich vor Claudias und Joachims Tür. Die beiden wohnten in einem gepflegten Mehrfamilienhaus am Rande der Innenstadt. Im Flur roch es nach »Meister Proper«, und ich fragte mich, ob meine Schwester mit der Hausreinigung dran gewesen war. Claudia öffnete nach dem zweiten Klingeln und blickte mich erstaunt an.
»Hallo, Schwesterherz«, begrüßte ich sie fast überschwenglich und hielt ihr die Blumen entgegen. »Ich komme zum Gratulieren.«
Claudia runzelte die Stirn, dann lächelte sie zögernd und wischte sich die Hände an der Jeans ab. »Hallo, welch seltener Besuch.« Sie trat beiseite, um mich hereinzulassen.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Der Staubsauger lag auf dem Boden - Claudia war offensichtlich mitten im Hausputz, was bei ihr nicht häufig, aber immerhin regelmäßig vorkam.
»Ist Joachim nicht da?« fragte ich und setzte mich auf das breite Plüschsofa.
»Nein. Er ist heute dran mit Einkaufen«, gab Claudia zurück und nahm mir gegenüber in einem Sessel Platz. Sie betrachtete ihre Fingernägel.
Ich fingerte eine Weile an den Knöpfen meiner Hemdbluse herum. Eine merkwürdige Stimmung lag in der Luft, und ich fühlte mich seltsam unbehaglich. Warum reden wir über Belanglosigkeiten wie zwei Fremde? dachte ich verwundert. Bevor das Schweigen zu bedrückend wurde, beugte ich mich vor. »Nun erzähl doch mal! Du bist also befördert worden?«
»Woher weißt du das eigentlich?« fragte Claudia. Ihr Blick war prüfend. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und sich zurückgelehnt. Die Haltung hätte entspannt wirken können, doch ich wurde das Gefühl nicht los, daß Claudia ausgesprochen verkrampft war. Meine Beklommenheit wuchs.
»Nicole und Anna sind sich über den Weg gelaufen«, erwiderte ich knapp. Die Frage, warum sie mich nicht mal angerufen hatte, verkniff ich mir. Dann hob ich plötzlich den Kopf und räusperte mich. »Was ist eigentlich los? Du bist ziemlich einsilbig und siehst nicht gerade glücklich aus. Ich hatte geglaubt, du würdest nach diesem Karrieresprung jubelnd durch die Wohnung tanzen.«
Claudia winkte ab. »Ach, ich bin nur ein bißchen müde. Außerdem - ist doch halb so wild.«
»Halb so wild?« gab ich verblüfft zurück, denn ich wußte nur zu gut von den Hierarchiekämpfen im VW-Werk. Mit dreißig Jahren (und noch dazu als Frau) eine leitende Stelle zu bekommen war alles andere als eine Lappalie.
Claudia wurde verlegen. »Na ja . Klar, ich freue mich schon.« In ihren Mundwinkeln zuckte ein kümmerliches Lächeln.
Ich betrachtete sie ungläubig. Diese Zurückhaltung paßte nicht zu Claudia. Sie war zwar alles andere als eine verbissene Karrierefrau, aber sie mochte ihren Job und hatte bisher auf jede Verbesserung ihrer Position begeistert reagiert. Außerdem konnte ich mich nicht daran erinnern, daß wir jemals zuvor ein so bleischweres und zähes Gespräch geführt hatten.
Ich gab mir einen Ruck und hielt ihren Blick fest. »Was ist los? Soll ich lieber gehen?«
Meine unverblümte Frage war ihr offensichtlich unangenehm. Claudia fuhr sich mit einer Geste durch die Haare, die mir nur allzu bekannt vorkam. Ich tat das manchmal auf ähnliche Weise - wenn ich Zeit gewinnen wollte, verwirrt war oder nach den richtigen Worten suchte. Sie öffnete den Mund und wollte gerade etwas sagen, als Geräusche an der Tür sie unterbrachen. Joachim kam mit lautem Getöse herein.
»Meine Güte«, stöhnte er, »der Einkaufszettel hatte es aber in sich!« Er war mit Tüten und Taschen bepackt und stolperte in seiner bekannten linkischen Art ins Wohnzimmer. »Wenn du das nächste Mal befördert wirst, sollten wir einen Party-Service beauftragen .«
Er schaute hoch, entdeckte mich und lächelte befangen. »Ach, hallo.«
Die beiden tauschten rasch einen Blick miteinander, den ich eher spürte als sah, und noch während ich ihn zu deuten versuchte, zuckte Joachim die Schultern und schleppte die Einkäufe in die Küche. Ich schaute ihm nach und wandte mich dann langsam wieder Claudia zu.
»Würdest du mir das bitte erklären?« sagte ich leise, und meine Stimme klang heiser.
Ein übler Verdacht war in mir aufgestiegen, und ich hoffte inständig, daß er sich in Wohlgefallen auflösen würde. Doch der Zusammenhang zwischen Claudias kühler Reserviertheit und den Vorbereitungen zu einer Party, von der ich offensichtlich nichts wissen sollte, ließ nicht viel Spielraum für harmlose Erklärungen.
Claudia wandte plötzlich den Kopf ab und schaute zum Fenster hinaus.
»Es hat sich so viel verändert in den letzten Monaten«, sagte sie leise, und als sie mir ihr Gesicht wieder zudrehte, sah ich, daß ihre Augen feucht waren.
»Von wem sprichst du?«
»Von dir natürlich«, erwiderte sie erregt und wischte sich mit einer unwirschen Bewegung über das Gesicht. »Es ist gar nicht so einfach, damit...
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